Von Perlin nach Berlin – 6. Kap.

6. Berlin.

Nachdem ich viereinhalb Jahr in Güstrow gelebt hatte, begab ich mich im Herbst des Jahres 1866 nach Berlin, um auf der Gewerbeakademie noch einige Jahre zu studieren. Unter den Linden standen noch in Reihen die Kanonen der Siegesstrasse und ich kam gerade um die Zeit in diese Stadt, von der aus ihr fast beispiellos schnelles Aufblühen beginnt. Damals gefiel mir Berlin sehr wenig, da es mit den meisten seiner Einrichtungen hinter seiner Grösse zurückgeblieben war und in vielen Hinsichten oft von weit kleineren deutschen Städten übertroffen wurde.

Obwohl ich in Güstrow gewiss nicht verwöhnt worden war, so fühlte ich doch instinktiv, dass vieles anders sein müsse, und dass Berlin damals nicht viel mehr war, als ein ungeheuer grosses Dorf.

Wer diese Stadt kennt, wie sie jetzt ist, kann sich davon schwer einen Begriff machen, hat sich doch allein seine Bevölkerung in den 28 Jahren, die seitdem vergangen sind, um eine ganze Million vermehrt, wobei die ungeheure Bevölkerungszunahme der vielen Vororte und Villenkolonien noch garnicht in Betracht gezogen ist. Charlottenburg allein zählt jetzt über hunderttausend Einwohner gegen damals etwa achtzehntausend.

Zuerst fühlte ich mich recht einsam in Berlin, doch dies besserte sich bereits nach dem ersten Vierteljahr, als ich mehr Bekannte gewonnen hatte. Im zweiten Jahre meines Aufenthaltes erhielt ich eine Empfehlung an meinen Landsmann, den Professor der Kunstgeschichte Friedrich Eggers, dessen Vorträge in der Gewerbeakademie  mich aufs höchste anzogen. Ich besuchte ihn und ward dann nach kurzer Zeit von ihm zum Mittagessen eingeladen. Dort fand ich noch zwei andere Mecklenburger, den jetzigen Professor Gustav Flörke in Rostock und Ernst Ziel, später bekanntlich Redakteur der Gartenlaube. Beide studierten damals an der Berliner Universität. Nach dem Essen führte uns Eggers in den literarischen Sonntagsverein, genannt: »Tunnel über der Spree«, und da gefiel es mir ungewöhnlich gut. Zwar war der Tunnel damals schon im Niedergang begriffen, und nur noch ein Abglanz seiner einstigen Bedeutung schmückte ihn wie ein Abendroth vergangener schönerer Zeit. Am 3. Dezember des Jahres 1827 von M. G. Saphir und dem Schauspieler Lemm nach dem Vorbilde der »Ludlamshöhle« in Wien gegründet, war er anfangs eine Art Ulkverein gewesen, hatte aber im Laufe der Zeit eine ernsthaftere literarische Färbung angenommen und erinnerte nur durch einige  beibehaltene Aeusserlichkeiten an seine humoristische Kindheit, so durch seinen Schutzpatron Eulenspiegel und seine Symbole, die Eule der Weisheit, die in der einen Kralle den Spiegel der Wahrheit, und in der anderen den Stiefelknecht der Narrheit trug. Die eine Zinke dieses Stiefelknechtes lief in ein Ziegenohr aus und bedeutete »unendliche Ironie«, die andere in einen Schafskopf und sollte »unendliche Wehmuth« vorstellen. Der Vorsitzende führte den Titel »Angebetetes Haupt« und trug als Zeichen seiner Würde einen ungeheuren Stab, der mit einer bronzenen Eule gekrönt war. Durch Aufstossen mit diesem Stabe wurden die Sitzungen eröffnet und geschlossen, auch diente dasselbe Zeichen als »Glocke des Präsidenten«. Gespräche über Religion und Politik waren verboten, und Rang oder Stand gab es ebenfalls nicht, denn jedermann ward einfach bei seinem Tunnelnamen genannt, der zu seinem bürgerlichen Berufe, seiner Persönlichkeit oder seiner Art zu dichten  in irgend einer Beziehung stand. So hiess z.B. Putlitz, der in der Zeit zwischen seiner Schweriner und Karlsruher Intendantenstellung dem Tunnel angehörte, »Thespis«, Menzel wurde »Rubens« und Fontane »Lafontaine« genannt. Mit Ausnahme des Sommers kam man an jedem Sonntagnachmittage um fünf Uhr bei einer Tasse Kaffee zusammen, und das Tagewerk bestand nach Verlesung des Protokolles der vorigen Sitzung und Erledigung etwaiger geschäftlicher Angelegenheiten in der Beurtheilung der von Mitgliedern und »Runen« vorgetragenen Dichtungen. Diesen Namen führten die Gäste, wahrscheinlich weil sie dem Tunnel noch unbekannt und noch nicht genügend entziffert waren. Auf eine reiche Vergangenheit konnte der Verein in dieser Hinsicht zurückblicken, denn in seinem Kreise waren – um nur einige zu erwähnen – Dichtungen zuerst an das Licht der Kritik getreten, wie »Grad aus dem Wirthshaus komm ich heraus« von dem  späteren Kultusminister von Mühler, »Der Page und die Königstochter« von Geibel, »Die Schlacht bei Waterloo« von Scherenberg, »L’Arabbiata« von Heyse und »Archibald Douglas« von Fontane. Um noch einige bekannte Namen aufzuzählen, die dem Vereine angehört hatten oder damals noch angehörten, so erwähne ich Strachwitz, Herlossohn, Kugler, Kaulbach, Schneider (Vorleser des Königs), Dahn, Gildemeister, v. Lepel, Hosemann, Taubert, Hummel, Küken, Woltmann, Rudolf Löwenstein, Lazarus, Friedberg (der spätere Minister) etc. Zur Zeit seiner Blüthe schweifte wohl jeder Mann von Bedeutung in Berlin, der zur Literatur in irgend einer Beziehung stand, durch den Kreis des Tunnels. Auch Storm verkehrte dort mehrfach während seines Potsdamer Aufenthaltes. Die Dichtungen, die zum Vortrag kamen, wurden »Späne« genannt und nach scharfer Kritik durch Abstimmung mit den Urtheilen: »sehr gut, gut, verfehlt, ziemlich, oder schlecht« gekennzeichnet.  Die höchste Anerkennung des Tunnels bestand in Akklamation, die durch allgemeines Scharren mit den Füssen ausgedrückt wurde. Dies kam ziemlich selten vor. Bei der Kritik nahm man kein Blatt vor den Mund, und für nervöse Poeten war dieser Verein kein Ort, denn unter Umständen sass man höllisch auf dem Verwunderungsstuhl. Gern erzählt wurde folgende kleine Geschichte: Jemand hatte ein ziemlich fades inhaltloses Lied vorgetragen und dumpfe Stille herrschte rings im Umkreise, denn niemand mochte mit dem Henkeramte beginnen. Endlich sagte eine mitleidige Seele: »Nun, zur Komposition vielleicht wohl geeignet!« – »Aber als Lied ohne Worte!« fiel sogleich ein anderer ein und die Sache war abgethan. Mir selbst ging es einmal ähnlich so erbärmlich mit einem dreistrophigen Liede, das einer schwachen Stunde seinen Ursprung verdankte. Zuerst kam einer und wollte die letzte Strophe als überflüssige Wiederholung beseitigt haben,  dann rieth ein anderer, auch die zweite zu entfernen, und schliesslich meldete sich ein dritter zum Wort und sagte mit behaglichem Schmunzeln: »Ganz ausserordentlich aber würde nach meiner Ansicht das Lied gewinnen, wenn sich der Dichter entschliessen könnte, nun auch noch die erste Strophe zu streichen.«

Solche Bosheit trat aber doch nur ausnahmsweise zu Tage, und wie schon gesagt, mir gefiel es in diesem Verein so gut, dass ich mich bald zur Aufnahme meldete und dann unter dem Namen »Frauenlob« eines der fleissigsten Mitglieder wurde. Im Jahrgang 1868/69 kamen allein von mir 68 »Späne« zur Beurtheilung.

An jedem dritten Dezember wurde das Stiftungsfest feierlich begangen durch eine Festsitzung mit darauf folgendem Abendessen. Dann erschienen die »Makulaturen«, das heisst die dichtenden Mitglieder des Tunnels sowohl wie die »Klassiker«, das heisst die nicht dichtenden, in höchster Galla, nämlich mit dem Tunnelorden  geschmückt, einer zinnernen Medaille, die an einem schottisch karrirtem Bande im Knopfloch getragen wurde. Die Festsitzung bestand der Hauptsache nach in der Erledigung der Immermanns-Konkurrenz. Das verstorbene Mitglied des Tunnels, der Kammergerichtsrath Wilhelm von Merckel, der den Vereinsnamen »Immermann« führte, hatte ein kleines Kapital gestiftet, dessen Zinsen an diesem Abend, dem glücklichen Sieger im Kampfe nicht der Wagen, aber doch der Gesänge zufielen. Die oft zahlreichen Gäste pflegten sich für diesen Kampf und die dabei vorkommenden Urtheile sehr zu interessiren und waren nur zuweilen etwas erstaunt über die Schärfe, mit der diese ausgesprochen wurden. Ja, wer mit einem schwächlichen Produkt in die Arena getreten war, hatte einen schlechten Stand und musste sich im Angesichte holder Frauen und lieblicher Mädchen sehr unangenehme Dinge sagen lassen. Ich gewann diesen Preis mehrere Male, fiel aber dafür auch zu  anderer Zeit wieder so ab, dass ich nachher genöthigt war, eine Flasche Wein extra zu trinken, um meine Beschämung wieder weg zu spülen. An dieser Konkurrenz betheiligte sich damals fast regelmässig der alte Christian Friedrich Scherenberg, der im Tunnel den Namen »Cook« führte. Wenn er den Preis gewann, blieb er wohl zum Abendessen, im anderen Falle wurde er sehr missmuthig und plötzlich war er verschwunden. [Fußnote]

Nach erledigter Arbeit kam dann das Vergnügen, nämlich das Abendessen mit allerlei gemeinschaftlich gesungenen Liedern, einer Reihe von vorgeschriebenen Trinksprüchen, natürlich alle in Versen und Aufführungen dramatischer oder musikalischer Art. Mit ganz besonderem  Vergnügen erinnere ich mich an eine Leistung des alten Emil Taubert, der im Tunnel »Dittersdorf« hiess und bekanntlich ein vortrefflicher Klavierspieler und Improvisator war. Der Pariser Rothschild und Rossini waren gerade im Jahre 1868 fast gleichzeitig gestorben und ein Tunnelmitglied hatte ihnen bei der Festtafel einen witzigen Nachruf gehalten, indem er allerlei Parallelen zwischen diesen beiden grossen R’s zog. Kaum war er damit fertig, so eilte Taubert an das Klavier, präludirte und begann eine entzückende Improvisation über die beiden Themen »Das Gold ist nur Chimäre« von Meyerbeer und »Wünsche ihnen wohl zu ruhen« aus dem »Barbier von Sevilla« Rossini’s. Wie er die beiden Melodien durcheinanderflocht, ja sie gleichzeitig brachte, war entzückend. Das war ein Nachruf, den sich die beiden berühmten Männer schon gefallen lassen konnten.

Ich kann wohl sagen, dass ich in formeller Hinsicht sehr viel im Tunnel gelernt  habe, denn obwohl die Beurtheilungen der meist älteren Herren ein wenig zur Pedanterie neigten, so gab es in dieser »Singschule« doch einige vortreffliche »Merker«, denen nichts entging. Dem Deutschen, der eine angeborene Neigung hat, den Inhalt über die Form zu stellen, ist eine formelle Schulung viel nöthiger als dem Romanen, der leicht in den entgegengesetzten Fehler verfällt.

In dieser Zeit seines herbstlichen Verblühens, da ich den Tunnel kennen lernte, war seine Hauptstütze und sein eigentlicher Mittelpunkt der Professor Friedrich Eggers, derselbe, der mich dort eingeführt hatte. Er war geboren am 27. November 1819 in Rostock und erst nachdem er vier und ein halbes Jahr in der Kaufmannslehre ausgehalten hatte, einer für ihn sehr harten Zeit, setzte er es durch, sich dem Studium widmen zu dürfen, machte nachträglich sein Abiturientenexamen und  studierte in Rostock, Leipzig, München und Berlin Geschichte und Archaeologie, schliesslich ganz zur Kunstwissenschaft übergehend. Als ich ihn kennen lernte, war er nahezu 48 Jahre alt und Professor der Kunstgeschichte an der Kunstakademie. Ausserdem hielt er Vorträge über denselben Gegenstand an der Bauakademie und an der Gewerbeakademie. Er war ein geborener Lehrer, wie ich wenige kennen gelernt habe. Er ging ganz in dieser Thätigkeit auf und wusste seine Zuhörer anzuregen, zu begeistern und mitzureissen. Seine Vortragskunst war ausserordentlich und lyrische Gedichte, die bekanntlich am schwersten zu rezitiren sind, habe ich von Niemandem besser gehört. Der Stil, in dem seine Vorträge ausgearbeitet waren, konnte nicht gerade vorzüglich genannt werden, denn in dem Bestreben möglichst viel zu sagen, hatte er eine Vorliebe für lange Perioden mit Einschachtelungen. In seinem Munde aber nahmen diese überladenen Sätze eine  wunderbare Klarheit an und indem er bald scharf betonte, bald schnell dahineilte, bald durch eingefügte Schachtelsätze blitzartige Seitenlichter auf den dargestellten Gegenstand warf, merkte man gar nicht, welch ein Bandwurm sich da eigentlich vor einem entrollte. Durch diese Vorträge hat er tausende von jungen Leuten gefördert und angeregt, besonders in der Gewerbeakademie, wo er am liebsten vortrug und die begeistertste Zuhörerschaft hatte. Wie sehr er sich zum Lehrer berufen fühlte, spricht er selber aus in dem schönen Gedichte »Lobgesang«:

»Nicht mehr quält mich (was meine Jugend mir trübte)
Grausame Wahl des Berufs – nun bin ich berufen
Zu der schönsten Lebensarbeit – zum Lehren!

Er hatte eine sehr bedeutente dichterische Begabung wie zwei Bände Gedichte [Fußnote]  beweisen, die aber erst nach seinem Tode herausgegeben wurden und leider die ihnen gebührende Achtung noch nicht gefunden haben. Unter den Gedichten befinden sich Lieder, Balladen und Sinngedichte, die einfach ersten Ranges sind.

Für eine wahre Perle habe ich immer ein kleines lyrisches Gedicht gehalten, das er einst in einer schlaflosen Nacht in Erinnerung an seine schweren Jugendschicksale aufschrieb. Es lautet:

Klage.

Hinter mir, wie ein böser Traum,
Liegt meine arme Jugendzeit.
Schüttle den Baum, schüttle den Baum,
Kein süss Erinnern Blüthen schneit.

Fallen so grosse Tropfen gleich,
Fallen wohl in das grüne Gras;
Tropfen vom Baum, Tropfen vom Zweig –
O, was sind meine Augen so nass!

Dieses Gedicht vereinigt Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit mit einander, es ist ein echt lyrischer Erinnerungsseufzer aus tiefster Brust. Ich glaube es hätte selbst vor den Augen Storms, der nur sehr wenige Gedichte unserer auf  diesem Gebiete so reichen Literatur als echt lyrisch gelten liess, Gnade gefunden. Ich besitze dies Lied in seiner ersten Abschrift. Diese ist auf ein Blatt Papier geklebt, das noch die schrägen Bleistiftzüge, der ersten im Dunkeln gemachten Niederschrift trägt. Ein anderes Lied handelt:

Vom Wiedersehn.
Alles können sie ergründen
In den Tiefen, auf den Höhn –
Wann sich Sterne wiederfinden,
Wo sich Welten wiedersehn.

Von des Frühlings Wiederkehren
Wissen sie wohl Tag und Stund,
Könnten selbst den Stern belehren,
Der den rechten Weg nicht fund.

Geht er doch mit goldnem Schimmer
Ewig durch des Himmels Haus,
Fehlet nie und nutzet nimmer
Die gewohnten Gleise aus.

Nur, wenn zwei sich trennen müssen
Und wenn Eins vom Andern geht:
Frag die weisesten, sie wissen
Nicht, wann ihr euch wiederseht.

Den die Ferne dir genommen,
Der allein dem Herzen frommt,
Weisst du auch, nun muss er kommen,
Weisst du doch nicht, ob er kommt.

Man beachte die wunderbare Schönheit der mittelsten Strophe. Durch diese einfachen Worte sieht man das Weltall nach urewigen Gesetzen kreisen. Dergleichen findet nur ein wirklicher Dichter.

Auch unter den Balladen und Romanzen ist sehr viel Schönes. Ich will nur noch von den Epigrammen eins hersetzen, das bekannt und berühmt geworden ist und in seiner schlagenden Knappheit das auch wohl verdient. Es stand an dem Siemering’schen Germania-Denkmal der Siegesstrasse von 1871 und lautet:

Germania.

Nährhaft
Und wehrhaft,
Voll Korn und Wein,
Voll Stahl und Eisen,
Sangreich,
Gedankreich,
Dich will ich preisen,
Vaterland mein!

Dies ist nach meiner Meinung überhaupt das beste Gedicht, das diese Jahre nationaler Erhebung hervorgebracht haben.

Auch unter den plattdeutschen »Tremsen«,  die von ihm und seinem Bruder Karl gemeinsam herrühren, finden sich besonders unter den erzählenden Dichtungen sehr schöne Stücke.

Friedrich Eggers wohnte damals, als ich ihn kennen lernte, in einem Hinterhause der Hirschel- (jetzt Königgrätzer-) Strasse drei Treppen hoch. Sein anziehendes Heim habe ich in Band I meiner Ges. Schr. in der »Sperlingsgeschichte« so ausführlich geschildert, dass ich das hier nicht wiederholen will. Dort war er für seine jungen und alten Freunde stets zu Hause, mit Rath und That zur Hand und zu gewünschter Belehrung stets bereit. So manchem jungen Künstler hat er die Wege geebnet und auch ich kann wohl sagen, dass er mein Leben in eine Bahn geleitet hat, die meine ganze Zukunft beeinflusste. Durch ihn wurde der junge obskure Student der Gewerbeakademie und spätere Fabriktechniker in Kreise eingeführt, die ihm sonst wohl verschlossen gewesen wären, durch ihn lernte ich seinen  in Berlin lebenden Bruder den Rostocker Senator a. D. Dr. Karl Eggers kennen, der mir, dem gänzlich unbekannten Poeten, den Verlag meiner fünf ersten kleinen Bücher vermittelte, in dessen Familie ich meine zukünftige Frau kennen lernte und in dessen freundlichem Hause auf dem Karlsbade 11 ich nun schon seit über vierzehn Jahren wohne.

Ich habe nie einen Mann gekannt, der in aller Welt so viele Freunde hatte wie Friedrich Eggers. Und darunter waren viele mit Namen von hohem Klange. Ich will nur von den Poeten einige herausgreifen wie z. B. Storm, Wilbrandt, Geibel, Heyse, Roquette, Fontane und Scheffel. Mit dem letzten, der ihm von der Studienzeit her befreundet war, stand er noch immer in Briefwechsel. An jedem 29. Februar setzten sich beide hin und schrieben einander über die Ereignisse der letzten vier Jahre. Dies bringt mich auf die vielen drolligen und komischen Züge, die ihm anhafteten. Seinen sonderbaren  Hass auf die Sperlinge habe ich in der bereits erwähnten »Sperlingsgeschichte« geschildert. Er war überhaupt kein Thierfreund.

Höchst merkwürdig war das ökonomische System, nach dem er seine Einnahmen und Ausgaben regelte. Er hatte einen Kasten mit vielen Fächern, die alle mit Ueberschriften versehen waren, wie z. B. Miethe, Kleider, Stiefel, Zigarren u.s.w. kurz alle möglichen Lebensbedürfnisse hatten jedes sein besonderes Fach. Im Laufe der Jahre hatte er sich nun vortreffliche Verhältnisszahlen ausgebildet, in denen alle diese Bedürfnisse zu einander stehen mussten und nach diesen Zahlen wurde jede Einnahme in die Fächer vertheilt. Betrug also z. B. eine Einnahme 300 Thaler und irgend eine der Sonderkassen war auf 5/100 davon angewiesen, so bekam sie in diesem Falle 15 Thaler. Ich habe ihn öfter über diesem Kasten sitzen sehen, grübelnd und mit Geld klimpernd. Zuweilen kam es nun vor, dass beim Bezahlen  einer grösseren Rechnung der Bestand einer dieser Kassen nicht reichte. Dann pumpte sie bei einer besser situirten und gab ihr einen Schuldschein wie z. B.: »Die Kleiderkasse schuldet der Stiefelkasse soundsoviel.« Diese Schuldscheine mussten bei neu fliessenden Einnahmen wieder ausgelöst werden.

Er beklagte es oft, dass die Sitten der heutigen Zeit es dem Manne verbieten farbige Stoffe zu tragen und ihn zu einem eintönigen Schwarz, Grau, Braun oder stumpfem Blau verurtheilen. Er liess es sich aber nicht nehmen, sein farbenfreudiges Auge wenigstens an bunten Westen von Seide, Sammet oder anderen Stoffen zu ergötzen und besass davon eine grosse Sammlung. Hatte einer seiner jüngeren Freunde sich irgendwie ausgezeichnet oder sonst sein Wohlgefallen erregt, so ging er wohl würdevoll an die Kommode, wo diese Sammlung aufbewahrt wurde, kramte ein wenig darin und schenkte ihm feierlichst eine Weste. Das war eine Art  von Ordensauszeichnung. Ich habe nie eine erhalten, vielleicht nur aus dem Grunde, weil sie mir doch nicht gepasst hätte, denn ich war viel grösser als er.

Friedrich Eggers ist nicht alt geworden. Im Mai des Jahres 1872 wurde er als Leiter der preussischen Kunstangelegenheiten ins Ministerium berufen, in welcher Stellung er, von Arbeit überlastet, sich nicht wohl fühlte und sich immer nach seiner geliebten Lehrthätigkeit zurücksehnte. Er starb noch im selben Jahre am 11. August, betrauert von Unzähligen.

Um diese Zeit hatte ich die Gewerbeakademie bereits längst verlassen und war im Herbst 1868 in die Wöhlert’sche Fabrik in der Chausseestrasse eingetreten, von wo aus ich nach anderthalb Jahren bei dem Neubau der Potsdamer Bahn eine Stellung annahm. In diesen und den folgenden Zeiten führte ich ein sonderbares Doppelleben, denn ich war ängstlich  bemüht, meine praktische Berufsthätigkeit und meine poetischen Liebhabereien scharf auseinander zu halten. Ich habe jahrelang mit Leuten auf einem Bureau zusammen gearbeitet, ohne dass diese eine Ahnung davon hatten, dass meine Mussezeit von ganz anderen Interessen ausgefüllt wurde. Ja, wenn es ihnen dann von anderer Seite mitgetheilt wurde und man ihnen die Beweise vorlegte, sträubten sie sich es zu glauben und sagten: »Das ist nicht möglich, Seidel ist doch so ein nüchterner Verstandesmensch und durch und durch Ingenieur.«

Ich hatte bei Wöhlert im Lokomotivbau gearbeitet, obwohl ich für dieses Sonderfach gerade am allerwenigsten Interesse hatte, bei der Potsdamer Bahn sollte ich nun ausser mit der Anlage der hydraulischen Hebevorrichtungen, die ich zum Theil schon fertig entworfen vorfand, mich auch mit Dach- und Brückenkonstruktionen beschäftigen, ein Fach, über das ich nie einen Vortrag gehört hatte  und von dem ich auch nicht das Allergeringste verstand. Und doch wurde dies fortan meine Hauptbeschäftigung. Zu Anfang verzagte ich fast und war schon kurz davor, die Stelle wieder aufzugeben, da ich mich ihr nicht gewachsen fühlte, doch allmählich unter der angestrengtesten Arbeit und nach einigen schlaflosen Nächten fing ich an klarer zu sehen und arbeitete mich in das neue, mir ganz fremde Gebiet ein. Das Beste lernt man eben vor den Aufgaben, die einem gestellt werden. Ich hatte das Glück, dass unter diesen sich neue und anregende befanden. So zum Beispiel die durch Wasserdruck betriebene Lokomotiv-Schiebebühne, die noch bis vor Kurzem in der Halle des Potsdamer Bahnhofes thätig war und den Augen der Nichtkenner so geheimnissvoll erschien, wenn sie, ohne dass man erkannte, wodurch die Bewegung geschah, auf einen Hebeldruck hin so spielend leicht mit der ungeheuren Last einer Lokomotive nebst Tender seitwärts abfuhr. Es war noch  kein Beispiel solcher durch Wasserdruck betriebener Anlage bekannt, und ich musste mir daher alles selber zurechtlegen. Später, als ich im Jahre 1872 auf das Neubau-Büreau der Berlin-Anhalter Bahn übersiedelte, begünstigte mich das Glück noch mehr, und ich erhielt eine Aufgabe, die in dieser Ausdehnung auf dem ganzen Kontinent noch nicht vorgekommen war, nämlich die Konstruktion des eisernen Daches der mächtigen Ankunftshalle, das eine Spannweite von 62 ½ Meter besitzt. Wem die Strasse »Unter den Linden« in Berlin bekannt ist, der kann sich davon eine Vorstellung machen, denn die Breite dieser Strasse beträgt 60 1/3 Meter. Ausser vielen anderen Dächern und Brücken entwarf ich dort auch die Anlage der hydraulischen Hebevorrichtungen für den Anhalter Bahnhof, darunter einen Aufzug, der bestimmt war, beladene Kohlenwagen vier Meter hoch zu heben oder zu senken, und machte privatim für die Stadtbahn ein Projekt für die Anlage ihrer hydraulischen  Gepäckaufzüge, das im Wesentlichen der Ausführung zu Grunde gelegt worden ist.

Nebenbei beschäftigte ich mich eifrig mit den poetischen Werken von Adalbert Stifter, Mörike, Storm, Keller, Swift, Dickens und Poe, und widmete meine Aufmerksamkeit auch den amerikanischen Humoristen Bret Harte, Mark Twain und Aldrich. Vom Jahre 1870 ab erschien ein kleines Büchlein nach dem andern, und ihre Zahl stieg auf sieben, ohne dass auch nur eins von ihnen Beachtung gefunden hätte.

Im Jahre 1875 verheirathete ich mich mit Agnes Becker, der Tochter eines Hamburger Kaufmannes, und bin jetzt Vater von drei Knaben. Ich erzählte zu Anfang, dass Moltke von meinem Urgrossvater getauft wurde. Der greise Feldmarschall hat den kleinen Kreis menschlicher Beziehung zu meiner Familie dadurch geschlossen, dass er bei meinem jüngsten Sohne Helmuth Gevatter stand. Als im  Jahre 1880 die Arbeiten bei der Anhalter Bahn zu Ende gingen und sich mir in Berlin, das ich auf keinen Fall verlassen wollte, keine Aufgaben von ähnlicher Art darboten, gab ich meine Stellung auf, um mich fortan ausschliesslich dichterischen Arbeiten zu widmen. Täuschungen und Widerwärtigkeiten, Gleichgültigkeit und Ablehnung sind mir in reichem Masse zu Theil geworden, den Muth und die Hoffnung auf den endlichen Sieg meiner Sache liess ich mir aber niemals rauben. Vom Jahre 1882 ab gingen meine Schriften allmählich in den Verlag des feinsinnigen Leipziger Verlegers Liebeskind über, aber erst nach sechsjähriger unermüdlicher, von manchen Verlusten seinerseits begleiteter Arbeit begann er den Lohn für seine aufopfernde Thätigkeit zu finden.

Ich darf mich jetzt der freudigen Empfindung hingeben, dass überall in Deutschland und auch in Amerika, ja überall, wo Deutsche in Mehrzahl beisammen wohnen, zahlreiche Freunde und Gönner meiner  Schriften entstanden sind, und für diese habe ich mich entschlossen, meine mehr als einfachen Lebensschicksale aufzuschreiben. Ich that dies mit Sorgfalt und Liebe, jedoch von mancherlei Zweifeln bedrückt, ob diese geringen Erlebnisse geeignet seien, irgend jemand Theilnahme einzuflössen, und schliesse darum mit den Worten des Dichters:

»Und wie der Mensch nur sagen kann: Hie bin ich,
Dass Freunde seiner schonend sich erfreun,
So kann auch ich nur sagen: Nimm es hin!«

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