Die Gutsherren von Reigate

Im Frühling 1887 hatte mein Freund Sherlock Holmes derartige Anstrengungen durchgemacht, daß es geraumer Zeit bedurfte, ehe er wieder zu Kräften kommen konnte. Es handelte sich damals um die Riesenpläne des Barons Maupertuis und die verwickelte Angelegenheit der Holland-Sumatra-Gesellschaft, bei der jedoch politische und finanzielle Rücksichten eine zu bedeutende Rolle spielten, als daß sie sich zur Aufnahme in diese Sammlung eignete.

Die Umstände brachten es aber mit sich, daß Holmes infolgedessen mit einem eigentümlichen Problem in Berührung kam, das ihm Gelegenheit gab, im Kampf gegen das Verbrechen, den er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, eine ganz neue Waffe in Anwendung zu bringen.

Es war, wie ich aus meinem Notizbuch weiß, am 14. April, als ich durch eine Depesche aus Lyon die Nachricht erhielt, Holmes liege im Hotel Dulong krank darnieder. Ich reiste sofort ab und stand schon vierundzwanzig Stunden später an seinem Lager, wo ich mich glücklicherweise sogleich überzeugen konnte, daß die Symptome der Krankheit nicht allzu gefährlich waren. Selbst seine eiserne Konstitution vermochte die Last nicht auszuhalten, die er sich seit Monaten aufbürdete. Während dieser Zeit hatte er seine Nachforschungen unablässig betrieben, täglich mindestens fünfzehn Stunden gearbeitet und sich oft, wie er mir versicherte, fünf Tage hintereinander ausschließlich der ihm gestellten Aufgabe gewidmet. Der großartige Erfolg seiner Bemühungen konnte die Folgen einer so furchtbaren Überanstrengung nicht von ihm abwenden; während ganz Europa vom Ruhm seines Namens widerhallte und er von allen Seiten mit Dankschreiben und Glückwunschdepeschen überschüttet wurde, fand ich ihn in einem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit. Was die Polizei dreier Länder vergebens versuchte, war ihm gelungen – er hatte dem vollendetsten Schwindler von ganz Europa in die Karten gesehen und ihm das Handwerk gelegt; aber nicht einmal dies Bewußtsein vermochte ihn aus seiner völligen Erschlaffung aufzurütteln.

Schon nach drei Tagen langten wir zusammen wieder in der Bakerstraße an, aber bald stellte sich heraus, daß Holmes dringend eine Luftveränderung brauchte, und auch für mich hatte der Gedanke, eine Woche im Frühling auf dem Lande zuzubringen, großen Reiz.

Mein alter Freund, Oberst Hayter, dem ich in Afghanistan ärztlichen Beistand geleistet, wohnte seit einiger Zeit in der Nahe von Reigate in Surrey und forderte mich wiederholt auf, ihn doch einmal in seinem Landhaus zu besuchen. Noch kürzlich hatte er geäußert, er würde auch meinen Freund, falls er mich begleiten wollte, sehr gern als Gast bei sich empfangen. Es bedurfte zuerst einiger Überredungskünste, aber als Holmes erfuhr, es fei eine Junggesellenwirtschaft und er könne dort völlige Freiheit haben, ging er auf meine Pläne ein. Etwa eine Woche nach unserer Rückkehr aus Lyon befanden wir uns bereits unter Hayters gastlichem Dach. Der Oberst war ein wackerer alter Krieger, der viel von der Welt gesehen hatte, und meine Erwartung, daß Holmes und er allerlei gemeinsame Anknüpfungspunkte finden würden, ging rasch in Erfüllung.

Am Abend unserer Ankunft saßen wir nach Tische in des Obersten Bibliothek. Holmes lag auf dem Sofa ausgestreckt, während ich mit Hayter die Waffensammlung in seinem Gewehrschrank musterte.

»Es wird gut sein,« sagte er plötzlich, »wenn ich eine von diesen Pistolen mit in mein Schlafzimmer hinaufnehme, zum Schutz gegen einen etwaigen Ueberfall.«

»Einen Ueberfall?«

»Ja, wir sind kürzlich hier in nicht geringe Aufregung versetzt worden. Bei dem alten Acton, einem der größten Grundbesitzer der Grafschaft, hat man letzten Montag eingebrochen. Vielen Schaden haben die Diebe nicht angerichtet, aber die Polizei ist ihrer noch nicht habhaft geworden.«

»Hat man keinen Verdacht?« fragte Holmes mit bedeutsamem Augenzwinkern.

»Bis jetzt nicht,« versetzte der Oberst. »Die Sache ist zu geringfügig und verdient Ihre Aufmerksamkeit nicht, Herr Holmes, nach dem großen internationalen Werk, das Sie vollbracht haben. Es handelt sich nur um ein ganz gewöhnliches Verbrechen.«

»O bitte sehr,« sagte Holmes bescheiden, und doch freute ihn die Anerkennung, denn er lächelte befriedigt. »Hat denn der Fall gar kein besonderes Interesse?«

»Ich glaube kaum. Die Diebe durchsuchten die Bibliothek, fanden aber wenig, was sich der Mühe verlohnte. Sie haben das Unterste zu oberst gekehrt, sämtliche Schubladen aufgebrochen und die Schränke durchwühlt, schließlich aber nur einen Band von Popes Homer, zwei plattierte Leuchter, einen elfenbeinernen Briefbeschwerer, einen kleinen in Holz gefaßten Barometer und eine Rolle Bindfaden mitgenommen.«

»Was für eine merkwürdige Auswahl!« rief ich.

»Die Kerle haben offenbar das erste beste zusammengerafft, was ihnen unter die Hände kam.«

Holmes brummte etwas auf dem Sofa vor sich hin.

»Die Polizei sollte sich das als Fingerzeig dienen lassen,« sagte er dann. »Es ist doch ganz klar, daß –«

Doch schon hob ich warnend die Hand in die Höhe. »Du bist hier, um dich auszuruhen, alter Junge. Laß dich nur um Gottes willen in keine neue Untersuchung ein, solange deine Nerven noch ganz zerrüttet sind.«

Holmes warf dem Obersten einen drolligen entsagungsvollen Blick zu und zuckte die Achseln, worauf sich die Unterhaltung wieder in minder gefährlichen Bahnen bewegte.

Es war indessen vom Schicksal bestimmt, daß alle ärztliche Vorsicht vergebens sein sollte. Schon am nächsten Morgen drängte sich uns das Problem von selbst auf, und wir konnten es nicht länger unberücksichtigt lassen. Unser Landaufenthalt erhielt dadurch eine Bedeutung, die kein Mensch vorausgesehen hätte.

Wir saßen noch beim Frühstück, als des Obersten Hausmeister mit Hintansetzung jeder Förmlichkeit ins Zimmer gestürzt kam.

»Haben Sie’s schon gehört, Herr,« stieß er keuchend heraus, »was bei den Cunninghams geschehen ist?«

»Wieder ein Einbruch?« rief der Oberst und hielt seine Kaffeetasse, die er eben zum Munde führen wollte, unbeweglich in der Luft.

»Nein, ein Mord.«

»Wahrhaftig? – Wer ist denn tot – der Friedensrichter oder sein Sohn?«

»Keiner von beiden, sondern Wilhelm, der Kutscher. Mitten durchs Herz geschossen – konnte keinen Laut mehr von sich geben.«

»Wer hat ihn denn erschossen?«

»Der Einbrecher. Er floh wie ein Pfeil davon und ist entkommen. Wilhelm kam gerade dazu, als der Kerl das Vorratskammerfenster eindrückte. Während er seines Herrn Eigentum rettete, fand er selbst den Tod.«

»Wann war das?«

»Letzte Nacht, Herr, gegen zwölf Uhr.«

»Wir werden gleich nachher hinübergehen, um uns näher danach zu erkundigen,« sagte der Oberst und frühstückte gelassen weiter. »Eine abscheuliche Geschichte,« fuhr er fort, als der Hausmeister sich entfernt hatte. »Der alte Cunningham ist ein recht braver Mann und der angesehenste Gutsbesitzer von Reigate. Er wird sich die Sache schrecklich zu Herzen nehmen, denn der Kutscher ist seit Jahren in seinem Dienst und hat sich immer gut gehalten. Offenbar waren es dieselben Schurken, die bei Acton eingebrochen sind.«

»Wo sie die merkwürdige Auswahl von Gegenständen gestohlen haben?« jagte Holmes nachdenklich.

»Jawohl.«

»Hm! Möglich, daß es die einfachste Sache von der Welt ist – aber auf den ersten Blick scheint es doch sonderbar, meinen Sie nicht auch? – Diebe, die in Landhäusern einbrechen, pflegen sonst den Schauplatz ihrer Thaten zu verändern und nicht innerhalb weniger Tage bei zwei Nachbarn einen Besuch abzustatten. Als Sie gestern abend von Vorsichtsmaßregeln sprachen, fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß dieser Bezirk für den Augenblick wahrscheinlich so sicher vor den Räubern sei, wie kein anderer. Ein Beweis, daß ich noch immer viel zu lernen habe.« »Vermutlich ist der Dieb ein Ortsangehöriger,« sagte der Oberst. »Das erklärt auch, warum er sich gerade Acton und Cunningham ausgesucht hat, die beiden größten Grundbesitzer der Gegend.«

»Auch die reichsten?«

»Von Haus aus, ja; aber sie haben jahrelang miteinander im Prozeß gelegen und sind dabei tüchtig geschröpft worden. Der alte Acton erhebt Ansprüche auf Cunninghams halbes Gut, und die Advokaten haben mit beiden Händen zugegriffen.«

»Wenn der Dieb von hier ist, wird man ihn ohne Schwierigkeit fangen können,« äußerte Holmes und gähnte dazu. »Ich weiß schon, was du sagen willst Watson; aber sei nur ruhig, ich mische mich nicht hinein.«

In diesem Augenblick riß der Hausmeister die Thür auf: »Polizeiinspektor Forcester!« meldete er.

Der Beamte, ein junger Mann mit klugem, durchdringendem Blick, trat rasch ein. »Guten Morgen, Herr Oberst,« sagte er, »entschuldigen Sie, wenn ich störe. Mir wurde gesagt, Herr Holmes aus der Bakerstraße sei hier.«

Der Oberst machte eine Handbewegung nach meinem Freunde hin, und Forcester verbeugte sich.

»Wir glaubten, Sie würden es vielleicht der Mühe wert erachten, mit hinüber zu kommen.«

»Das Schicksal erklärt sich gegen dich, Watson,« sagte Holmes lachend. »Wir sprachen gerade von der Angelegenheit, als Sie kamen, Herr Inspektor. Vielleicht berichten Sie uns noch einige Einzelheiten.«

Die Art, wie er sich bei diesen Worten in den Stuhl zurücklehnte, war mir wohlbekannt. Ich sah ein, daß jeder Widerspruch nutzlos sein würde, und ich der Sache ihren Lauf lassen müsse.

»Der Einbruch bei Acton ist ganz unaufgeklärt geblieben. Aber diesmal fehlt es uns nicht an Anhaltspunkten, und es handelt sich ohne Zweifel um den nämlichen Verbrecher. Der Mann ist gesehen worden.«

»Wirklich!«

»Ja, gewiß. Aber nachdem er den Schuß abgegeben hatte, der dem armen Wilhelm Kirwan das Leben kostete, ist er entflohen wie ein gehetztes Wild. Herr Cunningham sah ihn aus dem oberen Schlafstubenfenster und sein Sohn Alec vom Hausflur aus. Um dreiviertel auf zwölf ist der Lärm entstanden. Der alte Cunningham war gerade zu Bett gegangen, und Herr Alec saß im Schlafrock da und rauchte noch eine Pfeife. Beide hörten den Kutscher Wilhelm nach Hilfe rufen; Herr Alec lief hinunter, um zu sehen, was es gäbe. Die Hinterthür stand offen, und als er am Fuß der Treppe war, sah er draußen zwei Männer die miteinander rangen. Da fiel ein Schuß, der eine Mann sank zu Boden, der Mörder aber stürzte durch den Garten und sprang über die Hecke. Cunningham sah noch vom Fenster aus, wie der Kerl die Landstraße erreichte, dann verlor er ihn aus dem Gesicht. Herr Alec blieb bei dem Sterbenden, um zu versuchen, ob noch Hilfe möglich sei, und so hatte der Bösewicht Zeit zu entkommen. Wir wissen nur, daß es ein mittelgroßer Mann war, der einen dunkeln Anzug trug. Von seinem Aeußern ist sonst nichts bekannt; doch wird eifrig nach ihm gefahndet, und wenn er nach auswärts geflohen ist, werden wir ihn bald haben.«

»Wie kam jener Wilhelm dorthin? Hat er vor seinem Tode nichts ausgesagt?«

»Kein Wort. Er wohnte mit seiner Mutter im Pförtnerhäuschen und war dem Herrn treu ergeben; wir glauben, er habe noch einmal nachsehen wollen, ob alles im Hause auch sicher und wohlverwahrt sei. Seit dem Einbruch bei Acton war jedermann stets auf seiner Hut. Der Räuber muß gerade die Thür erbrochen haben – das Schloß war gesprengt – als Wilhelm hinzukam.«

»Hat Wilhelm nichts zu seiner Mutter gesagt, ehe er fortging?«

»Sie ist alt und taub, man kann wenig aus ihr herausbekommen. Der Schreck hat sie halb blödsinnig gemacht; doch sagt man, sie sei nie recht klar im Kopfe gewesen. – Etwas sehr Wichtiges muß ich Ihnen noch zeigen. Hier – sehen Sie!«

Er nahm einen Fetzen Papier aus seinem Taschenbuch und glättete ihn auf dem Knie.

»Dies hier fand ich in des Toten Hand zwischen Daumen und Zeigefinger. Es scheint von einem größeren Blatt abgerissen zu sein. Um dieselbe Stunde, die dort erwähnt ist, ereilte den armen Menschen sein Schicksal. Der Mörder wird ihm wohl den Zettel entrissen haben, oder er selbst hat die Ecke von einem Blatt abgerissen, das der Mörder in der Hand hielt. Es sieht fast aus, als habe man ihn zu einer Zusammenkunft bestellt.«

Holmes nahm das beschriebene Papier zur Hand, von dem wir hier einen Abdruck geben.

»Falls es sich um ein Stelldichein handelte,« fuhr der Inspektor fort, »so ist die Annahme nicht ausgeschlossen, daß Wilhelm Kirwan, trotz seines ehrlichen Rufes, mit dem Dieb unter einer Decke gesteckt hat. Er kann ihn hier getroffen, ihm vielleicht geholfen haben, die Thür aufzubrechen, und dann sind sie miteinander in Streit geraten.«

»Die Schrift ist außerordentlich interessant,« sagte Holmes, der sich ganz in die Betrachtung des Papiers vertieft hatte. »Es wird der Sache nicht so leicht auf den Grund zu kommen sein, wie ich dachte.« Er vergrub nun den Kopf in beide Hände, und der Inspektor lächelte, als er sah, welchen Eindruck sein Kriminalfall auf den berühmten Londoner Spezialisten machte.

»Ihre letzte Bemerkung,« fuhr Holmes nach einer Weile fort, »daß möglicherweise zwischen dem Diebe und dem Kutscher ein Einverständnis bestanden haben kann, und er durch diesen Zettel an den Ort bestellt wurde, ist sehr scharfsinnig und keineswegs zu verwerfen. Aber jene Schriftzüge lassen noch eine andere –« er hielt sich abermals die Hand vor die Augen und versank in tiefes Nachsinnen. Als er wieder aufblickte, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß seine Wangen gerötet waren und sein Auge so lebhaft funkelte, wie vor der Krankheit. Mit verjüngter Thatkraft sprang er empor.

»Wißt ihr was,« rief er, »ich möchte mir gern in aller Ruhe einen kleinen Einblick in den Fall verschaffen, er fesselt mich ungemein. Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Oberst, überlasse ich Ihnen einstweilen meinen Freund Watson und begleite den Inspektor nach dem Thatort, um mich zu überzeugen, ob ein paar Dinge, die mir eben eingefallen sind, auf Wahrheit beruhen. In einer halben Stunde bin ich wieder da.«

Es vergingen fast anderthalb Stunden, dann kehrte der Inspektor allein zurück.

»Herr Holmes spaziert draußen im Felde auf und ab,« sagte er. »Sein Wunsch ist, daß wir alle vier zusammen nach dem Hause gehen.«

»Zu Herrn Cunningham?«

»Jawohl.«

»Weswegen?«

Forcester zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht genau. Unter uns gesagt, glaube ich, daß Herr Holmes seine Krankheit noch nicht völlig überwunden hat. Er ist schrecklich aufgeregt und gebärdet sich ganz sonderbar.«

»Fürchten Sie nur nichts,« sagte ich. »Meist habe ich noch immer gefunden, daß Methode in seiner Tollheit war.«

»Mancher dächte vielleicht, es sei Tollheit in seiner Methode,« brummte der Inspektor. »Aber er scheint mit Feuereifer ans Werk zu gehen; wir wollen ihn lieber nicht aufhalten, wenn es Ihnen recht ist, Herr Oberst.«

Die Hände in den Taschen, den Kopf auf die Brust gesenkt, schritt Holmes draußen auf und ab.

»Die Sache wird immer interessanter,« sagte er. »Dein Ausflug aufs Land, Watson, ist über alles Erwarten gelungen. Ich hätte mir keinen schöneren Morgen wünschen können.«

»Sie haben den Schauplatz des Verbrechens in Augenschein genommen, wie ich höre,« sagte der Oberst.

»Ja, wir sind zusammen auf Kundschaft ausgezogen, der Inspektor und ich.«

»Mit Erfolg?«

»Wenigstens haben wir mancherlei erfahren. Ich kann Ihnen das unterwegs erzählen. Zuerst besichtigten wir die Leiche des Unglücklichen. Er ist durch einen Pistolenschuß getötet worden, ganz wie man uns berichtet hat.«

»Zweifelten Sie denn daran?«

»Man thut immer gut, alles selbst zu untersuchen. Unser Gang war durchaus nicht vergeblich. Wir hatten dann eine Unterredung mit Herrn Cunningham und seinem Sohn, die mir genau die Stelle bezeichnen konnten, wo der Mörder auf der Flucht durch die Gartenhecke gebrochen war. Das interessierte mich sehr.«

»Natürlich.«

»Dann suchten wir die Mutter des armen Menschen auf, erfuhren jedoch nichts von ihr; sie ist sehr alt und ganz kindisch.«

»Und zu welchem Ergebnis kamen Sie bei Ihren Ermittelungen?«

»Zu der Ueberzeugung, daß wir es mit einem eigenartigen Verbrechen zu thun haben. Vielleicht trägt unser jetziger Besuch dazu bei, das Dunkel zu lichten. – Nicht wahr, Herr Inspektor, Sie sind doch auch meiner Meinung, daß der abgerissene Zettel in des Ermordeten Hand, auf dem seine Todesstunde verzeichnet ist, die allergrößte Wichtigkeit hat?«

»Mich dünkt, er sollte uns Aufschluß über die That geben können.«

»Das thut er auch. Kein anderer Mensch hat ihn geschrieben, als der, welcher Wilhelm Kirwan zur Nachtzeit an den verhängnisvollen Ort bestellte. – Aber wo ist das fehlende Stück des Papiers hingekommen?« »Ich habe überall auf dem Erdboden gesucht, in der Hoffnung, es zu finden,« versetzte der Inspektor.

»Jemand hat es dem Toten aus der Hand gerissen; es verdächtigte ihn, er mußte es haben. Dann hat er es wahrscheinlich in die Tasche gesteckt, ohne zu bemerken, daß die Leiche noch eine Ecke in der Hand behielt. Wenn wir uns das abgerissene Stück verschaffen könnten, wäre gewiß ein großer Schritt zur Lösung des Rätsels gethan.«

»Ja, aber wie kann man die Taschen des Verbrechers durchsuchen, bevor man seiner Person habhaft geworden ist?«

»Nun, jedenfalls wird man gut thun, sich die Sache zu merken. Noch ein anderer Punkt liegt auf der Hand: Der Zettel ist Wilhelm zugeschickt worden. Wer ihn geschrieben hat, war nicht zugleich der Ueberbringer, sonst hätte er seine Botschaft wohl mündlich ausgerichtet. Durch wen ist er also abgegeben worden? Oder kam er vielleicht mit der Post?«

»Ich habe mich danach erkundigt,« sagte Forcester; »Wilhelm hat gestern nachmittag einen Brief durch die Post erhalten. Der Umschlag ist aber nicht mehr vorhanden.«

»Vortrefflich,« rief Holmes und schlug dem Polizisten auf die Schulter. »Sie haben auch schon mit dem Briefträger gesprochen. Mit Ihnen zu arbeiten, ist ein wahres Vergnügen. – Da sind wir ja an der Pförtnerwohnung; kommen Sie, Herr Oberst, ich zeige Ihnen den Schauplatz des Verbrechens.«

Wir schritten an dem hübschen Häuschen vorbei, das der Ermordete bewohnt hatte, und durch eine breite Eichenallee bis zu dem stattlichen, alten Herrenhause. Nach der Landstraße zu war der Garten von einer grünen Hecke umgeben. Holmes und der Inspektor gingen voran; um die Ecke biegend gelangten wir an die Seitenpforte, wo ein Schutzmann Wache hielt.

»Oeffnen Sie, bitte, einmal die Thür,« redete ihn Holmes an. »Hier auf der Treppe also stand der junge Cunningham und sah die beiden Männer miteinander ringen, gerade an der Stelle, wo wir jetzt sind. Der alte Cunningham war oben am Fenster – am zweiten links – und sah den Kerl dort hinter dem Busch verschwinden. Sein Sohn ebenfalls. Beide wissen das ganz genau, sie haben sich den Busch gemerkt. Dann lief Herr Alec zu dem Verwundeten und kniete neben ihm. Der Boden ist sehr hart, man findet keine Spuren mehr, an die man sich halten kann.« Während Holmes noch sprach, kamen zwei Männer vom Gartenpfad her um die Hausecke, ein ältlicher Herr mit stark gefurchtem, ausdrucksvollem Gesicht und Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, und ein junger Mensch, dessen modische Kleidung und heiteres, unbekümmertes Wesen zu dem traurigen Geschäft, das uns hergeführt hatte, schlecht zu passen schienen.

»Noch immer auf der Suche?« sagte er zu Holmes gewendet. »Ich glaubte, ihr Londoner kämet nie in Verlegenheit. So sehr schnell scheint ihr mir die Sache doch nicht abzumachen.«

»Man muß uns nur etwas Zeit lassen,« erwiderte Holmes gutmütig.

»Ja, die wird wohl vonnöten sein,« fuhr der junge Cunningham fort, »Mich dünkt, es ist auch nicht die geringste Spur vorhanden.«

»Nur einen Faden haben wir,« fiel der Inspektor ein. »Wir glauben, daß wenn sich entdecken ließe – Aber ums Himmels willen, Herr Holmes – was fehlt Ihnen?«

Die Züge meines armen Freundes hatten urplötzlich einen entsetzlichen Ausdruck der Qual angenommen, sie verzerrten sich krampfhaft, seine Augen rollten wild umher, und unter dumpfem Stöhnen sank er um, mit dem Gesicht auf den Boden. Zu Tode erschrocken über diesen unerwarteten, schweren Anfall, trugen wir Holmes in die Küche, wo er, in einen Armstuhl zurückgelehnt, mehrere Minuten lang mühsam Atem holte. Endlich erhob er sich wieder und stammelte eine verwirrte Entschuldigung wegen seiner Schwäche.

»Watson kann Ihnen sagen, daß ich soeben erst von schwerer Krankheit genesen bin,« fügte er als Erklärung hinzu. »Solche plötzlichen Nervenanfälle kommen bei mir bisweilen vor.«

»Soll ich Sie im Wagen nach Hause schicken?« fragte der alte Cunningham.

»O nein, da ich einmal hier bin, möchte ich mir erst noch über einen Punkt Gewißheit verschaffen, der sich leicht ermitteln lassen wird.«

»Und der wäre?«

»Ich halte es für sehr möglich, daß Ihr armer Kutscher den Einbrecher schon in voller Thätigkeit fand. Sie scheinen es als feststehend zu betrachten, daß die Thür zwar erbrochen war, der Räuber aber das Haus nicht betreten hat.«

»Das liegt meiner Ansicht nach auf der Hand,« versetzte Cunningham bedächtig. »Mein Sohn Alec war ja noch nicht zu Bett gegangen und hätte sicherlich jedes Geräusch im Hause gehört.«

»Wo saßen Sie denn?«

»Ich rauchte meine Pfeife im Ankleidezimmer.«

»Welches Fenster ist das?«

»Das letzte links, neben meines Vaters Schlafstube.«

»Natürlich war in beiden noch Licht?«

»Jawohl, versteht sich.«

»Das ist doch wirklich sehr auffallend,« sagte Holmes. »Finden Sie es nicht auch höchst sonderbar, daß ein Dieb, der noch dazu kein Neuling ist, mit aller Ruhe in einem Hause einbricht, wo zur Zeit noch zwei Leute wach sind, wie er an den hellen Fenstern sehen kann?«

»Es muß eben ein äußerst frecher Bursche sein.«

»Ja, wissen Sie,« sagte Herr Alec, »wenn der Fall nicht absonderlich wäre, brauchten wir uns nicht an Sie um Aufklärung zu wenden. Die Annahme aber, daß der Räuber bereits ins Haus gedrungen war, ehe Wilhelm sich über ihn hermachte, scheint mir ganz verfehlt. Wir hätten doch sonst unsere Sachen in Unordnung gefunden und irgend etwas vermißt, das er gestohlen hat.«

»Das kommt darauf an. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es mit keinem gewöhnlichen Einbrecher zu thun haben. Er liebt es, auf besondere Art zu verfahren, wie man schon an der wunderlichen Auswahl sieht, die er bei Acton getroffen hat – was war es doch – eine Rolle Bindfaden, ein Briefbeschwerer und allerlei Krimskrams.«

»Wir vertrauen uns Ihnen unbedingt an, Herr Holmes,« sagte der alte Cunningham; »was Sie oder der Inspektor vorschlagen, soll ohne Aufschub geschehen.«

»Erstens möchte ich, daß sofort eine Belohnung ausgeschrieben würde – am besten von Ihnen selbst; wenn die Polizei erst anfängt, über die Höhe der Summe hin und her zu beraten, geht zu viel Zeit verloren. Ich habe bereits den Wortlaut aufgesetzt, es fehlt nur noch Ihre Unterschrift. Fünfzig Pfund halte ich für ausreichend.«

»Fünfhundert wären mir nicht zu viel,« meinte der Friedensrichter, wahrend er Zettel und Bleistift nahm, welche Holmes ihm hinreichte.

»Aber das ist nicht ganz richtig,« sagte er, das Blatt überfliegend.

»Ich habe es in großer Eile geschrieben.«

»Sehen Sie, hier steht: ›In der Nacht von Montag auf Dienstag um dreiviertel auf eins wurde ein Einbruchsversuch u.s.w.‹ In Wirklichkeit hat sich die Sache um dreiviertel auf zwölf zugetragen.«

Mir war dieser Irrtum sehr unangenehm und betrübend, denn ich wußte, wie schwer ihn Holmes empfinden würde. Eine Ungenauigkeit inbetreff der Thatsachen kam bei ihm sonst gar nicht vor. Das kleine Versehen war mir ein neuer Beweis, wie sehr die Krankheit ihn angegriffen hatte und daß er durchaus noch der Schonung bedurfte. Einen Augenblick geriet er in sichtliche Verlegenheit, der Inspektor zog die Augenbrauen in die Höhe, und Alec Cunningham lachte laut. Der alte Herr aber gab Holmes den Zettel zurück, nachdem er den Fehler verbessert hatte.

»Lassen Sie die Anzeige so schnell wie möglich drucken,« sagte er; »Ihr Vorschlag scheint mir vortrefflich.«

Holmes verwahrte das Papier sorgfältig in seinem Taschenbuch. »Und nun lassen Sie uns zusammen das Haus besichtigen, um uns zu überzeugen, ob der sonderbare Einbrecher nicht vielleicht doch irgend etwas mitgenommen hat.«

Zuerst untersuchte mein Freund die erbrochene Thür. Offenbar hatte man das Schloß mit einem starken Messer oder einem Meißel aufgesprengt. Man sah noch die Spuren am Holz, wo das Werkzeug hineingetrieben worden war.

»Legen Sie nachts keine Eisenstangen vor?« fragte er.

»Wir hielten es bisher für unnötig.«

»Sie haben auch keinen Hund?«

»Doch; aber er ist hinter dem Hause angekettet.«

»Wann geht die Dienerschaft zu Bett?«

»Gegen zehn Uhr.«

»Nicht wahr, auch Wilhelm schlief gewöhnlich schon um diese Stunde?«

»Jawohl.«

»Sonderbar, daß er gerade heute nacht noch so spät auf war. – Jetzt lassen Sie uns, bitte, ins Haus gehen, Herr Cunningham.«

Aus einem mit Steinfliesen belegten Gang, in den die Küchenräume mündeten, gelangte man auf einer hölzernen Stiege unmittelbar nach dem Vorplatz des ersten Stockwerks, zu dem auch die reich verzierte Haupttreppe aus der unteren Halle hinaufführte. Sowohl die Thüren des Wohnzimmers als mehrerer Schlafzimmer gingen auf diesen Vorplatz hinaus, darunter auch diejenigen der beiden Cunninghams.

Holmes besichtigte die ganze Bauart des Hauses genau und schritt nur langsam vorwärts. Ich sah an seinem Gesichtsausdruck, daß er eine Fährte gefunden hatte, die er eifrig verfolgte; jedoch nach welcher Richtung hin, ahnte ich nicht im geringsten.

»Mein bester Herr,« sagte der Friedensrichter etwas ungeduldig, »Sie machen sich ganz unnütze Mühe. Dort, der Treppe gegenüber, ist mein Zimmer und daneben das meines Sohnes. Nun urteilen Sie selbst, ob es möglich war, daß der Dieb hier heraufkommen konnte, ohne daß wir das Geräusch hörten.«

»Sie wollen wohl überall herumsuchen, ob Sie nicht eine neue Spur entdecken,« sagte der Sohn mit spöttischem Lächeln. »Ich möchte Sie doch bitten, mich noch etwas gewähren zu lassen. Zum Beispiel wünsche ich festzustellen, wie weit man aus den Schlafstubenfenstern die Vorderseite des Hauses überblicken kann. – Dies also ist Ihres Sohnes Zimmer,« sagte er, die Thüre aufstoßend, »und dahinter liegt vermutlich das Ankleidezimmer, wo er mit seiner Pfeife saß, als der Lärm entstand. Nach welcher Seite hinaus sieht denn das Fenster?« Er ging durch das Schlafzimmer, öffnete die Thür zu dem anstoßenden Gemach und sah sich darin um.

»Hoffentlich sind Sie nun zufrieden,« sagte Cunningham ärgerlich.

»Jawohl, danke; das war, glaube ich, alles, was ich sehen wollte.«

»Wir können auch noch in mein Zimmer gehen, wenn es durchaus sein muß.«

»Falls es Ihnen nicht unbequem ist.«

Der Friedensrichter zuckte die Achseln und führte uns in seine Schlafstube, einem ganz einfach ausgestatteten Raum. Als die übrigen nach dem Fenster hingingen, blieb Holmes etwas zurück, so daß wir beide die letzten waren. Am Fußende des Bettes, auf einem kleinen Tisch, stand eine Wasserflasche und ein Teller mit Orangen. Auf einmal streckte Holmes zu meiner größten Verwunderung rasch die Hand aus und stieß das Tischchen um, samt allem, was darauf war. Das Glas zerbrach in tausend Stücke, das Wasser floß auf den Teppich, und die Früchte rollten im ganzen Zimmer umher.

»Aber Watson, was hast du angerichtet,« rief Holmes ohne Besinnen, »das ist ja eine schöne Bescherung!«

Ich bückte mich in nicht geringer Verlegenheit, um die Früchte aufzulesen, denn ich begriff wohl, daß mein Gefährte irgend einen triftigen Grund haben müsse, mir die Ungeschicklichkeit in die Schuhe zu schieben. Die andern halfen mir und richteten den Tisch wieder auf.

»Oho,« rief der Inspektor, »wo ist er denn hingeraten?«

Holmes war verschwunden.

»Warten Sie einen Augenblick hier,« sagte Alec Cunningham, »mir scheint, der Mensch ist nicht ganz bei Sinnen. Komm, Vater, wir wollen sehen, was aus ihm geworden ist.«

Sie eilten beide hinaus, während der Inspektor, der Oberst und ich einander verwundert ansahen.

»Meiner Treu, ich glaube, Herr Alec hat recht,« sagte der Polizeibeamte. »Vielleicht ist es eine Nachwirkung der Krankheit, aber ich muß gestehen –«

Seine Rede wurde plötzlich durch das Geschrei: »Zu Hilfe, zu Hilfe, Mord, Mord!« unterbrochen. Schaudernd erkannte ich meines Freundes Stimme und stürzte wie wahnsinnig auf den Vorplatz hinaus. Die Hilferufe klangen jetzt schwach und heiser aus der Stube, die wir zuerst betreten hatten. Ich stürmte hindurch und in das dahinter gelegene Ankleidezimmer. Sherlock Holmes lag am Boden; die beiden Cunninghams hielten ihn gepackt, der Sohn drückte ihm mit den Händen die Kehle zu, während der Vater mit aller Macht an seinem Handgelenk zerrte. Im nächsten Augenblick hatten wir drei sie von ihm fortgerissen, Holmes erhob sich schwankend, er sah leichenblaß und ganz erschöpft aus.

»Verhaften Sie diese beiden Männer, Herr Inspektor,« stieß er keuchend hervor.

»Was haben sie denn begangen?«

»Den Kutscher Wilhelm Kirwan ermordet.«

Verwirrt starrte der Inspektor um sich.

»Aber, bester Herr Holmes,« sagte er endlich, »das kann doch Ihr Ernst nicht sein –«

»Mein völliger Ernst. Schauen Sie ihnen doch nur ins Gesicht.«

Noch nie habe ich einen Menschen gesehen, dem die Schuld so deutlich auf der Stirn geschrieben stand wie diesen beiden. Der Alte war wie betäubt und gelähmt, seine scharfgezeichneten Züge trugen einen starren, finsteren Ausdruck. Der Sohn dagegen hatte das flotte, stutzerhafte Wesen, das er zur Schau getragen, ganz fallen lassen; sein hübsches Gesicht war verzerrt, und in seinen Augen funkelte die Wut eines gefährlichen Raubtiers.

Der Inspektor schritt, ohne ein Wort zu sagen, nach der Thür und ließ einen gellenden Pfiff hören. Auf diesen Ruf erschienen zwei Polizisten.

»Mir bleibt keine Wahl, Herr Cunningham,« sagte er. »Ich hoffe, es wird sich als ein lächerlicher Irrtum herausstellen, aber Sie müssen einsehen – Oho, was soll das heißen!« – Er schlug Herrn Alec seinen Revolver aus der Hand, als der junge Mann gerade den Hahn spannen wollte –; die Waffe fiel klirrend zu Boden.

Holmes setzte rasch den Fuß darauf. »Nehmen Sie das Ding an sich, es wird Ihnen beim Verhör gute Dienste thun. Aber hier ist das, wonach ich eigentlich gesucht habe.« Er hielt ein zerknittertes Stück Papier in die Höhe. »Der abgerissene Zettel!« rief der Inspektor.

»Nichts anderes.«

»Und wo war er?«

»Wo ich ihn gleich vermutete. Ich will Ihnen später alles erklären. Es wird am besten sein, Herr Oberst, wenn Sie jetzt mit Watson nach Hause gehen; in höchstens einer Stunde komme ich nach. Wir müssen noch ein Wort mit den Gefangenen reden, der Inspektor und ich, aber zum zweiten Frühstück bin ich bestimmt wieder da.«

Sherlock Holmes hielt Wort; gegen zwei Uhr fand er sich bei uns im Rauchzimmer ein, begleitet von einem kleinen, ältlichen Mann, der mir als Herr Acton vorgestellt wurde, in dessen Hause zuerst eingebrochen worden war.

»Ich wünschte sehr, daß Herr Acton meine Darlegung des Falles mit anhören möchte,« sagte Holmes, »da für ihn natürlich alle Einzelheiten von hohem Interesse sind. – Sie werden es, fürchte ich, noch bereuen, Herr Oberst, daß Sie einen so unruhigen Gesellen wie mich in Ihr Haus aufgenommen haben.«

»Im Gegenteil,« erwiderte der Oberst eifrig, »ich schätze es als einen besonderen Vorzug, daß mir gestattet wird, die Methode kennen zu lernen, die Sie bei Ihren Schlüssen beobachten. Der Erfolg übersteigt alle meine Erwartungen, das gestehe ich offen, auch bin ich gänzlich außer stande, den Hergang zu begreifen. Ich habe noch nicht die leiseste Ahnung davon.«

»Die Erklärung wird Ihnen wahrscheinlich eine Enttäuschung bereiten; doch pflege ich mein Verfahren weder vor meinem Freunde Watson noch vor sonst jemand zu verbergen, der Verständnis dafür zeigt. Aber erst darf ich mir wohl einen Schluck von Ihrem Kognak einschenken, Herr Oberst, der Kampf in dem Zimmer dort drüben hat mich durch und durch geschüttelt. Ich habe mir in letzter Zeit wohl etwas zu viel zugemutet und bin noch nicht ganz bei Kräften.«

»Sie haben doch nicht wieder Nervenanfälle gehabt?«

Sherlock Holmes lachte herzlich. »Davon reden wir später,« sagte er, »ich will Ihnen alles der Reihe nach berichten und Ihnen die Hauptgesichtspunkte vorführen, von denen ich mich leiten ließ. Falls Sie etwas nicht vollkommen verstehen sollten, bitte ich nur, mich zu unterbrechen.

»Es ist von der höchsten Wichtigkeit für die Ermittelung eines Verbrechens, daß man imstande ist, zu unterscheiden, welches die wesentlichen Thatsachen und welches nur Nebenumstände sind. Sonst läuft man Gefahr, seine Kraft und Wachsamkeit zu zersplittern, statt sie möglichst zu sammeln. Im vorliegenden Falle hatte ich nicht den leisesten Zweifel, daß der Schlüssel des Ganzen in dem Blatt Papier zu finden sei, das dem Toten aus der Hand genommen worden war.

»Nach Alec Cunninghams Aussage hatte der Räuber Wilhelm Kirwan erschossen und dann augenblicklich die Flucht ergriffen. War dies richtig, so konnte nicht er es gewesen sein, der den Zettel aus des Toten Hand gerissen hatte. Dies mußte vielmehr der junge Cunningham selbst gethan haben, denn als sein Vater herunterkam, waren bereits mehrere Diener auf den Schuß herbeigeeilt. Wie einleuchtend das auch ist, so hatte der Inspektor diesen Punkt doch übersehen, weil er von vornherein annahm, daß die beiden Gutsbesitzer bei der Sache nicht beteiligt wären. Mein Hauptgrundsatz ist aber, ohne jegliches Vorurteil zu Werke zu gehen und einfach den Thatsachen zu folgen, wohin sie mich führen. So kam es, daß mir die Rolle, welche Alec Cunningham gespielt hatte, gleich auf der ersten Stufe der Untersuchung in zweifelhaftem Lichte erschien.

»Hierauf besichtigte ich die abgerissene Ecke des Zettels genau, die mir der Inspektor eingehändigt hatte. Es wurde mir sofort klar, daß sie ein Teil des wichtigsten Beweisstückes sei. Hier ist das Papier. Bemerken Sie etwas besonders Auffallendes daran?«

»Die Schrift ist ziemlich ungleichmäßig,« sagte der Oberst.

»Jawohl,« rief Holmes, »auch steht es ganz außer Frage, daß sie von zwei Leuten herrührt, die immer abwechselnd ein Wort geschrieben haben. Sehen Sie hier, die verschiedenen f in ›auf‹ und ›zwölf‹; vergleichen Sie die Schleifen des d und den Buchstaben e, so werden Sie mir gewiß beipflichten. Die Wörter ›auf, wo, etwas, und‹ sind von einer kräftigeren Hand geschrieben als die übrigen, daß läßt sich nicht verkennen.«

»Wahrhaftig, man sieht es ganz genau,« rief der Oberst. »Wozu in aller Welt sollten aber zwei Menschen einen Brief auf solche Art abfassen?«

»Es handelte sich offenbar um ein unlauteres Geschäft, und der eine Schreiber, der dem andern mißtraute, bestand darauf, daß sie die Verantwortung zu gleichen Teilen tragen müßten. Der, welcher das › auf‹ und › wo‹ geschrieben hat, war natürlich der Anstifter.«

»Woraus schließen Sie denn das?«

»Man könnte es schon nach dem Charakter der Schrift selbst mit Gewißheit behaupten. Aber ich habe noch bestimmtere Gründe dafür. Betrachten Sie das Papier aufmerksam, und Sie werden zu der Ueberzeugung gelangen, daß der Mann mit der festeren Hand seine Wörter zuerst geschrieben und den Platz, den der andere ausfüllen sollte, leer gelassen hat. Der Raum genügte nicht immer, weshalb die Wörter ›dreiviertel‹ und ›erfahren‹ so eng zusammengedrängt sind. Von dem Mann, welcher zuerst geschrieben hat, ist der Mordplan ausgegangen.«

»Vortrefflich!« rief Acton.

»Auch lassen sich noch dreiundzwanzig andere Schlüsse aus der Handschrift ziehen, über Alter, Verwandtschaft und dergleichen, welche aber nur für Schriftkundige interessant sein dürften. Sie dienten alle dazu, um mich in der Ansicht zu bestärken, daß die beiden Cunninghams, Vater und Sohn, den Brief geschrieben hatten.

»Nachdem ich so weit gelangt war, mußte ich natürlich noch die Einzelheiten des Verbrechens in Betracht ziehen. Ich ging mit dem Inspektor nach dem Hause und besichtigte alles, was zu sehen war. Die Wunde des Toten rührte von einem Revolverschuß her, welcher auf wenigstens vier Meter Entfernung abgegeben worden war, das konnte ich mit vollkommener Sicherheit feststellen. Die Kleider waren nicht im mindesten vom Pulver geschwärzt. Offenbar hatte Alec Cunningham gelogen, als er behauptete, er habe zwei Männer miteinander ringen sehen, und dann sei der Schuß gefallen. Auch inbetreff der Stelle, wo der Mörder über die Hecke gesprungen war, stimmten Vater und Sohn überein. Dort war aber zufällig gerade ein ziemlich breiter Graben. Da nun auf dessen feuchtem Grunde keinerlei Fußspuren zu sehen waren, so kam ich zu der Ueberzeugung, daß die Cunninghams überhaupt die Unwahrheit gesagt hatten, und daß gar kein fremder Räuber an dem Thatort zugegen gewesen sei.

»Nun galt es, den Beweggrund des seltsamen Verbrechens zu finden. Als ich überlegte, welchen Zweck der erste Einbruchsdiebstahl bei Herrn Acton gehabt haben könne, fiel mir der Prozeß zwischen den beiden Gutsbesitzern ein, von dem Sie, Herr Oberst, gesprochen hatten. Ich fragte mich, ob die Cunninghams nicht vielleicht in die Bibliothek eingedrungen wären, um sich irgend einer Urkunde zu bemächtigen, die bei dem Rechtsstreit von Wichtigkeit wäre.«

»Ganz richtig,« sagte Acton, »das war ohne Zweifel ihre Absicht. Ich habe die gegründetsten Ansprüche auf die Hälfte ihres Besitztums. Hätten sie aber auch nur ein einziges meiner Papiere an sich bringen können – die glücklicherweise in dem Aktenschrank des Anwalts liegen – so würden sie mir sicherlich mein Recht streitig gemacht haben.«

»Da hätten wir’s ja,« sagte Holmes lächelnd. »Es war ein gefährliches, tollkühnes Unternehmen, das, meines Erachtens, in dem Kopf des jungen Alec entsprungen ist. – Da sie nichts fanden, suchten sie, um den Verdacht abzulenken, der That den Anschein eines gewöhnlichen Diebstahls zu geben, und nahmen die ersten besten Sachen mit, die ihnen in die Hände fielen. Das ist ganz klar, aber im übrigen war mir noch vieles dunkel. Vor allem wünschte ich den fehlenden Teil des Zettels aufzufinden. Ich zweifelte nicht, daß Alec ihn dem Toten aus der Hand gerissen und ihn in die Tasche seines Schlafrocks gesteckt hatte. Wo sollte er ihn auch sonst hinthun? Es fragte sich nur, ob er jetzt noch darin war. Jedenfalls verlohnte es der Mühe nachzusehen, und deshalb gingen wir alle miteinander nach dem Hause.

»Die Cunninghams trafen, wie Sie wissen, mit uns draußen vor der Küchenthür zusammen. Es war von höchster Wichtigkeit, daß sie nicht an den Zettel erinnert wurden, weil sie ihn sonst unfehlbar vernichtet hätten. Der Inspektor war eben im Begriff, ihnen zu sagen, welchen Wert wir auf das Papier legten, als ich zum größten Glück gerade im entscheidenden Moment jenen Krampfanfall bekam, was dem Gespräch ein Ende machte.«

»Ist es möglich!« rief der Oberst lachend. »Also haben wir unser inniges Mitgefühl ganz verschwendet –Ihr Nervenanfall war nichts als Verstellung!«

»Eine Komödie sondergleichen,« sagte ich und blickte verwundert auf den merkwürdigen Mann, der mich fort und fort durch neue Beweise seiner überlegenen Schlauheit in Erstaunen setzte.

»Dergleichen Kunstgriffe sind oft sehr nützlich,« fuhr er fort. »Sobald ich mich erholt hatte, strengte ich meine Erfindungsgabe an, um den alten Cunningham zu veranlassen, das Wort › zwölf‹ zu schreiben, weil ich es mit dem Wort ›zwölf‹ auf dem abgerissenen Zettel zu vergleichen wünschte.«

»O, was für ein Dummkopf war ich doch!«

»Ich merkte wohl, Watson, wie du dich über meine Schwäche betrübtest,« rief Holmes lachend, »und es that mir leid, daß ich dir diesen Schmerz bereiten mußte. Wir gingen nun zusammen die Treppe hinauf und betraten das Zimmer. Ich sah den Schlafrock hinter der Thür hängen, suchte die allgemeine Aufmerksamkeit einen Augenblick abzulenken, indem ich den Tisch umwarf, lief zurück und untersuchte die Taschen. Kaum hatte ich jedoch den Zettel in einer derselben gefunden, wie ich vorausgesehen, als die Cunninghams sich wütend auf mich stürzten. Ohne euren raschen, hilfreichen Beistand hätten sie mich sicherlich umgebracht. Noch immer fühle ich, wie mir der Sohn die Kehle zuschnürte, und der Alte drehte mir fast das Handgelenk um, als er mir das Papier entreißen wollte. – Sie erkannten, daß ich die ganze Sache durchschaut hatte, und der plötzliche Umschwung von vollkommenster Sicherheit zu völliger Verzweiflung machte sie förmlich rasend.

»Ich habe den alten Cunningham soeben ein wenig über die Beweggründe des Verbrechens ausgefragt. Er war ziemlich gefügig, während sein Sohn sich wie ein Teufel gebärdete und am liebsten sich selbst oder sonst jemand eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, nur fehlte ihm der Revolver. Als der Alte sah, daß seine Sache verloren war, sank ihm der Mut, und er legte ein offenes Geständnis ab. In der Nacht, als die Cunninghams den Einbruch bei Acton verübten, war Wilhelm seinen Herren heimlich gefolgt; er bekam sie dadurch in seine Gewalt und machte Erpressungsversuche, unter Androhung einer gerichtlichen Anzeige. Herr Alec ist aber ein gefährlicher Mensch, der nicht mit sich spaßen läßt. Er hatte den wahrhaft geistreichen Einfall, die Angst vor den Einbrechern, welche die ganze Gegend in Aufruhr brachte, zu benützen, um sich auf glaubwürdige Art von dem Menschen zu befreien, den er fürchtete. Wilhelm ging in das ihm gestellte Netz und wurde erschossen. Hatten die Cunninghams den ganzen Zettel gehabt und auf einige Nebenumstände noch größere Aufmerksamkeit verwendet, so wäre vermutlich nie ein Verdacht gegen sie entstanden.«

»Und der Zettel selbst?«

Holmes legte uns das Blatt Papier vor, das wir hier wiedergeben.

»Es sieht fast genau so ans, wie ich mir gedacht habe,« sagte er. »Natürlich wissen wir noch nicht, welcher Zusammenhang zwischen Alec Cunningham, Anna Morrison und Wilhelm Kirwan bestand. Der Erfolg zeigt aber, daß der Köder, mit dem er in die Falle gelockt wurde, geschickt gewählt war.«

– – – – – – – – – – – – – – –

»Dein ruhiger Landaufenthalt hat sich trefflich bewährt, Watson! Morgen werde ich mit neu gestärkten Kräften nach der Bakerstraße zurückkehren können.«

Diesen Text als e-book herunterladenDiesen Text als e-book herunterladen