Von Langres bis Besançon.

Ei, wie geputzt! das schöne junge Blut!
Wer soll sich nicht in euch vergaffen?

Faust.

Besançon wie schon angedeutet, erschien mir lediglich als Etappe zurück in die Freiheit. Ganz abgesehen von den direkten Zusicherungen Mr. Bourgauts, glaubte ich, nach einem gewissen ästhetischen Gesetz, die Lösung des Konflikts innerhalb der nächsten 24 Stunden erwarten zu müssen. Mein Leben hatte mir bis dahin immer den Gefallen gethan, sich nach künstlerischen Prinzipien abzurunden, derart, daß ich nicht nur Exposition, Schürzung und Lösung des Knotens jederzeit bequem verfolgen, sondern auch in einem gewissen Verwickelungsstadium genau vorhersagen konnte: nun kommt noch das, dann dämmert es wieder und dann wird es Tag. So, guter Dinge, stand ich auch vor diesem Erlebniß. Der dritte Akt, der tragisch werden wollte, schien mir mit allen Fährlichkeiten überwunden, selbst der vierte Akt (die Tante und der Taubenbraten) lag glorreich hinter mir und ich blickte auf Besançon wie auf ein bloßes Schlußtableau, in dem, nach dem Vorbilde des Fürsten, der plötzlich seinen Stern zeigt und alles glücklich macht, ein alter wohlwollender General auftreten und mir sagen würde: »Mr. F. wir beklagen die Ungelegenheiten, die wir Ihnen gemacht haben; Sie sind ein lieber Mensch; reisen Sie glücklich.« Es ging aber diesmal alles verquer; von regelrechter Entwicklung keine Rede. Immer neues Wirrsal. Erst als ich ganz resignirt war, wurd’ es besser.

Ich fahre jetzt in Darstellung meiner Erlebnisse fort. Sechs Uhr früh am anderen Morgen trat ich in den Hof des Gefängnisses; die Gensdarmen warteten schon. Ein kurzer Abschied; dann ging es im Geschwindschritt bis an den Bahnhof. Diesmal bergab. Die frühe Morgenstunde sicherte einigermaßen vor der Zudringlichkeit der Bevölkerung.

Es war naßkalt; ein heftiger Regen hatte erst gegen Morgen aufgehört; alle Thüren des Wartesaals standen offen. Ich fand hier Gesellschaft, die gleich mir ins Land hinein transportirt werden sollte, aber nicht nach Besançon. Einer von ihnen war ein gefangener Unteroffizier vom 32. Regiment (Meiningen). Wir fröstelten alle, die Gensdarmen in ihren Mänteln nicht ausgenommen. Nach etwa halbstündigem Warten setzten wir uns in ein Coupé (immer 2. Klasse) und fuhren südwärts. Ich fragte, ob ich mich mit meinem Landsmann in deutscher Sprache unterhalten könne, was ohne Weiteres zugestanden wurde. In welche Lebensschicksale man in solchen Zeiten Einblick gewinnt! Dieser gefangene Unteroffizier, seines Zeichens eigentlich ein kleiner Kaufmann aus Cöslin, war 24 Jahre alt und seit drei Jahren verheirathet. Mit dem Moment seiner Einberufung hatte er seinen Kramladen geschlossen und seine Frau den Schwiegereltern zurückgeschickt; er selbst war zum 32. Regiment beordert worden. Bei Wörth am Knie verwundet, hatte er nach seiner Wiederherstellung sich mit einigen Kameraden durchzuschlagen und die preußischen Marschlinien wieder zu gewinnen gesucht, war aber auf diesem Wege »beim Absuchen eines Dorfes« (denn die armen Kerle hatten nichts) von Franctireurs umstellt und nach kurzem Kampf wobei ihm die linke Hand zerschmettert wurde, als »Marodeur« eingefangen worden. Da saß er mir nun gegenüber, keinen Pfennig in der Tasche, blass, rothblond, mager, ein krankes Eichkätzchen, nur weniger warm bekleidet. Er hatte nichts als seinen Waffenrock, seine zerschossene Hand und eine Photographie seiner Frau, die er mir zeigte. Ich gab ihm etwas Geld, was er anfangs nicht nehmen wollte, »er brauche nichts, allabendlich werde er in ein französisches Hospital abgeliefert, wo ihn die »Schwestern« bis diesen Tag gütig gepflegt und verbunden hätten.« Es kam kein Klagelaut über seine Lippen; man transportirte ihn nach Marseille. »Da ist es wärmer« setzte er hinzu, während ihn die Morgenfrische kalt überlief.

Mein Gespräch mit dem landsmännischen Unteroffizier mochte eine Viertelstunde gedauert haben; es war nun Zeit mich meinen eigentlich Begleitern zu widmen. Sie ließen mir auch keine Wahl; namentlich der eine, ein alter Chasseur d’Afrique, der 20 Jahre in Algier gewesen war, bemächtigte sich meiner. Wie ein Sturzbach brach es über mich herein. Wer dabei geneigt sein möchte anzunehmen, daß solche Passivität, solch bloßes Stillhalten, zu dem ich mich verurtheilt sah, am Ende nicht als große Anstrengung betrachtet werden könne, der irrt. Ein taubes, theilnahmsloses über sich ergehen lassen wird von dem Sprecher sehr bald als solches erkannt und als persönliche Beleidigung empfunden; es handelte sich also für mich darum, immer auf dem qui vive zu sein und jeden Augenblick zu wissen, was obenauf schwamm. Ich wurde ganz erschöpft und mit eigenthümlichen Empfindungen gedachte ich der Strachwitz’schen Douglas-Ballade.

Sie ritten vierzig Meilen fast
Und sprachen Worte nicht vier.

Beneidenswerther Douglas! Wir hatten noch nicht vier Meilen gemacht und waren längst in die Tausende hinein.

Endlich heuchelte ich Schlaf, schloß mit krampfhafter Gewalt die Augen, als vermöcht’ ich durch gesteigertes Zudrücken auch eine größere Garantie der Ruhe zu gewinnen, und rasselte nun in wachen Träumen ins Land hinein. Etwa halben Weges erreichten wir Gray, einen größeren Ort, wo angehalten wurde. Es gab ein wirres Durcheinander, dem ich mich, durch Ausharren auf meinem Platze, zu entziehen suchte; aber ich sollte nichtsdestoweniger in die bunte Scene, als eine Art Mitspieler, hineingezogen werden. Das Coupé stand offen, Hunderte, die ein Unterkommen suchten, starrten hinein und verschwanden wieder, sobald sie die Plätze belegt oder besetzt sahen, bis plötzlich aus einer dieser auf und ab wogenden Gruppen ein herzliches Lachen und zugleich die Worte zu mir herklangen: Bon jour, Monsieur; vous souvenez-vous de Domrémy? Einen Augenblick, weil ich das Wort »Domremy« nicht deutlich gehört und ohne dies Wort keinen Schlüssel zum Verständnis hatte, starrte ich wie verwirrt in die beständig grüßende und kopfnickende Soldatengruppe hinein, bis es mir endlich wie Schuppen von den Augen fiel. Der Vorderste, in rother Schärpe und Hahnenfeder war einer jener Herren, die meine Verhaftung vor dem Hause der »Pucelle« herbeigeführt, hinterher aber freilich die Rechnung quitt machend, durch ihren Beistand mich vor den Insulten des Dorfpöbels gerettet hatten. Gerade eine Woche war seitdem vergangen. Die ganze Franctireursschaft von Domremy zog jetzt südwärts, um sich dem großen, unter Garibaldi zu bildenden Freicorps anzuschließen. Unser Wiederzusammentreffen, so weit von dem Schauplatz unserer ersten Begegnung entfernt, weckte allgemeine Heiterkeit, auch bei denen, die blos flüchtig davon hörten, und alles drängte herbei, um die augenblickliche Bahnhofs-Sehenswürdigkeit von Gray wie einen alten Bekannten zu grüßen.

Hier in Gray ging auch der 32er Unteroffizier auf eine andere Bahnlinie über; wir anderen fuhren, unter Beschreibung einer Curve, zunächst auf Auxonne zu. Dies ist abermals ein Kreuzungspunkt; wir mußten die Wagen wechseln und hatten eine halbe Stunde Zeit, um ein kleines Dejeuner zu bestellen. Ein interessanteres Frühstück hab’ ich all mein Lebtag nicht eingenommen. Es traf sich, daß wir unter den Ersten im Wartesalon waren, also einen guten Platz und einen Imbiß erhalten konnten, eh’ der Rest, der, von einer Seitenlinie her, ziemlich gleichzeitig mit uns eintraf, seinen Sturm auf das Büffet ausführen konnte. Es waren etwa 500 Soldaten, die sich alle auf Dijon, Belfort und Besançon zu dirigirten. Wenn ich sage 500 Soldaten, so giebt dies freilich eine nur sehr unvollkommene Vorstellung von dem »Wallenstein’s Lager«, das sich auf 10 Minuten hier in Scene setzte. Theaterhaft bunt drängten sich Linie, Gardes mobiles und Legionaire; die Hauptmasse bildeten die Franctireurs. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne immer wieder an einen lesenswerthen Aufsatz Hugo v. Blombergs zu denken: »Ueber das Theatralische im französischen Volkscharakter.« Welche natürliche Begabung sich zurecht zu machen, sich zu drapiren und ornamentiren! Es war nicht Einer unter ihnen, von dem man nicht hätte sagen können: seht, welch ein Bild! Bei jedem ein Ueberschuß von Roth, aber immer kleidsam, als Gürtel, Schärpe, Aufschlag. Viele hatten ein Gefühl davon, wie hübsch sie aussahen, und schritten an dem breiten Pfeilerspiegel des Wartesalons nie vorüber, ohne einen Blick hineinzuthun und sich »befriedigend« zu finden. Alle Jahrgänge waren vertreten und neben rothbäckigen jungen Leuten, die kaum die Kinderschuhe ausgezogen, bewegten sich Weißköpfe, alte Troupiers, die ersichtlich froh waren, aus dem langweiligen Alltagsleben heraus und wieder in frisches Wasser hinein zu kommen. An Haß oder Hohn gegen den »Prussien«, als den sie mich natürlich sofort erkannten, war gar nicht zu denken; sie waren zu gutmüthig dazu, vielleicht auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Eine Frage aber drängte sich mir beständig auf: Wer regiert diese Truppe? Sie schienen absolut führerlos zu sein.

Nach halbstündigem Aufenthalt ging es weiter auf Besançon zu. Wir kamen bald in seine Nähe und fuhren gegen 2 Uhr in den weiten Kessel hinein, in dem die Stadt gelegen ist. Die Befestigungen derselben umgürten nicht unmittebar die Stadt, sondern sind auf den einschließenden Bergen gelegen. Bis zum Ausbruch des Krieges, vielleicht bis zur Kapitulation von Sedan, war »la Citadelle de Besançon« das eigentlich beherrschende Fort. Von dem Augenblick an aber, wo es feststand, daß der Krieg auch hier seinen Schauplatz suchen werde, mußte man sich wohl oder übel überzeugen, daß die Citadelle zwar die Stadt beherrsche, ihrerseits aber von den nahegelegenen Kuppen höherer Berge beherrscht werde. Man schritt denn auch sofort zur Befestigung und Armirung dieser eigentlich dominirenden Punkte und in diesem Augenblicke mag Besançon als eine der am besten befestigten Festungen des Landes gelten.

Der Weg vom Bahnhof bis zur Kommandantur war wieder so weit wie möglich; wir mußten durch die ganze Stadt hindurch. Ich habe Besançon nachher noch öfter passirt (beispielsweise wenn die Verhöre stattfanden) und ich fasse gleich an dieser Stelle zusammen, wie es sich mir überhaupt präsentirte. Daß es zur Hälfte aus Uhrmachern besteht (20,000) und als der eigentliche Konkurrenzort von Genf zu betrachten ist, setze ich als bekannt voraus. Die Stadt macht einen sehr guten Eindruck, wohl zumeist deshalb, weil sie einen bestimmten Charakter, ein Gesicht für sich hat. Alle charakteristischen Städte wirken viel anheimelnder, als die architektonisch-korrekten; ja die malerische Schönheit — ich erinnere nur an Kopenhagen — ist so entschieden siegreich über die bauliche, daß wir zuletzt jede Stadt schön nennen, die wie ein reizendes Bild uns berührt.

Als eine solche präsentirt sich auch Besançon. Seine Quaderhäuser, mit keinem anderen Façadenschmuck als einem Balkon oder einem Bogen am Fenster, sind freilich weder sonderlich originell, noch pittoresk; desto mehr jedoch sind es seine Kirchen. Vor allem die alte Kathedrale. Aber nicht sie allein. In der Mitte der Stadt erhebt sich ein moderner Bau, die Johannis- oder Magdalenenkirche. Ich bin, was den Namen angeht, meiner Sache nicht sicher. Desto sicherer steht das Bild vor meinem Auge. Pfeiler mit korinthischem Kapitell schaffen eine griechische Front, aus der zugeschrägt ein tumulusartiger Thurm aufwächst, der gewiß der Schrecken jedes geschulten Architekten ist. Aber nicht des Malers. Man verweilt mit Interesse bei dieser Baumeister-Laune und ein goldenes, weithin leuchtendes Kreuz, das aus Stäben reich geflochten wie eine Riesen-Filigranarbeit das Ganze bedeutungsvoll abschließt, adelt es und giebt ihm den kirchlichen Charakter.

Wir hatten endlich die Kommandantur, die hier den Namen »la Division« führt, erreicht und nahmen in einem Vorzimmer auf einem Armensünderbänkchen Platz. Ein beständiges Kommen und Gehen von Adjutanten und Ordonnanzen; so vergingen fast zwei Stunden. Die Gensdarmen, die nach ihrem Mittagbrod verlangten, wurden ungeduldig. Endlich erschien ein blasser Herr, dessen ausgearbeiteter, beinahe kahler Schädel in einem argen Größen-Mißverhältniß zu dem kleinen Gesichte stand. Die Augen waren klug und lebhaft. Er musterte mich scharf und rasch mit einem bloßen Streifblick, wie Leute das thun, die für das Beleidigende des Anstarrens eine feine Empfindung haben. Er überreichte dann dem Gensdarmerie-Brigadier mehrere Papiere; ich hörte meinen Namen und gleich darauf die ruhige Weisung: »à la Citadelle«.

 

WIRD FORTGESETZT

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