Unterm Birnbaum

Ei­ne Kri­mi­nal­ge­schich­te

Ers­tes Ka­pi­tel

Vor dem in dem gro­ßen und rei­chen Oder­bruch­dor­fe Tsche­chin um Mi­chae­li 20 er­öff­ne­ten Gast­haus und Ma­te­ri­al­wa­ren­ge­schäft von Abel Hr­ad­scheck (so stand auf ei­nem über der Tür an­ge­brach­ten Schild) wur­den Sä­cke, vom Haus­flur her, auf ei­nen mit zwei ma­gern Schim­meln be­spann­ten Bau­er­wa­gen ge­la­den. Ei­ni­ge von den Sä­cken wa­ren nicht gut ge­bun­den oder hat­ten klei­ne Lö­cher und Rit­zen, und so sah man denn an dem, was her­aus­fiel, daß es Raps­sä­cke wa­ren. Auf der Stra­ße ne­ben dem Wa­gen aber stand Abel Hr­ad­scheck selbst und sag­te zu dem eben vom Rad her auf die Deich­sel stei­gen­den Knecht: »Und nun vor­wärts, Ja­kob, und grü­ße mir Öl­mül­ler Quaas. Und sag ihm, bis En­de der Wo­che müßt ich das Öl ha­ben, Leist in Wriet­zen war­te schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so be­stel­le der Frau mei­nen Gruß und sei hübsch ma­nier­lich. Du weißt ja Be­scheid. Und weißt auch, Kätz­chen hält auf Kom­pli­men­te.«

Der als Ja­kob An­ge­re­de­te nick­te nur statt al­ler Ant­wort, setz­te sich auf den vor­ders­ten Raps­sack und trieb bei­de Schim­mel mit ei­nem schläf­ri­gen »Hüh« an, wenn über­haupt von An­trei­ben die Re­de sein konn­te. Und nun klap­per­te der Wa­gen nach rechts hin den Fahr­weg hin­un­ter, erst auf das Bau­er Orth­sche Ge­höft samt sei­ner Wind­müh­le (wo­mit das Dorf nach der Frank­fur­ter Sei­te hin ab­schloß) und dann auf die wei­ter drau­ßen am Oder­bruch-Damm ge­le­ge­ne Öl­müh­le zu. Hr­ad­scheck sah dem Wa­gen nach, bis er ver­schwun­den war, und trat nun erst in den Haus­flur zu­rück. Die­ser war breit und tief und teil­te sich in zwei Hälf­ten, die durch ein paar Holz­säu­len und zwei da­zwi­schen aus­ge­spann­te Hän­ge­mat­ten von­ein­an­der ge­trennt wa­ren. Nur in der Mit­te hat­te man ei­nen Durch­gang ge­las­sen. An dem Vor­flur lag nach rechts hin das Wohn­zim­mer, zu dem ei­ne Stu­fe hin­auf­führ­te, nach links hin aber der La­den, in den man durch ein gro­ßes, fast die hal­be Wand ein­neh­men­des Schie­be­fens­ter hin­ein­se­hen konn­te. Frü­her war hier die Ver­kaufs­stel­le ge­we­sen, bis sich die zum Vor­nehm­tun ge­neig­te Frau Hr­ad­scheck das Her­um­tram­peln auf ih­rem Flur ver­be­ten und auf Durch­bruch ei­ner rich­ti­gen La­den­tür, al­so von der Stra­ße her, ge­drun­gen hat­te. Seit­dem zeig­te die­ser Vor­flur ei­ne ge­wis­se Herr­schaft­lich­keit, wäh­rend der nach dem Gar­ten hin­aus­füh­ren­de Hin­ter­flur ganz dem Ge­schäft ge­hör­te. Sä­cke, Zi­tro­nen- und Ap­fel­si­nen­kis­ten stan­den hier an der ei­nen Wand ent­lang, wäh­rend an der an­dern über­ein­an­der­ge­schich­te­te Fäs­ser la­gen, Öl­fäs­ser, de­ren statt­li­che Rei­he nur durch ei­ne zum Kel­ler hin­un­ter­füh­ren­de Fall­tür un­ter­bro­chen war. Ein sorg­lich vor­ge­leg­ter Keil hielt nach rechts und links hin die Fäs­ser in Ord­nung, so daß die un­te­re Rei­he durch den Druck der oben­auf­lie­gen­den nicht ins Rol­len kom­men konn­te.

So war der Flur. Hr­ad­scheck selbst aber, der eben die schma­le, zwi­schen den Kis­ten und Öl­fäs­sern frei ge­las­se­ne Gas­se pas­sier­te, schloß, halb är­ger­lich, halb la­chend, die trotz sei­nes Ver­bo­tes mal wie­der of­fen­ste­hen­de Fall­tür und sag­te: »Die­ser Jun­ge, der Ede. Wann wird er sei­ne fünf Sin­ne bei­sam­men ha­ben!«

Und da­mit trat er vom Flur her in den Gar­ten.

Hier war es schon herbst­lich, nur noch As­tern und Re­se­da blüh­ten zwi­schen den Buchs­baum­ra­bat­ten, und ei­ne Hum­mel um­summ­te den Stamm ei­nes al­ten Birn­baums, der mit­ten im Gar­ten hart ne­ben dem brei­ten Mit­tel­stei­ge stand. Ein paar Möh­ren­bee­te, die sich, samt ei­nem schma­len, mit Kar­tof­feln be­setz­ten Acker­strei­fen, an eben die­ser Stel­le durch ei­ne Spar­gel­an­la­ge hin­zo­gen, wa­ren schon wie­der um­ge­gra­ben, ei­ne fri­sche Luft ging, und ei­ne schwarz­gel­be, der ne­be­n­an­woh­nen­den Wit­we Jeschke zu­ge­hö­ri­ge Kat­ze schlich, auf der Sper­lings­su­che, durch die schon hoch in Sa­men ste­hen­den Spar­gel­bee­te.

Hr­ad­scheck aber ach­te­te dar­auf nicht. Er ging viel­mehr rech­nend und wä­gend zwi­schen den Ra­bat­ten hin und kam erst zu Be­trach­tung und Be­wußt­sein, als er, am En­de des Gar­tens an­ge­kom­men, sich um­sah und nun die Rück­sei­te sei­nes Hau­ses vor sich hat­te. Da lag es, sau­ber und freund­lich, links die sich von der Stra­ße her bis in den Gar­ten hin­ein­zie­hen­de Ke­gel­bahn, rechts der Hof samt dem Kü­chen­haus, das er erst neu­er­dings an den La­den an­ge­baut hat­te. Der kaum vom Win­de be­weg­te Rauch stieg son­nen­be­schie­nen auf und gab ein Bild von Glück und Frie­den. Und das al­les war sein! Aber wie lan­ge noch? Er sann ängst­lich nach und fuhr aus sei­nem Sin­nen erst auf, als er, ein paar Schrit­te von sich ent­fernt, ei­ne gro­ße, durch ih­re Schwe­re und Rei­fe sich von selbst ab­lö­sen­de Mal­va­sier­bir­ne mit ei­gen­tüm­lich dump­fem Ton auf­klat­schen hör­te. Denn sie war nicht auf den har­ten Mit­tel­steig, son­dern auf eins der um­ge­gra­be­nen Möh­ren­bee­te ge­fal­len. Hr­ad­scheck ging dar­auf zu, bück­te sich und hat­te die Bir­ne kaum auf­ge­ho­ben, als er sich von der Sei­te her an­ge­ru­fen hör­te:

»Dag, Hr­ad­scheck. Joa, et wahrd nu Tied. De Mal­ve­sie­ren küm­men all von sül­wst.«

Er wand­te sich bei die­sem An­ruf und sah, daß sei­ne Nach­ba­rin, die Jeschke, de­ren klei­nes, et­was zu­rück­ge­bau­tes Haus den Blick auf sei­nen Gar­ten hat­te, von drü­ben her über den Him­beer­zaun kuck­te.

»Ja, Mut­ter Jeschke, ‚s wird Zeit«, sag­te Hr­ad­scheck. »Aber wer soll die Bir­nen ab­neh­men? Frei­lich wenn Ih­re Li­ne hier wä­re, die könn­te hel­fen. Aber man hat ja kei­nen Men­schen und muß al­les selbst ma­chen.«

»Na. Se heb­ben joa doch den Jun­gen, den Ede.«

»Ja, den hab ich. Aber der pflückt bloß für sich.«

»Dat sall woll sein«, lach­te die Al­te. »Een in ‚t Töpp­ken, een in ‚t Kröpp­ken.«

Und da­mit hum­pel­te sie wie­der nach ih­rem Hau­se zu­rück, wäh­rend auch Hr­ad­scheck wie­der vom Gar­ten her in den Flur trat.

Hier sah er jetzt nach­denk­lich auf die Stel­le, wo vor ei­ner hal­ben Stun­de noch die Raps­sä­cke ge­stan­den hat­ten, und in sei­nem Au­ge lag et­was, als wünsch er, sie stün­den noch am sel­ben Fleck oder es wä­ren neue statt ih­rer aus dem Bo­den ge­wach­sen. Er zähl­te dann die Fäs­ser­rei­he, rief, im Vor­über­ge­hen, ei­nen kur­zen Be­fehl in den La­den hin­ein und trat gleich da­nach in sei­ne ge­gen­über­ge­le­ge­ne Wohn­stu­be.

Die­se mach­te ne­ben ih­rem wohn­li­chen zu­gleich ei­nen ei­gen­tüm­li­chen Ein­druck, und zwar, weil al­les in ihr um vie­les bes­ser und ele­gan­ter war, als sich‘s für ei­nen Krä­mer und Dorf­ma­te­ria­lis­ten schick­te. Die zwei klei­nen So­fas wa­ren mit ei­nem hell­blau­en At­lasstoff be­zo­gen, und an dem Spie­gel­pfei­ler stand ein schma­ler Tru­meau, weiß­la­ckiert und mit Gold­leis­te. Ja, das in ei­nem Ma­ha­go­ni­rah­men über dem klei­nen Kla­vier hän­gen­de Bild (al­lem An­schei­ne nach ein Stich nach Clau­de Lor­rain) war ein Son­nen­un­ter­gang mit Tem­pel­trüm­mern und an­ti­ker Staf­fa­ge, so daß man sich füg­lich fra­gen durf­te, wie das al­les hier­her­kom­me. Pas­send war ei­gent­lich nur ein Steh­pult mit ei­nem Git­ter­auf­satz und ei­nem Guck­loch dar­über, mit Hil­fe des­sen man, über den Flur weg, auf das gro­ße Schie­be­fens­ter se­hen konn­te.

Hr­ad­scheck leg­te die Bir­ne vor sich hin und blät­ter­te das Kon­to­buch durch, das auf­ge­sch­la­gen auf dem Pul­te lag. Um ihn her war al­les still, und nur aus der halb of­fen­ste­hen­den Hin­ter­stu­be ver­nahm er den Schlag ei­ner Schwarz­wäl­der Uhr.

Es war fast, als ob das Tick­tack ihn stö­re, we­nigs­tens ging er auf die Tür zu, an­sch­ei­nend, um sie zu schlie­ßen; als er in­des hin­ein­sah, nahm er über­rascht wahr, daß sei­ne Frau in der Hin­ter­stu­be saß, wie ge­wöhn­lich schwarz, aber sorg­lich ge­klei­det, ganz wie je­mand, der sich auf Fi­gur­ma­chen und Toi­let­ten­din­ge ver­steht. Sie flocht eif­rig an ei­nem Kranz, wäh­rend ein zwei­ter, schon fer­ti­ger an ei­ner Stuhl­leh­ne hing.

»Du hier, Ur­sel! Und Krän­ze! Wer hat denn Ge­burts­tag?«

»Nie­mand. Es ist nicht Ge­burts­tag. Es ist bloß Ster­be­tag, Ster­be­tag dei­ner Kin­der. Aber du ver­gißt al­les. Bloß dich nicht.«

»Ach, Ur­sel, laß doch. Ich ha­be mei­nen Kopf voll Wun­der. Du mußt mir nicht Vor­wür­fe ma­chen. Und dann die Kin­der. Nun ja, sie sind tot, aber ich kann nicht trau­ern und kla­gen, daß sie‘s sind. Um­ge­kehrt, es ist ein Glück.«

»Ich ver­ste­he dich nicht.«

»Und ist nur zu gut zu ver­stehn. Ich weiß nicht aus noch ein und ha­be Sor­gen über Sor­gen.«

»Wor­über? Weil du nichts Rech­tes zu tun hast und nicht weißt, wie du den Tag hin­brin­gen sollst. Hin­brin­gen, sag ich, denn ich will dich nicht krän­ken und von Zeit tot­sch­la­gen sp­re­chen. Aber sa­ge selbst, wenn drü­ben die Wein­stu­be voll ist, dann fehlt dir nichts. Ach, das ver­damm­te Spiel, das ewi­ge Knö­cheln und Tem­peln. Und wenn du noch glück­lich spiel­test! Ja, Hr­ad­scheck, das muß ich dir sa­gen, wenn du spie­len willst, so spie­le we­nigs­tens glück­lich. Aber ein Wirt, der nicht glück­lich spielt, muß da­von­blei­ben, sonst spielt er sich von Haus und Hof. Und da­zu das Trin­ken, im­mer der schwe­re Un­gar, bis in die Nacht hin­ein.«

Er ant­wor­te­te nicht, und erst nach ei­ner Wei­le nahm er den Kranz, der über der Stuhl­leh­ne hing, und sag­te: »Hübsch. Al­les, was du machst, hat Schick. Ach, Ur­sel, ich woll­te, du hät­test bes­se­re Ta­ge.«

Da­bei trat er freund­lich an sie her­an und strei­chel­te sie mit sei­ner wei­ßen, flei­schi­gen Hand.

Sie ließ ihn auch ge­wäh­ren, und als sie, wie be­schwich­tigt durch sei­ne Lieb­ko­sun­gen, von ih­rer Ar­beit auf­sah, sah man, daß es ih­rer­zeit ei­ne sehr schö­ne Frau ge­we­sen sein muß­te, ja, sie war es bei­nah noch. Aber man sah auch, daß sie viel er­lebt hat­te, Glück und Un­glück, Lieb und Leid, und durch al­ler­lei schwe­re Schu­len ge­gan­gen war. Er und sie mach­ten ein hüb­sches Paar und wa­ren gleich­alt­rig, An­fang vier­zig, und ih­re Sprech- und Ver­kehrs­wei­se ließ er­ken­nen, daß es ei­ne Nei­gung ge­we­sen sein muß­te, was sie vor län­ger oder kür­zer zu­sam­men­ge­führt hat­te.

Der her­be Zug, den sie bei Be­ginn des Ge­sprächs ge­zeigt, wich denn auch mehr und mehr, und end­lich frag­te sie: »Wo drückt es wie­der? Eben hast du den Raps weg­ge­schickt, und wenn Leist das Öl hat, hast du das Geld. Er ist prompt auf die Mi­nu­te.«

»Ja, das ist er. Aber ich ha­be nichts da­von, al­les ist bloß Ab­schlag und Zins. Ich ste­cke tief drin und lei­der am tiefs­ten bei Leist selbst. Und dann kommt die Kra­kau­er Ge­schich­te, der Rei­sen­de von Ols­zew­ski-Gold­schmidt und Sohn. Er kann je­den Tag da­sein.«

Hr­ad­scheck zähl­te noch an­de­res auf, aber oh­ne daß es ei­nen tie­fe­ren Ein­druck auf sei­ne Frau ge­macht hät­te. Viel­mehr sag­te sie lang­sam und mit ge­dehn­ter Stim­me: »Ja, Wür­fel­spiel und Vo­gel­stel­len…«

»Ach, im­mer Spiel und wie­der Spiel! Glau­be mir, Ur­sel, es ist nicht so schlimm da­mit, und je­den­falls mach ich mir nichts draus. Und am we­nigs­ten aus dem Lot­to; ‚s ist al­les Tor­heit und weg­ge­wor­fen Geld, ich weiß es, und doch hab ich wie­der ein Los ge­nom­men. Und wa­rum? Weil ich her­aus will, weil ich her­aus muß, weil ich uns ret­ten möch­te.«

»So, so«, sag­te sie, wäh­rend sie me­cha­nisch an dem Kran­ze wei­ter­flocht und vor sich hin sah, als über­le­ge sie, was wohl zu tun sei.

»Soll ich dich auf den Kirch­hof be­glei­ten?« frug er, als ihn ihr Schwei­gen zu be­drü­cken an­fing. »Ich tu‘s gern, Ur­sel.«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Wa­rum nicht?«

»Weil, wer den To­ten ei­nen Kranz brin­gen will, we­nigs­tens an sie ge­dacht ha­ben muß.«

Und da­mit er­hob sie sich und ver­ließ das Haus, um nach dem Kirch­hof zu ge­hen.

Hr­ad­scheck sah ihr nach, die Dorf­stra­ße hin­auf, auf de­ren ro­ten Dä­chern die Herbst­son­ne flim­mer­te. Dann trat er wie­der an sein Pult und blät­ter­te.

Zwei­tes Ka­pi­tel

Ei­ne Wo­che war seit je­nem Ta­ge ver­gan­gen, aber das Spiel­glück, das sich bei Hrad­scheck ein­stel­len soll­te, blieb aus und das Lot­to­glück auch. Trotz al­le­dem gab er das War­ten nicht auf, und da ge­ra­de Lot­te­rie-Zieh­zeit war, kam das Vier­tel­los gar nicht mehr von sei­nem Pult. Es stand hier auf ei­nem Stän­der­chen, ganz nach Art ei­nes Fe­tisch, zu dem er nicht mü­de wur­de re­spekt­voll und bei­nah mit An­dacht auf­zu­bli­cken. Al­le Mor­gen sah er in der Zei­tung die Ge­winn-Num­mern durch, aber die sei­ne fand er nicht, trotz­dem sie un­ter ih­ren fünf Zah­len drei Sie­ben hat­te und mit sie­ben di­vi­diert glatt auf­ging. Sei­ne Frau, die wohl wahr­nahm, daß er litt, sprach ihm nach ih­rer Art zu, nüch­tern, aber nicht un­freund­lich, und drang in ihn, »daß er den Lot­te­rie­zet­tel we­nigs­tens vom Stän­der her­un­ter­neh­men mö­ge, das ver­drös­se den Him­mel nur, und wer der­glei­chen tä­te, krie­ge statt Ret­tung und Hil­fe den Teu­fel und sei­ne Sipp­schaft ins Haus. Das Los müs­se weg. Wenn er wirk­lich be­ten wol­le, so ha­be sie was Bes­se­res für ihn, ein Ma­ri­en­bild, das der Bi­schof von Hil­des­heim ge­weiht und ihr bei der Fir­me­lung ge­schenkt ha­be.«

Da­von woll­te nun aber der be­stän­dig zwi­schen Aber- und Un­glau­ben hin und her schwan­ken­de Hr­ad­scheck nichts wis­sen. »Geh mir doch mit dem Bild, Ur­sel. Und wenn ich auch woll­te, den­ke nur, wel­che Be­sche­rung ich hät­te, wenn‘s ei­ner merk­te. Die Bau­ern wür­den la­chen von ei­nem Dor­f­en­de bis ans an­de­re, selbst Orth und Igel, die sonst kei­ne Mie­ne ver­zie­hen. Und mit der Pas­tor-Freund­schaft wär‘s auch vor­bei. Daß er zu dir hält, ist doch bloß, weil er dir den ka­tho­li­schen Un­sinn aus­ge­trie­ben und ei­nen Platz im Him­mel, ja viel­leicht an sei­ner Sei­te, ge­won­nen hat. Denn mit mei­nem An­spruch auf Him­mel ist‘s nicht weit her.«

Und so blieb denn das Los auf dem Stän­der, und erst als die Zie­hung vor­über war, zer­riß es Hr­ad­scheck und streu­te die Schnit­zel in den Wind. Er war aber auch jetzt noch, all sei­nem spöt­tisch-über­le­ge­nen Ge­re­de zum Trotz, so schwach und aber­gläu­bisch, daß er den Schnit­zeln in ih­rem Flu­ge nach­sah, und als er wahr­nahm, daß ei­ni­ge die Stra­ße hin­auf bis an die Kir­che ge­weht wur­den und dort erst nie­der­fie­len, war er in sei­nem Ge­mü­te be­ru­higt und sag­te: »Das bringt Glück.«

Zu­gleich hing er wie­der al­ler­lei Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen nach, wie sie sei­ner Phan­ta­sie jetzt häu­fi­ger ka­men. Aber er hat­te noch Kraft ge­nug, das Netz, das ihm die­se Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen über­wer­fen woll­ten, wie­der zu zer­rei­ßen.

»Es geht nicht.«

Und als im sel­ben Au­gen­blick das Bild des Rei­sen­den, des­sen An­mel­dung er jetzt täg­lich er­war­ten muß­te, vor sei­ne See­le trat, trat er er­schreckt zu­rück und wie­der­hol­te nur so vor sich hin: »Es geht nicht.«

So war Mit­te Ok­to­ber her­an­ge­kom­men.

Im La­den gab‘s viel zu tun, aber mit­un­ter war doch ru­hi­ge Zeit, und dann ging Hrad­scheck ab­wech­selnd in den Hof, um Holz zu spel­len, oder in den Gar­ten, um ei­ne gu­te Sor­te Tisch­kar­tof­feln aus der Er­de zu neh­men. Denn er war ein Fein­schme­cker. Als aber die Kar­tof­feln her­aus wa­ren, fing er an, den schma­len Strei­fen Land, dar­auf sie ges­tan­den, um­zu­gra­ben. Über­haupt wur­de Gra­ben und Gar­ten­ar­beit mehr und mehr sei­ne Lust, und die mit dem Spa­ten in der Hand ver­brach­ten Stun­den wa­ren ei­gent­lich sei­ne glück­lichs­ten.

Und so beim Gra­ben war er auch heu­te wie­der, als die Jeschke, wie ge­wöhn­lich, an die die bei­den Gär­ten ver­bin­den­de He­ck­en­tür kam und ihm zu­sah, trotz­dem es noch früh am Ta­ge war.

»De Tüf­feln sinn joa nu rut, Hr­ad­scheck.«

»Ja, Mut­ter Jeschke, seit vor­ges­tern. Und war dies­mal ‚ne wah­re Freu­de; mit­un­ter zwan­zig an ei­nem Busch und al­le groß und ge­sund.«

»Joa, joa, wenn een‘s Glück heb­ben sall. Na, Se heb­ben‘t, Hr­ad­scheck. Se heb­ben Glück bi de Tüf­feln un bi de Mal­ve­sie­ren ook. I, Se mö­ten joa woll ‚n Schef­fel run­ner­pflückt hebb‘n.«

»O mehr, Mut­ter Jeschke, viel mehr.«

»Na, be­re­den Se‘t nich, Hr­ad­scheck. Nei, nei. Man sall nix be­re­den. Ook sein Glück nich.«

Und da­mit ließ sie den Nach­bar stehn und hum­pel­te wie­der auf ihr Haus zu.

Hr­ad­scheck aber sah ihr är­ger­lich und ver­le­gen nach. Und er hat­te wohl Grund da­zu. War doch die Jeschke, so freund­lich und zu­tu­lich sie tat, ei­ne schlim­me Nach­bar­schaft und quack­sal­ber­te nicht bloß, son­dern mach­te auch sym­pa­the­ti­sche Ku­ren, be­sprach Blut und wuß­te, wer ster­ben wür­de. Sie sah dann die Nacht vor­her ei­nen Sarg vor dem Ster­be­hau­se stehn. Und es hieß auch, »sie wis­se, wie man sich un­sicht­bar ma­chen kön­ne«, was, als Hr­ad­scheck sie sei­ner­zeit da­nach ge­fragt hat­te, halb von ihr be­strit­ten und dann halb auch wie­der zu­ge­stan­den war. »Sie wis­se es nicht; aber das wis­se sie, daß frisch aus­ge­las­se­nes Lamm­talg gut sei, ver­steht sich, von ei­nem un­ge­bo­re­nen Lamm und als Licht über ei­nen ro­ten Woll­fa­den ge­zo­gen; am bes­ten aber sei Farn­kraut­sa­men in die Schu­he oder Stie­fel ge­schüt­tet.« Und dann hat­te sie herz­lich ge­lacht, wp­text­kör­per-ein­rü­ckung” style=”mar­gin-left: 0.02cm; li­ne-height: 150%; text-align: ju­sti­fy;” da­ta-mce-style=”mar­gin-left: 0.02cm; li­ne-height: 150%; text-align: ju­sti­fy;”>Und sol­che Furcht be­schlich ihn auch heu­te wie­der. Als er sie, nach dem Mor­gen­ge­plau­der über die »Tüf­feln« und die »Mal­ve­sie­ren«, in ih­rem Hau­se ver­schwin­den sah. Er wie­der­hol­te sich je­des ih­rer Wor­te: »Wenn een‘s Glück heb­ben sall. Na, Se heb­ben‘t joa, Hr­ad­scheck. Awers be­re­den Se‘t nich.« Ja, so wa­ren ih­re Wor­te ge­we­sen. Und was war mit dem al­lem ge­meint? Was soll­te dies ewi­ge Re­den von Glück und wie­der Glück? War es Neid, oder wuß­te sie‘s bes­ser? Hat­te sie doch viel­leicht mit ih­rem Ho­kus­po­kus ihm in die Kar­ten ge­kuckt?

Wäh­rend er noch so sann, nahm er den Spa­ten wie­der zur Hand und be­gann rüs­tig wei­ter­zu­gra­ben. Er warf da­bei ziem­lich viel Er­de her­aus und war kei­ne fünf Schritt mehr von dem al­ten Birn­baum, auf den der Acker­strei­fen zu­lief, ent­fernt, als er auf et­was stieß, das un­ter dem Schnitt des Ei­sens zer­brach und au­gen­schein­lich we­der Wur­zel noch Stein war. Er grub al­so vor­sich­tig wei­ter und sah als­bald, daß er auf Arm und Schul­ter ei­nes hier ver­scharr­ten To­ten ge­sto­ßen war. Auch Zeu­gres­te ka­men zu­ta­ge, zer­schlis­sen und ge­bräunt, aber im­mer noch far­big und wohl­er­hal­ten ge­nug, um er­ken­nen zu las­sen, daß es ein Sol­dat ge­we­sen sein müs­se.

Wie kam der hier­her?

Hr­ad­scheck stütz­te sich auf die Krü­cke sei­nes Grab­scheits und über­leg­te. »Soll ich es zur An­zei­ge brin­gen? Nein. Es macht bloß Ge­klätsch. Und kei­ner mag ein­keh­ren, wo man ei­nen To­ten un­term Birn­baum ge­fun­den hat. Al­so bes­ser nicht. Er kann hier wei­ter lie­gen.«

Und da­mit warf er den Arm­kno­chen, den er aus­ge­gra­ben, in die Gru­be zu­rück und schüt­te­te die­se wie­der zu. Wäh­rend die­ses Zu­schüt­tens aber hing er all je­nen Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen nach, wie sie seit Wo­chen ihm im­mer häu­fi­ger ka­men. Ka­men und gin­gen. Heut aber gin­gen sie nicht, son­dern wur­den Plä­ne, die Be­sitz von ihm nah­men und ihn, ihm selbst zum Trotz, an die Stel­le bann­ten, auf der er stand. Was er hier zu tun hat­te, war ge­tan, es gab nichts mehr zu gra­ben und zu schüt­ten, aber im­mer noch hielt er das Grab­scheit in der Hand und sah sich um, als ob er bei bö­ser Tat er­tappt wor­den wä­re. Und fast war es so. Denn un­heim­lich ver­zerr­te Ge­stal­ten (und ei­ne da­von er selbst) um­dräng­ten ihn so faß­bar und leib­haf­tig, daß er sich wohl fra­gen durf­te, ob nicht an­de­re da wä­ren, die die­se Ge­stal­ten auch sä­hen. Und er lug­te wirk­lich nach der Zaun­stel­le hin­über. Gott sei Dank, die Jeschke war nicht da. Aber frei­lich, wenn sie sich un­sicht­bar ma­chen und so­gar To­te se­hen konn­te, To­te, die noch nicht tot wa­ren, wa­rum soll­te sie nicht die Ge­stal­ten sehn, die jetzt vor sei­ner See­le stan­den? Ein Grau­en über­lief ihn, nicht vor der Tat, nein, aber bei dem Ge­dan­ken, daß das, was erst Tat wer­den soll­te, viel­leicht in die­sem Au­gen­bli­cke schon er­kannt und ver­ra­ten war. Er zit­ter­te, bis er, sich plötz­lich auf­raf­fend, den Spa­ten wie­der in den Bo­den stieß.

»Un­sinn. Ein dum­mes al­tes Weib, das ge­ra­de klug ge­nug ist, noch Düm­me­re hin­ters Licht zu füh­ren. Aber ich will mich ih­rer schon weh­ren, ih­rer und ih­rer gan­zen To­ten­ku­cke­rei. Was ist es denn? Nichts. Sie sieht ei­nen Sarg an der Tür stehn, und dann stirbt ei­ner. Ja, sie sagt es, aber sagt es im­mer erst, wenn ei­ner tot ist oder kei­nen Atem mehr hat oder das Was­ser ihm schon ans Herz stößt. Ja, dann kann ich auch pro­phez­ein. Al­te He­xe, du sollst mir nicht wei­ter Sor­ge ma­chen. Aber Ur­sel! Wie bring ich‘s der bei? Da liegt der Stein. Und wis­sen muß sie‘s. Es müs­sen zwei sein…«

Und er schwieg. Bald aber fuhr er ent­schlos­sen fort: »Ah, bah, es wird sich fin­den, weil sich‘s fin­den muß. Not kennt kein Ge­bot. Und was sag­te sie neu­lich, als ich das Ge­spräch mit ihr hat­te? >Nur nicht arm sein… Ar­mut ist das schlimms­te.< Dar­an halt ich sie; da­mit zwing ich sie. Sie muß wol­len.«

Und so sp­re­chend, ging er, das Grab­scheit ge­wehr­über neh­mend, wie­der auf das Haus zu.

Drit­tes Ka­pi­tel

Als Hr­ad­scheck bis an den Schwell­stein ge­kom­men war, nahm er das Grab­scheit von der Schul­ter, lehn­te die Krü­cke ge­gen das am Hau­se sich hin­zie­hen­de Wein­spa­lier und wusch sich die Hän­de, sau­brer Mann, der er war, in ei­nem Kü­bel, drin die Dach­trau­fe mün­de­te. Da­nach trat er in den Flur und ging auf sein Wohn­zim­mer zu.

Hier traf er Ur­sel. Die­se saß vor ei­nem Näh­tisch am Fens­ter und war, trotz der frü­hen Stun­de, schon wie­der in Toi­let­te, ja noch sorg­li­cher und ge­putz­ter als an dem Ta­ge, wo sie die Krän­ze für die Kin­der ge­floch­ten hat­te. Das hoch­an­schlie­ßen­de Kleid, das sie trug, war auch heu­te schlicht und dun­kel­far­big (sie wuß­te, daß Schwarz sie klei­de­te), der blan­ke Le­der­gür­tel aber wur­de durch ei­ne Bron­ze­schnal­le von auf­fäl­li­ger Grö­ße zu­sam­men­ge­hal­ten, wäh­rend in ih­ren Ohr­rin­gen lan­ge bir­nen­för­mi­ge Bum­meln von ve­ne­zia­ni­scher Per­len­mas­se hin­gen. Sie wirk­ten an­spruchs­voll und stör­ten mehr, als sie schmück­ten. Aber für der­glei­chen ge­brach es ihr an Wahr­neh­mung, wie denn auch der mit Schild­patt aus­ge­leg­te Näh­tisch, trotz all sei­ner Ele­ganz, zu den bei­den hell­blau­en At­las­so­fas nicht recht pas­sen woll­te. Noch we­ni­ger zu dem wei­ßen Tru­meau. Links ne­ben ihr, auf dem Fens­ter­brett, stand ein Ar­beits­käst­chen, dar­in sie, ge­ra­de als Hrad­scheck ein­trat, nach ei­nem Fa­den such­te. Sie ließ sich da­bei nicht stö­ren und sah erst auf, als der Ein­tre­ten­de, halb scherz­haft, aber doch mit ei­nem An­flu­ge von Ta­del, sag­te: »Nun, Ur­sel, schon in Staat? Und nichts zu tun mehr in der Kü­che?«

»Weil es fer­tig wer­den muß.«

»Was?«

»Das hier.« Und da­bei hielt sie Hr­ad­scheck ein Samt­käpp­sel hin, an dem sie ge­ra­de näh­te. »We­nig mit Lie­be.«

»Für mich?«

»Nein. Da­zu bist du nicht fromm und, was du lie­ber hö­ren wirst, auch nicht alt ge­nug.«

»Al­so für den Pas­tor?«

»Ge­ra­ten.«

»Für den Pas­tor. Nun gut. Klei­ne Ge­schen­ke er­hal­ten die Freund­schaft, und die Freund­schaft mit ei­nem Pas­tor kann man dop­pelt brau­chen. Es gibt ei­nem solch An­se­hen. Und ich ha­be mir auch vor­ge­nom­men, ihn wie­der öf­ter zu be­su­chen und mit Ede sonn­tags um­schich­tig in die Kir­che zu ge­hen.«

»Das tu nur; er hat sich schon ge­wun­dert.«

»Und hat auch recht. Denn ich bin ihm ei­gent­lich ver­schul­det. Und ist noch da­zu der ein­zi­ge, dem ich gern ver­schul­det hin. Ja, du siehst mich an, Ur­sel. Aber es ist so. Hat er dich nicht auf den rech­ten Weg ge­bracht? Sa­ge selbst. Wenn Ec­ce­li­us nicht war, so steck­test du noch in dem al­ten Un­sinn.«

»Sprich nicht so. Was weißt du da­von? Ihr habt ja gar kei­ne Re­li­gi­on. Und Ec­ce­li­us ei­gent­lich auch nicht. Aber er ist ein gu­ter Mann, ei­ne See­le von Mann, und meint es gut mit mir und al­ler Welt. Und hat mir zum Her­zen ge­spro­chen.«

»Ja, das ver­steht er; das hat er in der Lo­ge ge­lernt. Er rührt ei­nen zu Trä­nen. Und nun gar erst die Wei­ber.«

»Und dann halt ich zu ihm«, fuhr Ur­sel fort, oh­ne der Un­ter­bre­chung zu ach­ten, »weil er ein ge­bil­de­ter Mann ist. Ein gu­ter Mann, und ein ge­bil­de­ter Mann. Und of­fen ge­stan­den, dar­an hin ich ge­wöhnt.«

Hr­ad­scheck lach­te. »Ge­bil­det, Ur­sel, das ist dein drit­tes Wort. Ich weiß schon. Und dann kommt der Göt­tin­ger Stu­dent, der dir ei­nen Ring ge­schenkt hat, als du vier­zehn Jahr alt warst (er wird wohl nicht echt ge­we­sen sein), und dann kommt vie­les nicht oder doch man­ches nicht… ver­fär­be dich nur nicht gleich wie­der…, und zu­letzt kommt der Hil­des­hei­mer Bi­schof. Das ist dein höchs­ter Trumpf, und was Vor­neh­me­res gibt es in der gan­zen Welt nicht. Ich weiß es seit lan­ge. Vor­nehm, vor­nehm. Ach, ich re­de nicht gern da­von, aber dei­ne Vor­nehm­heit ist mir teu­er zu stehn ge­kom­men.«

Ur­sel leg­te das Samt­käpp­sel aus der Hand, steck­te die Na­del hin­ein und sag­te, wäh­rend sie sich mit hal­ber Wen­dung von ihm ab- und dem Fens­ter zu­kehr­te: »Hö­re, Hrad­scheck, wenn du gu­te Ta­ge mit mir ha­ben willst, so sprich nicht so. Hast du Sor­gen, so will ich sie mit­tra­gen, aber du darfst mich nicht da­für ver­ant­wort­lich ma­chen, daß sie da sind. Was ich dir hun­dert­mal ge­sagt ha­be, das muß ich dir wie­der sa­gen. Du bist kein gu­ter Kauf­mann, denn du hast das Kauf­män­ni­sche nicht ge­lernt, und du bist kein gu­ter Wirt, denn du spielst schlecht oder doch nicht mit Glück und trinkst ne­ben­her dei­nen ei­ge­nen Wein aus. Und was da nach drü­ben geht, nach Neu-Le­win hin, oder we­nigs­tens ge­gan­gen ist« (und da­bei wies sie mit der Hand nach dem Nach­bar­dor­fe), da­von will ich nicht re­den, schon gar nicht, schon lan­ge nicht. Aber das darf ich dir sa­gen, Hr­ad­scheck, so steht es mit dir. Und an­statt dich zu dei­nem Un­recht zu be­ken­nen, sprichst du von mei­nen Kin­de­rei­en und von dem hoch­wür­di­gen Bi­schof, dem du nicht wert bist die Schuh­rie­men zu lö­sen. Und wirfst mir da­bei mei­ne Bil­dung vor.«

»Nein, Ur­sel.«

»Oder daß ich‘s ein biß­chen hübsch oder, wie du sagst, vor­nehm ha­ben möch­te.«

»Ja, das.«

»Al­so doch. Nun aber sa­ge mir, was hab ich ge­tan? Ich ha­be mich in den ers­ten Jah­ren ein­ge­schränkt und in der Kü­che ge­stan­den und ge­ba­cken und ge­bra­ten und des Nachts an der Wie­ge ge­ses­sen. Ich hin nicht aus dem Haus ge­kom­men, so daß die Leu­te dar­über ge­re­det ha­ben, die dum­me Gans drau­ßen in der Öl­müh­le na­tür­lich an der Spit­ze (du hast es mir selbst er­zählt), und ha­be je­den Abend vor ei­nem lee­ren Klei­der­schrank ge­stan­den und die höl­zer­nen Rie­gel ge­zählt. Und so sie­ben Jah­re, bis die Kin­der star­ben, und erst als sie tot wa­ren und ich nichts hat­te, dar­an ich mein Herz hän­gen konn­te, da hab ich ge­dacht, nun gut, nun will ich es we­nigs­tens hübsch ha­ben und ei­ne Kauf­manns­frau sein, so wie man sich in mei­ner Ge­gend ei­ne Kauf­manns­frau vor­stellt. Und als dann der Kon­kurs auf Schloß Hop­pen­ra­de kam, da hab ich dich ge­be­ten, dies biß­chen hier an­zu­schaf­fen, und das hast du ge­tan, und ich ha­be mich da­für be­dankt. Und war auch bloß in der Ord­nung. Denn Dank muß sein, und ein ge­bil­de­ter Mensch weiß es, und wird ihm nicht schwer. Aber all das, wor­über jetzt so­viel ge­re­det wird, als ob es wun­der was wä­re, ja, was ist es denn groß? Ei­gent­lich ist es doch nur alt­mo­disch, und die Sei­de reißt schon, trotz­dem ich sie hü­te wie mei­nen Aug­ap­fel. Und we­gen die­ser paar Sa­chen stöhnst du und hörst nicht auf zu kla­gen und ver­spot­test mich we­gen mei­ner Bil­dung und Fein­heit, wie du zu sa­gen be­liebst. Frei­lich bin ich fei­ner als die Leu­te hier, in mei­ner Ge­gend ist man fei­ner. Willst du mir ei­nen Vor­wurf dar­aus ma­chen, daß ich nicht wie die Pu­te, die Quaas, bin, die >mir< und >mich< ver­wech­selt und ei­gent­lich noch in den Fries­rock ge­hört und Lieb­schaf­ten­ha­ben für Bil­dung hält und sich >Kätz­chen< nen­nen läßt, ob­schon sie bloß ei­ne Kat­ze ist und ei­ne fal­sche da­zu? Ja, mein lie­ber Hr­ad­scheck, wenn du mir dar­aus ei­nen Vor­wurf ma­chen willst, dann hät­test du mich nicht neh­men sol­len, das wä­re dann das klügs­te ge­we­sen. Be­sin­ne dich. Ich bin dir nicht nach­ge­lau­fen, im Ge­gen­teil, du woll­test mich par­tout und hast mich be­schwo­ren um mein >Ja<. Das kannst du nicht be­strei­ten. Nein, das kannst du nicht, Hr­ad­scheck. Und nun dies ewi­ge >vor­nehm< und wie­der >vor­nehm<. Und wa­rum? Bloß weil ich ei­nen Tru­meau woll­te, den man wol­len muß, wenn man ein biß­chen auf sich hält. Und für ei­nen Spott­preis ist er fort­ge­gan­gen.«

»Du sagst Spott­preis, Ur­sel. Ja, was ist Spott­preis? Auch Spott­prei­se kön­nen zu hoch sein. Ich hat­te da­mals nichts und hab es von ge­borg­tem Gel­de kau­fen müs­sen.«

»Das hät­test du nicht tun sol­len, Abel, das hät­test du mir sa­gen müs­sen. Aber da ge­ni­er­te sich der wer­te Herr Ge­mahl und muß­te sich auch ge­nie­ren. Denn wa­rum war kein Geld da? We­gen der Per­son drü­ben. Al­te Lie­be ros­tet nicht. Ver­steht sich.«

»Ach Ur­sel, was soll das! Es nutzt uns nichts, uns un­se­re Ver­gan­gen­heit vor­zu­wer­fen.«

»Was meinst du da­mit? Was heißt Ver­gan­gen­heit?«

»Wie kannst du nur fra­gen? Aber ich weiß schon, das ist das al­te Lied, das ist Wei­ber­art. Ihr strei­tet eu­rem eig­nen Lieb­ha­ber die Lieb­schaft ab. Ur­sel, ich hät­te dich für klü­ger ge­hal­ten. So sei doch nicht so kurz von Ge­dächt­nis. Wie lag es denn? Wie fand ich dich da­mals, als du wie­der nach Hau­se kamst, krank und elend und mit dem Ste­cken in der Hand, und als der Al­te dich nicht auf­neh­men woll­te mit dei­nem Kind und du dann zu­frie­den warst mit ei­ner Schüt­te Stroh un­term Dach? Ur­sel, da hab ich dich ge­sehn, und weil ich Mit­leid mit dir hat­te, nein, nein, er­zür­ne dich nicht wie­der… weil ich dich lieb­te, weil ich ver­narrt in dich war, da hab ich dich bei der Hand ge­nom­men, und wir sind hier­her ge­gan­gen, und der Al­te drü­ben, dem du das Käpp­sel da nähst, hat uns zu­sam­men­ge­tan. Es tut mir nicht leid, Ur­sel, denn du weißt, daß ich in mei­ner Nei­gung und Lie­be zu dir der al­te hin, aber du darfst dich auch nicht aufs ho­he Pferd set­zen, wenn ich vor Sor­gen nicht aus noch ein weiß, und darfst mir nicht Vor­wür­fe ma­chen we­gen der Re­se drü­ben in Neu-Le­win. Was da hin­ging, glau­be mir, das war nicht viel und ei­gent­lich nicht der Re­de wert. Und nun ist sie lan­ge tot und un­ter der Er­de. Nein, Ur­sel, da­her stammt es nicht, und ich schwö­re dir‘s, das al­les hätt ich ge­konnt, aber der ver­damm­te Hoch­mut, daß es mit uns was sein soll­te, das hat es ge­macht, das ist es. Du woll­test hoch hin­aus und was Apar­tes ha­ben, da­mit sie sich wun­dern soll­ten. Und was ha­ben wir nun da­von? Da ste­hen die Sa­chen, und das Bau­ern­volk lacht uns aus.«

»Sie be­nei­den uns.«

»Nun gut, viel­leicht, oder we­nigs­tens, so­lang es vor­hält. Aber wenn das al­les ei­nes schö­nen Ta­ges fort ist?«

»Das darf nicht sein.«

»Die Ge­rich­te fra­gen nicht lan­ge.«

»Das darf nicht sein, sag ich. Al­les and­re. Nein, Hr­ad­scheck, das darfst du mir nicht an­tun, da nehm ich mir das Le­ben und geh in die Oder, gleich auf der Stel­le. Was Jam­mer und Elend ist, das weiß ich, das hab ich er­fah­ren. Aber ge­ra­de des­halb, ge­ra­de des­halb. Ich bin jetzt aus dem Jam­mer her­aus. Gott sei Dank, und ich will nicht wie­der hin­ein. Du sagst, sie la­chen über uns, nein, sie la­chen nicht; aber wenn uns was pas­sier­te, dann wür­den sie la­chen. Und daß dann >Kätz­chen‘ ih­ren Spaß ha­ben und sich über uns lus­tig ma­chen soll­te, oder gar die gu­te Miet­zel, die noch im­mer in ih­rem schwar­zen Kopf­tuch steckt und nicht mal weiß, wie man ei­nen Hut oder ei­ne Hau­be ma­nier­lich auf­setzt, das trüg ich nicht, da möcht ich gleich tot um­fal­len. Nein, nein, Hr­ad­scheck, wie ich dir schon neu­lich sag­te, nur nicht arm. Ar­mut ist das schlimms­te, schlim­mer als der Tod, schlim­mer als…«

Er nick­te. »So denk ich auch, Ur­sel. Nur nicht arm. Aber komm in den Gar­ten! Die Wän­de hier ha­ben Oh­ren.«

Und so gin­gen sie hin­aus. Drau­ßen aber nahm sie sei­nen Arm, hing sich, wie zärt­lich, an ihn und plau­der­te, wäh­rend sie den Mit­tel­steig des Gar­tens auf und ab schrit­ten. Er sei­ner­seits schwieg und über­leg­te, bis er mit ei­nem Ma­le ste­hen­blieb und, das Wort neh­mend, auf die wie­der zu­ge­schüt­te­te Stel­le ne­ben dem Birn­baum wies. Und nun wur­den Ur­sels Au­gen im­mer grö­ßer, als er rasch und leb­haft al­les, was ge­sche­hen müs­se, her­zu­zäh­len und aus­ein­an­der­zu­set­zen be­gann.

»Es geht nicht. Schlag es dir aus dem Sinn. Es ist nichts so fein ge­spon­nen…«

Er aber ließ nicht ab, und end­lich sah man, daß er ih­ren Wi­der­stand be­siegt hat­te. Sie nick­te, schwieg, und bei­de gin­gen auf das Haus zu.

Vier­tes Ka­pi­tel

Der Ok­to­ber ging auf die Nei­ge, trotz­dem aber wa­ren noch schö­ne war­me Ta­ge, so daß man sich im Frei­en auf­hal­ten und die Hr­ad­scheck­sche Ke­gel­bahn be­nut­zen konn­te. Die­se war in der gan­zen Ge­gend be­rühmt, weil sie nicht nur ein gu­tes waa­ge­rech­tes Lauf­brett, son­dern auch ein be­que­mes Ke­gel­hä­us­chen und in die­sem zwei von al­ler Welt be­wun­der­te bunt­gla­si­ge Kuck­fens­ter hat­te. Das gel­be sah auf den Gar­ten hin­aus, das blaue da­ge­gen auf die Dorf­stra­ße samt dem da­hin­ter sich hin­zie­hen­den Oder­damm, über den hin­weg dann und wann der Fluß selbst auf­blitz­te. Drü­ben am an­dern Ufer aber ge­wahr­te man ei­nen lan­gen Schat­ten­strich: die neu­mär­ki­sche Hei­de.

Es war halb vier, und die Ku­geln roll­ten schon seit ei­ner Stun­de. Der zu­gleich Kell­ner­di­ens­te ver­rich­ten­de La­den­jun­ge lief hin und her, mal Kaf­fee, mal ei­nen Ko­gnak brin­gend, am öf­tes­ten aber neu­ge­stopf­te Ton­pfei­fen, aus de­nen die Bau­ern rauch­ten und die Wölk­chen in die kla­re Herbst­luft hin­ein­blie­sen. Es wa­ren ih­rer fünf, zwei aus dem be­nach­bar­ten Kie­nitz her­über­ge­kom­men, der Rest ech­te Tsche­chi­ner: Öl­mül­ler Quaas, Bau­er Miet­zel und Bau­er Ku­ni­cke. Hr­ad­scheck, der, von Be­rufs we­gen, mit dem Schreib- und Re­chen­we­sen am bes­ten Be­scheid wuß­te, saß vor ei­ner gro­ßen schwar­zen Ta­fel, die die Form ei­nes No­ten­pul­tes hat­te.

»Ku­ni­cke steht wie­der am bes­ten.« – »Na­tür­lich, ge­gen den kann kei­ner.« – »Drei­mal acht um den Kö­nig.« Und nun be­gann ein Sich-Über­bie­ten in Ke­gel­wit­zen. »Er kann he­xen«, hieß es. »Er hockt mit der Jeschke zu­sam­men.« – »Er spielt mit fal­schen Kar­ten.« – »Wer so­viel Glück hat, muß Stra­fe zah­len.« Der, der das von den »fal­schen Kar­ten« ge­sagt hat­te, war Bau­er Miet­zel, des Öl­mül­lers Nach­bar, ein klei­nes aus­ge­trock­ne­tes Männ­chen, das mehr ei­nem Lei­ne­we­ber als ei­nem Bau­ern glich. War aber doch ein rich­ti­ger Bau­er, in des­sen Fa­mi­lie nur von al­ter Zeit her der Schwind war.

»Wer schiebt?«

»Hr­ad­scheck.«

Die­ser klet­ter­te jetzt von sei­nem Schrei­ber­sitz und war­te­te ge­rad auf sei­ne die Lat­ten­rin­ne lang­sam her­un­ter­kom­men­de Lieb­lings­ku­gel, als der Land­post­bo­te durch ein auf die Stra­ße füh­ren­des Tür­chen ein­trat und ei­nen gro­ßen Brief an ihn ab­gab; Hr­ad­scheck nahm den Brief in die Lin­ke, pack­te die Ku­gel mit der Rech­ten und setz­te sie kräf­tig auf, zu­gleich mit Span­nung dem Lauf der­sel­ben fol­gend.

»Sechs!« schrie der Ke­gel­jun­ge, ver­bes­ser­te sich aber so­fort, als nach ei­ni­gem Wa­ckeln und Be­sin­nen noch ein sie­ben­ter Ke­gel um­fiel.

»Sie­ben al­so!« tri­um­phier­te Hr­ad­scheck, der sich bei dem Wurf au­gen­schein­lich was ge­dacht hat­te.

»Sie­ben geht«, fuhr er fort. »Sie­ben ist gut. Ku­ni­cke, schie­be für mich und schreib an. Will nur das Por­to zah­len.«

Und da­mit nahm er den Brief­trä­ger un­term Arm und ging mit ihm von der Gar­ten­sei­te her ins Haus.

Das Ke­geln setz­te sich mitt­ler­wei­le fort, wer aber Spiel und Gäs­te ver­ges­sen zu ha­ben schien, war Hr­ad­scheck. Ku­ni­cke hat­te schon zum drit­ten Ma­le statt sei­ner ge­scho­ben, und so wur­de man end­lich un­ge­dul­dig und riß hef­tig an ei­nem Klin­gel­draht, der nach dem La­den hin­ein­führ­te.

Der Jun­ge kam auch.

»Hr­ad­scheck soll wie­der an­tre­ten, Ede. Wir war­ten ja. Mach flink!«

Und sieh, gleich dar­nach er­schien auch der Ge­ru­fe­ne, hoch­rot und auf­ge­regt, aber, al­lem An­schei­ne nach, mehr in hei­te­rer als ver­drieß­li­cher Er­re­gung. Er ent­schul­dig­te sich kurz, daß er ha­be war­ten las­sen, und nahm dann oh­ne wei­te­res ei­ne Ku­gel, um zu schie­ben.

»Aber du bist ja gar nicht dran!« schrie Ku­ni­cke. »Him­mel­wet­ter, was ist denn los? Und wie der Kerl aus­sieht! Ent­we­der ist ihm ei­ne Schwie­ger­mut­ter ge­stor­ben, oder er hat das Gro­ße Los ge­won­nen.«

Hr­ad­scheck lach­te.

»Nun, so re­de doch. Oder sollst du nach Ber­lin kom­men und ein paar neue Raps­pres­sen ein­rich­ten? Hast ja neu­lich un­serm Quaas erst vor­ge­rech­net, daß er nichts von der Öl-Pres­se ver­stün­de.«

»Hab ich, und ist auch so. Nichts für un­gut, ihr Her­ren, aber der Bau­er klebt im­mer am al­ten.«

»Und die Gast­wir­te sind im­mer fürs Neue. Bloß daß nicht viel da­bei her­aus­kommt.«

»Wer weiß?«

»Wer weiß? Hö­re, Hr­ad­scheck, ich fan­ge wirk­lich an zu glau­ben… Oder is es ‚ne Erb­schaft?«

»Is so was. Aber nicht der Re­de wert.«

»Und von wo­her denn?«

»Von mei­ner Frau Schwes­ter.«

»Bist doch ein Glücks­kind. Ewig sind ihm die ge­brat­nen Tau­ben ins Maul ge­flo­gen. Und aus dem Hil­des­heim­schen, sagst du?«

»Ja, da so rum.«

»Na, da wird Reetz­ke drü­ben froh sein. Er war schon un­ge­dul­dig.«

»Weiß; er woll­te kla­gen. Die Neu-Le­wi­ner sind im­mer ängst­lich und Pfen­nig­fuch­ser und kön­nen nicht war­ten. Aber er wird‘ s nu wohl ler­nen und sich an­ders be­sin­nen. Mehr sag ich nicht und paßt sich auch nicht. Man soll den Mund nicht voll neh­men. Und was ist am En­de solch biß­chen Geld?«

»Geld ist nie ein biß­chen. Wie­viel Nul­len hat‘s denn?«

»Ach, Kin­der, re­det doch nicht von Nul­len. Das bes­te ist, daß es nicht viel Wirt­schaft macht und daß mei­ne Frau nicht erst nach Hil­des­heim braucht. Sol­che wei­te Rei­se, da geht ja gleich die Hälf­te drauf. Oder viel­leicht auch das Gan­ze.«

»War es denn schon in dem Brief?«

»I, be­wah­re. Bloß die An­zei­ge von mei­nem Schwa­ger, und daß das Geld in Ber­lin ge­ho­ben wer­den kann. Ich schi­cke mor­gen mei­ne Frau. Sie ver­sau­ert hier oh­ne­hin.«

»Ver­steht sich«, sag­te Miet­zel, der sich im­mer är­ger­te, wenn von dem »Ver­sau­ern« der Frau Hr­ad­scheck die Re­de war. »Ver­steht sich, laß sie nur rei­sen; Ber­lin, das ist so was für die Frau Ba­ro­nin. Und viel­leicht bringt sie dir gleich wie­der ein At­las­so­fa mit. Oder ‚nen Tru­meau. So heißt es ja wohl? Bei so was Fei­nem muß un­ser­ein im­mer erst fra­gen. Der Bau­er ist ja zu dumm.«

Frau Hr­ad­scheck reis­te wirk­lich ab, um die ge­erb­te Sum­me von Ber­lin zu ho­len, was schon im vor­aus das Ge­re­de der eben­so nei­di­schen wie rei­chen Bau­ern­frau­en weck­te, vor al­len der Frau Quaas, die sich, ih­rer ge­kraus­ten blon­den Haa­re hal­ber, ganz ein­fach für ei­ne Schön­heit hielt und aus dem Um­stan­de, daß sie zwan­zig Jah­re jün­ger war als ihr Mann, ihr Recht zu fast eben­so vie­len Lieb­schaf­ten her­lei­te­te. Was gut aus­sah, war ihr ein Dorn im Au­ge, zu­meist aber die Hr­ad­scheck, die nicht nur statt­li­cher und klü­ger war als sie selbst, son­dern zum Über­fluß auch noch in Ver­dacht stand (wenn auch frei­lich mit Un­recht), den äl­tes­ten Kan­tors­sohn – ei­nen we­gen Dem­ago­gie re­le­gier­ten Tu­nicht­gut, der nun bei dem Va­ter auf der Bä­ren­haut lag – zu Spott­ver­sen auf die Tsche­chi­ner und ganz be­son­ders auf die gu­te Frau Quaas an­ge­stif­tet zu ha­ben. Es war ei­ne lan­ge Rei­me­rei, drin je­der was weg­krieg­te. Der ers­te Vers aber lau­te­te:

Woy­tasch hat den Schul­zen­stock,

Ku­ni­cke ‚nen lan­gen Rock,

Miet­zel ist ein Ho­bel­span,

Quaas hat kei­nem was ge­tan,

Nicht mal sei­ner eig­nen Frau,

Kätz­chen weiß es ganz ge­nau.

Mi­au, mi­au.

Der­glei­chen konn­te nicht ver­zie­hen wer­den, am we­nigs­ten sol­cher Bet­tel­per­son wie die­ser her­ge­lau­fe­nen Frau Hr­ad­scheck, die nun mal für die Schul­di­ge galt. Das stand bei Kätz­chen fest.

»Ich wet­te«, sag­te sie zur Miet­zel, als die­se den­sel­ben Abend noch, an dem die Hrad­scheck ab­ge­reist war, auf der Öl­müh­le vor­sprach, »ich wet­te, daß sie mit ei­nem Samt­hut und ei­ner Strau­ßen­fe­der wie­der­kommt. Sie kann sich nie ge­nug­tun, die­se zie­ri­ge Per­son, trotz ih­rer vier­zig. Und al­les bloß, weil sie >Swein< sagt und nicht >swit­zen< kann, auch wenn sie drei Kan­nen Flie­der­tee ge­trun­ken. Sie sagt aber nicht Flie­der­tee, sie sagt Ho­lun­der. Und das soll denn was sein. Ach, lie­be Miet­zel, es ist zum La­chen.«

»Ja, ja!« stimm­te die Miet­zel ein, schien aber ge­neigt, die grö­ße­re Schuld auf Hrad­scheck zu schie­ben, der sich ein­bil­de, wun­der was Fei­nes ge­hei­ra­tet zu ha­ben. Und sei doch bloß ‚ ne Ka­t­hol­sche ge­we­sen und viel­leicht auch ‚ne Sprin­ge­rin; we­nigs­tens ha­be sie so was mun­keln hö­ren. »Und über­haupt, der gu­te Hr­ad­scheck«, fuhr sie fort, »er soll doch nur still sein. In Neu-Le­win re­den sie nicht viel Gu­tes von ihm. Die Re­se hat er sit­zen­las­sen. Und mit eins war sie weg, und kei­ner weiß wie und wa­rum. Und war auch von Aus­gra­ben die Re­de, bis un­ser al­ter Woy­tasch rü­ber­fuhr und al­les wie­der still mach­te. Na­tür­lich, er will kei­nen Lärm ha­ben und is ‚ne Suse. Zu Hau­se darf er oh­ne­hin nicht re­den. Oder ob er der Hr­ad­sche­cken nach den Au­gen sieht? Sie hat so was. Und ich sa­ge bloß, wenn wir al­les her­ge­lau­fe­ne Volk ins Dorf krie­gen, so ha­ben wir nächs­tens auch die Zi­geu­ner hier, und Frau Woy­tasch kann sich dann nach ‚nem Schwie­ger­sohn um­sehn. Zeit wird es mit der Ri­ke; drei­ßig is sie ja schon.«

So ging gleich am ers­ten Ta­ge das Ge­klatsch. Als aber ei­ne hal­be Wo­che spä­ter die Hr­ad­scheck ge­ra­de­so wie­der­kam, wie sie ge­gan­gen war, das heißt oh­ne Samt­hut und Strau­ßen­fe­der, und noch eben­so grüß­te, ja wo­mög­lich noch ar­ti­ger als vor­her, da trat ein Um­schlag ein, und man fing an, sie gel­ten zu las­sen und sich ein­zu­re­den, daß die Erb­schaft sie ver­än­dert ha­be.

»Man sieht doch gleich«, sag­te die Quaas, »daß sie jetzt was ha­ben. Sonst soll­te das im­mer was sein, und sie lo­gen ei­nen grau­sam an, und war ei­gent­lich nicht zum Aus­hal­ten. Aber ges­tern war sie an­ders und sag­te ganz klein und be­schei­den, daß es nur we­nig sei.«

»Wie­viel mag es denn wohl sein?« un­ter­brach hier die Miet­zel. »Ich den­ke mir so tau­send Ta­ler.«

»O mehr, viel mehr. Wenn es nicht mehr wä­re, wä­re sie nicht so; da zier­te sie sich ru­hig wei­ter. Nein, lie­be Miet­zel, da hat man denn doch so sei­ne Zei­chen, und den­ken Sie sich, als ich sie ges­tern frug, >ob es ihr nicht ängst­lich ge­we­sen wä­re, so ganz al­lein mit dem vie­len Geld<, da sag­te sie: >Nein, es wär ihr nicht ängst­lich ge­we­sen, denn sie ha­be nur we­nig mit­ge­bracht, ei­gent­lich nicht der Re­de wert. Das meis­te ha­be sie bei dem Kauf­mann in Ber­lin gleich ste­hen­las­sen.< Ich weiß ganz be­stimmt, sie sag­te: das meis­te. So we­nig kann es al­so nicht sein.«

Un­ter­re­dun­gen wie die­se wur­den ein paar Wo­chen lang in je­dem Tsche­chi­ner Hau­se ge­führt, oh­ne daß man mit Hil­fe der­sel­ben im ge­rings­ten wei­ter­ge­kom­men wä­re, wes­halb man sich schließ­lich hin­ter den Post­bo­ten steck­te. Die­ser aber war ent­we­der schweig­sam oder wuß­te nichts, und erst Mit­te No­vem­ber er­fuhr man von ihm, daß er neu­er­dings ei­nen re­kom­man­dier­ten Brief bei den Hr­ad­schecks ab­ge­ge­ben ha­be.

»Von wo­her denn?«

»Aus Kra­kau.«

Man über­leg­te sich‘s, ob das in ir­gend­ei­ner Be­zie­hung zur Erb­schaft ste­hen kön­ne, fand aber nichts.

Und war auch nichts zu fin­den. Denn der ein­ge­schrie­be­ne Brief lau­te­te:

»Kra­kau, den 9. No­vem­ber 1831

Herrn Abel Hr­ad­scheck in Tsche­chin. Oder­bruch.

Ew. Wohl­ge­bo­ren brin­gen wir hier­mit zu ganz er­ge­bens­ter Kennt­nis, daß un­ser Rei­sen­der, Herr Szul­ski, wie all­jähr­lich so auch in die­sem Jah­re wie­der, in der letz­ten No­vem­ber­wo­che bei Ih­nen ein­tref­fen und Ih­re wei­tern ge­neig­ten Auf­trä­ge in Emp­fang neh­men wird. Zu­gleich aber ge­wär­ti­gen wir, daß Sie, hoch­ge­ehr­ter Herr, bei die­ser Ge­le­gen­heit Ver­an­las­sung neh­men wol­len, uns­re seit drei Jah­ren an­ste­hen­de For­de­rung zu be­glei­chen. Wir rech­nen um so be­stimm­ter dar­auf, als es uns, durch die po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se des Lan­des und den Rück­schlag der­sel­ben auf un­ser Ge­schäft, un­mög­lich ge­macht wird, ei­nen fer­ne­ren Kre­dit zu be­wil­li­gen. Ge­neh­mi­gen Sie die Ver­si­che­rung un­se­rer Er­ge­ben­heit.

Ols­zew­ski-Gold­schmidt & Sohn«

Hr­ad­scheck, als er die­sen Brief emp­fan­gen hat­te, hat­te nicht ge­säumt, auch sei­ne Frau mit dem In­hal­te des­sel­ben be­kannt zu ma­chen. Die­se blieb an­schei­nend ru­hig, nur um ih­re Lip­pen flog ein ner­vö­ses Zit­tern.

»Wo willst du‘s her­neh­men, Abel? Und doch muß es ge­schafft wer­den. Und ihm ein­ge­hän­digt wer­den… Und zwar vor Zeu­gen. Willst du‘s bor­gen?«

Er schwieg.

»Bei Ku­ni­cke?«

»Nein. Geht nicht. Das sieht aus nach Ver­le­gen­heit. Und die darf es nach der Erb­schafts­ge­schich­te nicht mehr ge­ben. Und gibt‘s auch nicht. Ich glau­be, daß ich‘s schaf­fe.«

»Gut. Aber wie?«

»Bis zum 30. hab ich noch die Feu­er­kas­sen­gel­der.«

»Die rei­chen nicht.«

»Nein. Aber doch bei­nah. Und den Rest deck ich mit ei­nem klei­nen Wech­sel. Ein gro­ßer geht nicht, aber ein klei­ner ist gut und ei­gent­lich bes­ser als bar.«

Sie nick­te.

Dann trenn­te man sich, oh­ne daß wei­ter ein Wort ge­wech­selt wor­den wä­re.

Was zwi­schen ih­nen zu sa­gen war, war ge­sagt und je­dem sei­ne Rol­le zu­ge­teilt. Nur fan­den sie sich sehr ver­schie­den hin­ein, wie schon die nächs­te Mi­nu­te zei­gen soll­te.

Hr­ad­scheck, voll Be­herr­schung über sich selbst, ging in den La­den, der ge­ra­de voll hüb­scher Bau­ern­mäd­chen war, und zupf­te hier der ei­nen am Bu­sen­tuch, wäh­rend er der an­dern die Schür­zen­bän­der auf­band. Ei­ner Al­ten aber gab er ei­nen Kuß. »Ei­nen Kuß in Eh­ren darf nie­mand weh­ren – nich wahr, Mut­ter Schi­cke­danz?«

Mut­ter Schi­cke­danz lach­te.

Der Frau Hr­ad­scheck aber fehl­ten die gu­ten Ner­ven, de­ren ihr Gat­te sich rüh­men konn­te. Sie ging in ihr Schlaf­zim­mer, sah in den Gar­ten und über­schlug ihr Le­ben. Da­bei mur­mel­te sie halb un­ver­ständ­li­che Wor­te vor sich hin und schien, den Be­we­gun­gen ih­rer Hand nach, ei­nen Ro­sen­kranz ab­zu­be­ten. Aber es half al­les nichts. Ihr Atem blieb schwer, und sie riß end­lich das Fens­ter auf, um die fri­sche Luft ein­zu­sau­gen.

So ver­gin­gen Stun­den. Und als Mit­tag kam, ka­men nur Hr­ad­scheck und Ede zu Tisch.

Fünf­tes Ka­pi­tel

Es war En­de No­vem­ber, als an ei­nem naß­kal­ten Aben­de der von der Kra­kau­er Fir­ma an­ge­kün­dig­te Rei­sen­de vor Hr­ad­schecks Gast­hof vor­fuhr. Er kam von Küs­trin und hat­te sich um ein paar Stun­den ver­spä­tet, weil die vom Re­gen auf­ge­weich­ten Bruch­we­ge bei­nah un­pas­sier­bar ge­we­sen wa­ren, am meis­ten im Dor­fe selbst. Noch die letz­ten drei­hun­dert Schritt von der Orth­schen Wind­müh­le her hat­ten ein gut Stück Zeit ge­kos­tet, weil das er­mü­de­te Pferd mit­un­ter ste­hen­blieb und trotz al­lem Flu­chen nicht wei­ter woll­te. Jetzt aber hielt der Rei­sen­de vor der La­den­tür, durch de­ren trü­be Schei­ben ein Licht­schein auf den Damm fiel, und knips­te mit der Peit­sche.

»Hal­lo; Wirt­schaft!«

Ei­ne Wei­le ver­ging, oh­ne daß wer kam. End­lich er­schien der La­den­jun­ge, lief aber, als er den Tritt her­un­ter­ge­klappt hat­te, gleich wie­der weg, »weil er den Knecht, den Ja­kob, ru­fen wol­le«.

»Gut, gut. Aber flink… Is das ein Hun­de­wet­ter!«

Un­ter sol­chen und ähn­li­chen Aus­ru­fun­gen schlug der jetzt wie­der al­lein­ge­las­se­ne Rei­sen­de das Schutz­le­der zu­rück, hing den Zü­gel in den frei ge­wor­de­nen Ha­ken und klet­ter­te, halb er­starrt und un­ter Ver­mei­dung des Tritts, dem er nicht recht zu trau­en schien, über das Rad weg auf ei­ne leid­lich tro­cke­ne, grad vor dem La­den­ein­gan­ge durch Auf­schüt­tung von Müll und Schutt her­ge­rich­te­te Stel­le. Wolfs­schur und Pelz­müt­ze hat­ten ihm Kopf und Leib ge­schützt, aber die Fü­ße wa­ren wie tot, und er stampf­te hin und her, um wie­der Le­ben ins Blut zu brin­gen.

Und jetzt er­schien auch Ja­kob, der den Rei­sen­den schon von frü­her her kann­te.

»Jott, Herr Szul­ski, bi so ‚n Wet­ter! Un so ‚ne Weg! I, doa kümmt joa ke­en Düwel nich.«

»Aber ich«, lach­te Szul­ski.

»Joa, blot Se, Herr Szul­ski. Na, nu gei­hen S‘ man in de Stuw. Un dat Fel­li­sen be­sorg ick. Un will ook glieks en be­ten wat in­bö­ten. Ick weet joa: de Gie­gel­stuw, de ge­e­le, de noah de Ke­gel­boahn to.«

Wäh­rend er noch so sprach, hat­te Ja­kob den Kof­fer auf die Schul­ter ge­nom­men und ging, dem Rei­sen­den vor­auf, auf die Trep­pe zu; als er aber sah, daß Szul­ski, statt nach links hin in den La­den, nach rechts hin in das Hr­ad­scheck­sche Wohn­zim­mer ein­tre­ten woll­te, wandt er sich wie­der und sag­te: »Nei, nich doa, Herr Szul­ski. Hr­ad­scheck is in de Wienstuw… Se wee­ten joa.«

»Sind denn Gäs­te da?«

»Ver­steiht sich. Wat ar­me Lüd sinn, na, de blie­wen to Hu­us, awers Oll-Ku­ni­cke kümmt, un denn kümmt Orth ook. Un wenn Orth kümmt, denn kümmt ook Quaas un Miet­zel. Gei­hen S‘ man in. Se tem­peln all wed­der.«

Ei­ne Stun­de spä­ter war der Rei­sen­de, Herr Szul­ski, der ei­gent­lich ein ein­fa­cher Schulz aus Beu­then in Ober­sch­le­si­en war und den Na­tio­nal-Po­len erst mit dem pol­ni­schen Samt­rock samt Sch­nü­ren und Kne­bel­knöp­fen an­ge­zo­gen hat­te, der Mit­tel­punkt der klei­nen, auch heu­te wie­der in der Wein­stu­be ver­sam­mel­ten Ta­fel­run­de. Das Ge­schäft­li­che war in Ge­gen­wart von Quaas und Ku­ni­cke rasch ab­ge­macht und die hoch auf­ge­lau­fe­ne Schuld­sum­me, ganz wie ge­wollt, durch Bar­zah­lung und klei­ne Wech­sel be­gli­chen wor­den, was dem Pseu­do-Po­len, der ei­ne so ra­sche Re­gu­lie­rung kaum er­war­tet ha­ben moch­te, Ver­an­las­sung gab, ei­ni­ges von dem von sei­ner Fir­ma ge­lie­fer­ten Rus­ter brin­gen zu las­sen.

»Ich ken­ne die Jahr­gän­ge, mei­ne Her­ren, und bitt um die Ehr.«

Die Bau­ern stutz­ten ei­nen Au­gen­blick, sich so zu Gas­te ge­la­den zu se­hen, aber sich rasch er­in­nernd, daß ei­ni­ge von ih­nen bis ganz vor kur­zem noch zu den Kun­den der Kra­kau­er Fir­ma ge­hört hat­ten, sa­hen sie das An­er­bie­ten schließ­lich als ei­nen blo­ßen Ge­schäfts­akt an, den man sich ge­fal­len las­sen kön­ne. Was aber den Aus­schlag gab, war, daß man durch­aus von dem eben be­en­dig­ten pol­ni­schen Auf­stand hö­ren woll­te, von Die­bitsch und Pas­ke­witsch, und vor al­lem, ob es nicht bald wie­der los­ge­he.

Szul­ski, wenn ir­gend­wer, muß­te da­von wis­sen.

Als er das vo­ri­ge Mal in ih­rer Mit­te weil­te, war es ein paar Wo­chen vor Aus­bruch der In­sur­rek­ti­on ge­we­sen. Al­les, was er da­mals als na­he be­vor­ste­hend pro­phe­zeit hat­te, war ein­ge­trof­fen und lag jetzt zu­rück, Ost­ro­len­ka war ge­sch­la­gen und War­schau ge­stürmt, wel­chem Stur­me der zu­fäl­lig in der Haupt­stadt an­we­sen­de Szul­ski zum min­des­ten als Au­gen­zeu­ge, viel­leicht auch als Mit­kämp­fer (er ließ dies vor­sich­tig im Dun­kel) beige­wohnt hat­te. Das al­les traf sich treff­lich für un­se­re Tsche­chi­ner, und Szul­ski, der als gu­ter Wein­rei­sen­der na­tür­lich auch ein gu­ter Er­zäh­ler war, schwelg­te förm­lich in Schil­de­rung der pol­ni­schen Hel­den­ta­ten wie nicht min­der in Schil­de­rung der Grau­sam­kei­ten, de­ren sich die Rus­sen schul­dig ge­macht hat­ten. Ei­ne Hau­ser­stür­mung in der Dlugas­tra­ße, just da, wo die­se mit ih­ren zwei schma­len Aus­läu­fern die Weich­sel be­rührt, war da­bei sein Pa­ra­de­pferd.

»Wie hieß die Stra­ße?« frag­te Miet­zel, der nach Art al­ler ver­qui­en­ten Leu­te bei Kriegs­ge­schich­ten im­mer hoch­rot wur­de.

»Dlu­ga­stra­ße«, wie­der­hol­te Szul­ski mit ei­ner ge­wis­sen ge­küns­tel­ten Ru­he. »Dlu­ga, Herr Miet­zel. Und das Eck­haus, um das es sich in mei­ner Ge­schich­te han­delt, stand dicht an der Weich­sel, der Vor­stadt Pra­ga grad ge­gen­über, und war von un­se­ren Aka­de­mi­kern und Po­ly­tech­ni­kern be­setzt, das heißt von den we­ni­gen, die von ih­nen noch üb­rig wa­ren, denn die meis­ten la­gen längst drau­ßen auf dem Eh­ren­fel­de. Gleich­viel in­des, was von ih­nen noch leb­te, das steck­te jetzt in dem vier Eta­gen ho­hen Hau­se, von Trep­pe zu Trep­pe bis un­ters Dach. Auf dem ab­ge­deck­ten Dach aber be­fan­den sich Frau­en und Kin­der, die sich hier hin­ter Bal­ken­la­gen ver­schanzt und mit her­an­ge­schlepp­ten Stei­nen be­waff­net hat­ten. Als nun die Rus­sen, es war das Re­gi­ment Ka­lu­ga, bis dicht her­an wa­ren, rühr­ten sie die Trom­mel zum An­griff. Und so stürm­ten sie drei­mal, im­mer um­sonst, im­mer mit schwe­rem Ver­lust, so dicht fiel der Stein­ha­gel auf sie nie­der. Aber das vier­te Mal ka­men sie bis an die ver­ram­mel­te Tür, stie­ßen sie mit Kol­ben ein und spran­gen die Trep­pe hin­auf. Im­mer hö­her zo­gen sich un­se­re Tap­fe­ren zu­rück, bis sie zu­letzt, mit den Frau­en und Kin­dern und im bun­ten Durch­ein­an­der mit die­sen, auf dem ab­ge­deck­ten Da­che stan­den. Da sah ich je­den ein­zel­nen so deut­lich vor mir, wie ich Sie jetzt se­he, Bau­er Miet­zel!« – die­ser fuhr zu­rück -, »denn ich hat­te mei­ne Woh­nung in dem Hau­se ge­gen­über und sah, wie sie die Kon­fe­de­rat­ka schwenk­ten, und hör­te, wie sie un­ser Lied san­gen: >Noch ist Po­len nicht ver­lo­ren<. Und bei mei­ner Eh­re, hier, an die­ser Stel­le, hät­ten sie sich trotz al­ler Über­macht des Fein­des ge­hal­ten, wenn nicht plötz­lich, von der Sei­te her, ein Häm­mern und Sch­la­gen hör­bar ge­wor­den wä­re, ein Häm­mern und Sch­la­gen, sag ich, wie von Äx­ten und Bei­len.«

»Wie? Was? Von Äx­ten und Bei­len?« wie­der­hol­te Miet­zel, dem sein biß­chen Haar nach­ge­ra­de zu Ber­ge stand. »Was war es?«

»Ja, was war es? Vom Nach­bar­hau­se her ging man vor; jetzt war ein Loch da, jetzt ei­ne Bre­sche, und durch die Bre­sche hin drang das rus­si­sche Re­gi­ment auf den Dach­bo­den vor. Was ich da ge­se­hen ha­be, spot­tet je­der Be­schrei­bung. Wer ein­fach nie­der­ge­schos­sen wur­de, konn­te von Glück sa­gen, die meis­ten aber wur­den durch ei­nen Ba­jo­nett­stoß auf die Stra­ße ge­schleu­dert. Es war ein Graus, mei­ne Her­ren. Ei­ne Frau war­te­te das Mas­sa­cre, ja, viel­leicht Schimpf und Ent­eh­rung (denn der­glei­chen ist vor­ge­kom­men), nicht erst ab; sie nahm ih­re bei­den Kin­der an die Hand und stürz­te sich mit ih­nen in den Fluß.«

»Al­le Wet­ter«, sag­te Ku­ni­cke, »das ist stark! Ich ha­be doch auch ein Stück Krieg mit­ge­macht und weiß wohl, wo man Holz fällt, fal­len Spä­ne. So war es bei Möckern, und ich se­he noch uns­ren al­ten Kro­sigk, wie der den Ma­ri­ne­kap­tän über den Hau­fen stach, und wie dann das Kol­ben­sch­la­gen los­ging, bis al­le da­la­gen. Aber Frau­en und Kin­der! Al­le Wet­ter, Szul­ski, das ist scharf. Is es denn auch wahr?«

»Ob es wahr ist? Ver­zei­hung, ich hin kein Auf­schnei­der, Herr Kun­laquo;¨/font/fon­ti­cke. Kein Po­le schnei­det auf, das ver­ach­tet er. Und ich auch. Aber was ich ge­sehn ha­be, das hab ich ge­sehn, und ei­ne Tat­sa­che bleibt ei­ne Tat­sa­che, sie sei, wie sie sei. Die Da­me, die da her­un­ter­sprang (und ich schwör Ih­nen, mei­ne Her­ren, es war ei­ne Da­me), war ei­ne schö­ne Frau, kei­ne sechs­und­drei­ßig, und so wahr ein Gott im Him­mel lebt, ich hätt ihr was Beß­res ge­wünscht als die­se naß­kal­te Weich­sel.«

Ku­ni­cke schmun­zel­te, wäh­rend der ne­ben an­de­ren Schwä­chen und Lei­den auch an ei­ner Lie­bes­a­der lei­den­de Miet­zel nicht um­hin konn­te, sei­ner ner­vö­sen Er­regt­heit plötz­lich ei­ne ganz neue Rich­tung zu ge­ben. Szul­ski selbst aber war viel zu sehr von sich und sei­ner Ge­schich­te durch­drun­gen, um ne­ben­her noch zu Zwei­deu­tig­kei­ten Zeit zu ha­ben, und fuhr, oh­ne sich stö­ren zu las­sen, fort: »Ei­ne schö­ne Frau, sagt ich, und hin­ge­mor­det. Und was das schlimms­te da­bei, nicht hin­ge­mor­det durch den Feind, nein, durch uns selbst; hin­ge­mor­det, weil wir ver­ra­ten wa­ren. Hät­te man uns freie Hand ge­las­sen, kein Rus­se wä­re je über die Weich­sel ge­kom­men. Das Volk war gut, Bür­ger und Bau­er wa­ren gut, al­les ei­nig, al­les da mit Gut und Blut. Aber der Adel! Der Adel hat uns um drei­ßig Sil­ber­lin­ge ver­scha­chert, bloß weil er an sein Geld und sei­ne Gü­ter dach­te. Und wenn der Mensch erst an sein Geld denkt, ist er ver­lo­ren.«

»Kann ich nicht zu­ge­ben«, sag­te Ku­ni­cke. »Je­der denkt an sein Geld. Al­le Wet­ter, Szul­ski, das sollt uns­rem Hr­ad­scheck schon ge­fal­len, wenn der Rei­sen­de von Ols­zew­ski-Gold­schmidt und Sohn al­le No­vem­ber hier vor­spräch und nie an Geld däch­te. Nicht wahr, Hr­ad­scheck, da lie­ße sich bald auf ei­nen grü­nen Zweig kom­men und brauch­te kei­ne Schwes­ter oder Schwä­ge­rin zu ster­ben und kei­ne Erb­schaft aus­ge­zahlt zu wer­den.«

»Ah, Erb­schaft«, wie­der­hol­te Szul­ski. »So, so; da­her. Nun, gra­tu­lie­re. Ha­be neu­lich auch ei­nen Bro­cken ge­erbt und in Lem­berg an­ge­legt. Lem­berg ist bes­ser als Kra­kau. Ja, das muß wahr sein, Erb­schaft ist die bes­te Art, zu Gel­de zu kom­men, die bes­te und ei­gent­lich auch die an­stän­digs­te…«

»Und na­ment­lich auch die leich­tes­te«, be­stä­tig­te Ku­ni­cke. »Ja, das lie­be Geld. Und wenn‘s viel ist, das heißt sehr viel, dann darf man auch dran den­ken! Nicht wahr, Szul­ski?«

»Na­tür­lich«, lach­te die­ser. »Na­tür­lich, wenn‘s viel ist. Aber, Bau­er Ku­ni­cke, den­ken und den­ken ist ein Un­ter­schied. Man muß wis­sen, daß man‘s hat, so­viel ist rich­tig, das ist gut und ein an­ge­neh­mes Ge­fühl und stört nicht…«

»Nein, nein, stört nicht.«

»Aber mei­ne Her­ren, ich muß es wie­der­ho­len, den­ken und den­ken ist ein Un­ter­schied. An Geld im­mer den­ken, bei Tag und bei Nacht, das ist so­viel wie sich im­mer drum ängs­ti­gen. Und ängs­ti­gen soll man sich nicht. Wer auf Rei­sen ist und im­mer an sei­ne Frau denkt, der ängs­tigt sich um sei­ne Frau.«

»Frei­lich«, schrie Ku­ni­cke. »Quaas ängs­tigt sich auch im­mer.«

Al­le lach­ten un­bän­dig, und nur Szul­ski selbst, der auch dar­in durch­aus An­ek­do­ten- und Ge­schich­ten­er­zäh­ler von Fach war, daß er sich nicht gern un­ter­bre­chen lies, fuhr mit al­lem er­denk­li­chen Erns­te fort: »Und wie mit der Frau, mei­ne Her­ren, so mit dem Geld. Nur nicht ängst­lich; ha­ben muß man‘s, aber man muß nicht ewig dar­an den­ken. Oft muß ich la­chen, wenn ich so se­he, wie der oder je­ner im Post­wa­gen oder an der Ta­ble d‘hôte mit ei­nem Ma­le nach sei­ner Brief­ta­sche faßt, >ob er‘s auch noch hat<. Und dann at­met er auf und ist ganz rot ge­wor­den. Das ist im­mer lä­cher­lich und scha­det bloß. Und auch das Ein­nä­hen hilft nichts, das ist eben­so dumm. Ist der Rock weg, ist auch das Geld weg. Aber was man auf sei­nem Lei­be hat, das hat man. All die an­dern Vor­sich­ten sind Un­sinn.«

»Recht so«, sag­te Hr­ad­scheck. »So mach ich‘s auch. Aber wir sind bei dem Geld und dem Ein­nä­hen ganz von Po­len ab­ge­kom­men. Ist es denn wahr, Szul­ski, daß sie Die­bit­schen ver­gif­tet ha­ben?«

»Ver­steht sich, es ist wahr.«

»Und die Ge­schich­te mit den elf Talg­lich­ten auch? Auch wahr?«

»Al­les wahr«, wie­der­hol­te Szul­ski. »Dar­an ist kein Zwei­fel. Und es kam so. Kon­stan­tin woll­te die Po­len är­gern, weil sie ge­sagt hat­ten, die Rus­sen frä­ßen bloß Talg. Und da ließ er, als er ei­nes Ta­ges elf Po­len ein­ge­la­den hat­te, zum Des­sert elf Talg­lich­te her­um­rei­chen, das zwölf­te aber war von Mar­zi­pan und na­tür­lich für ihn. Und ver­steht sich, nahm er im­mer zu­erst, da­für war er Groß­fürst und Vi­ze­kö­nig. Aber das ei­ne Mal ver­griff er sich doch, und da hat er‘s run­ter­wür­gen müs­sen.«

»Wird nicht sehr glatt ge­gan­gen sein.

»Ge­wiß nicht… Aber, ihr Her­ren, kennt ihr denn schon das neue Po­len­lied, das sie jetzt sin­gen?«

»Denkst du dar­an – – «

»Nein, das ist alt. Ein neu­es.«

»Und heißt?«

»Die letz­ten zehn vom vier­ten Re­gi­ment… Wollt ihr‘ s hö­ren? Soll ich es sin­gen?«

»Frei­lich.«

»Aber ihr müßt ein­fal­len…«

»Ver­steht sich, ver­steht sich.«

Und nun sang Szul­ski, nach­dem er sich ge­rä­us­pert hat­te:

»Zu War­schau schwu­ren tau­send auf den Kni­en:

Kein Schuß im heil‘gen Kamp­fe sei ge­tan,

Tam­bour, schlag an, zum Blach­feld laß uns zie­hen,

Wir grei­fen nur mit Ba­jo­net­ten an!

Und ewig kennt das Va­ter­land und nennt

Mit stil­lem Schmerz sein vier­tes Re­gi­ment.«

»Ein­fal­len! Cho­rus.« –

»Wei­ter Szul­ski, wei­ter.«

»Ade, ihr Brü­der, die zu Tod ge­trof­fen

An uns­rer Sei­te dort wir stür­zen sahn,

Wir le­ben noch, die Wun­den ste­hen of­fen,

Und um die Hei­mat ewig ist‘s ge­tan;

Herr Gott im Him­mel, schenk ein gnä­dig End

Uns letz­ten zehn vom vier­ten Re­gi­ment.«

Cho­rus:

»Uns letz­ten zehn vom vier­ten Re­gi­ment.«

Al­les ju­bel­te. Dem al­ten Quaas aber tra­ten sei­ne schon von Na­tur vor­ste­hen­den Au­gen im­mer mehr aus dem Kopf.

»Wenn ihn jetzt sei­ne Frau sä­he«, rief Ku­ni­cke.

»Da hätt er Ober­was­ser.«

»Ja, ja.«

Und nun stieß man an und ließ die Po­len le­ben. Nur Ku­ni­cke, der an An­no 13 dach­te, wei­ger­te sich und trank auf die Rus­sen. Und zu­letzt auch auf Quaas und Kätz­chen.

Miet­zel aber war ganz über­mü­tig und halb wie ver­dreht ge­wor­den und sang, als er Kätz­chens Na­men hör­te, mit ei­nem Ma­le:

»Nicht mal sei­ner eig­nen Frau,

Kätz­chen weiß es ganz ge­nau.

Mi­au.«

Quaas sah ver­le­gen vor sich hin. Nie­mand in­des­sen dach­te mehr an Übel­neh­men.

Und nun wur­de der La­den­jun­ge ge­ru­fen, um neue Fla­schen zu brin­gen.

Sechs­tes Ka­pi­tel

So ging es bis Mit­ter­nacht. Der schräg ge­gen­über woh­nen­de Ku­ni­cke woll­te noch blei­ben und mach­te spit­ze Re­den, daß Szul­ski, der schon ein paar­mal zum Auf­bruch ge­mahnt, so mü­de sei. Der aber ließ sich we­der durch Spott noch gu­te Wor­te län­ger zu­rück­hal­ten, »er müs­se mor­gen um neun in Frank­furt sein«. Und da­mit nahm er den be­reit­ste­hen­den Leuch­ter, um in sei­ne Gie­bel­stu­be hin­auf­zu­stei­gen. Nur als er die Tür­klin­ke schon in der Hand hat­te, wandt er sich noch ein­mal und sag­te zu Hr­ad­scheck: »Al­so vier Uhr, Hr­ad­scheck. Um fünf muß ich weg. Und ver­steht sich, ein Kaf­fee. Gu­ten Abend, ihr Her­ren. Al­ler­seits wohl zu ruhn!«

Auch die Bau­ern gin­gen; ein star­ker Re­gen fiel, und al­le fluch­ten über das scheuß­li­che Wet­ter. Aber kei­ne Stun­de mehr, so schlug es um, der Re­gen ließ nach, und ein hef­ti­ger Süd­ost feg­te statt sei­ner über das Bruch hin. Sei­ne Hef­tig­keit wuchs von Mi­nu­te zu Mi­nu­te, so daß al­ler­lei Scha­den an Häu­sern und Dä­chern an­ge­rich­tet wur­de, nir­gends aber mehr als an dem Hau­se der al­ten Jeschke, das grad in dem Wind­stro­me lag, der, von der an­dern Sei­te der Stra­ße her, zwi­schen Ku­ni­ckes Stall und Scheu­ne mit­ten durch­fuhr. Klap­pernd ka­men die Zie­gel vom Dach­first her­un­ter und schlu­gen mit ei­nem dump­fen Ge­klatsch in den auf­ge­weich­ten Bo­den.

»Dat‘s joa groad, as ob de Bös kümmt«, sag­te die Al­te und rich­te­te sich in die Höh, wie wenn sie auf­ste­hen wol­le. Das Her­aus­klet­tern aus dem hoch­stel­li­gen Bett aber schien ihr zu­viel Mü­he zu ma­chen, und so klopf­te sie nur das Kopf­kis­sen wie­der auf und ver­such­te wei­ter­zu­sch­la­fen. Frei­lich um­sonst. Der Lärm drau­ßen und die wach­sen­de Furcht, ih­ren oh­ne­hin schad­haf­ten Schorn­stein in die Stu­be hin­ab­stür­zen zu sehn, lie­ßen sie mit ih­rem Ver­su­che nicht weit kom­men, und so stand sie schließ­lich doch auf und tapp­te sich an den Herd hin, um hier an ei­nem biß­chen Ascheng­lut ei­nen Schwe­fel­fa­den und dann das Licht an­zu­zün­den. Zu­gleich warf sie reich­lich Kienäp­fel auf, an de­nen sie nie Man­gel litt, seit sie letz­ten Herbst dem vier­jäh­ri­gen Jun­gen von Förs­ter Noth­na­gel, drü­ben in der neu­mär­ki­schen Hei­de, das frei­wil­li­ge Hin­ken weg­ku­riert hat­te.

Das Licht und die Wär­me ta­ten ihr wohl, und als es ein paar Mi­nu­ten spä­ter in dem im­mer be­reit­ste­hen­den Kaf­fee­top­fe zu damp­fen und zu bro­deln an­fing, hock­te sie ne­ben dem Her­de nie­der und ver­gaß über ih­rem Be­ha­gen den Sturm, der drau­ßen heul­te. Mit ei­nem Mal aber gab es ei­nen Krach, als brä­che was zu­sam­men, ein Baum oder ein Strauch­werk, und so ging sie denn mit dem Licht ans Fens­ter und, weil das Licht hier blen­de­te, vom Fens­ter her in die Kü­che, wo sie den obern Tür­la­den rasch auf­schlug, um zu sehn, was es sei. Rich­tig, ein Teil des Gar­ten­zauns war um­ge­wor­fen, und als sie das nie­der­ge­leg­te Stück nach links hin bis an das Ke­gel­hä­us­chen ver­folg­te, sah sie, zwi­schen den Pfos­ten der Lat­ten­rin­ne hin­durch, daß in dem Hr­ad­scheck­schen Hau­se noch Licht war. Es flim­mer­te hin und her, mal hier, mal da, so daß sie nicht recht se­hen konn­te, wo­her es kam, ob aus dem Kel­ler­loch un­ten oder aus dem dicht dar­über ge­le­ge­nen Fens­ter der Wein­stu­be.

»Mi­en Jott, su­pen se noch?« frag­te die Jeschke vor sich hin. »Na, Ku­ni­cke is et kum­pa­fel. Un dann seggt he hin­ner­her, dat Wed­der wihr schull un he künn nich an­ners.«

Un­ter die­ser Be­trach­tung schloß sie den Tür­la­den wie­der und ging an ih­re Herd­stät­te zu­rück. Aber ihr Hang zu spio­nie­ren ließ ihr kei­ne Ruh, und trotz­dem der Wind im­mer stär­ker ge­wor­den war, such­te sie doch die Kü­che wie­der auf und öff­ne­te den La­den noch ein­mal, in der Hoff­nung, was zu se­hen. Ei­ne Wei­le stand sie so, oh­ne daß et­was ge­sche­hen wä­re, bis sie, als sie sich schon zu­rück­ziehn woll­te, drü­ben plötz­lich die Hr­ad­scheck­sche Gar­ten­tür auf­flie­gen und Hr­ad­scheck selbst in der Tür­öff­nung er­sch­ei­nen sah. Et­was Dunk­les, das er schon vor­her her­an­ge­schafft ha­ben muß­te, lag ne­ben ihm. Er war in sicht­li­cher Er­re­gung und sah ge­spannt nach ih­rem Hau­se hin­über. Und dann war‘s ihr doch wie­der, als ob er wol­le, daß man ihn sä­he. Denn wo­zu sonst das Licht, in des­sen Fla­cker­schein er da­stand? Er hielt es im­mer noch vor sich, es mit der Hand schüt­zend, und schien zu schwan­ken, wo­hin da­mit. End­lich aber mußt er ei­ne ge­bor­ge­ne Stel­le ge­fun­den ha­ben, denn das Licht selbst war weg und statt sei­ner nur noch ein Schein da, viel zu schwach, um den nach wie vor in der Tür­öff­nung lie­gen­den dunk­len Ge­gen­stand er­ken­nen zu las­sen. Was war es? Ei­ne Tru­he? Nein. Da­zu war es nicht lang ge­nug. Oder ein Korb, ei­ne Kis­te? Nein, auch das nicht.

»Wat he man hett?« mur­mel­te sie vor sich hin.

Aber ehe sie sich, aus ih­ren Mut­ma­ßun­gen her­aus, ih­re Fra­ge noch be­ant­wor­ten konn­te, sah sie, wie der ihr auf Mi­nu­ten aus dem Au­ge ge­kom­me­ne Hr­ad­scheck von der Tür her in den Gar­ten trat und mit ei­nem Spa­ten in der Hand rasch auf den Birn­baum zu­schritt. Hier grub er eif­rig und mit sicht­li­cher Hast und muß­te schon ein gut Teil Er­de her­aus­ge­worfen ha­ben, als er mit ei­nem Ma­le das Gra­ben auf­gab und sich aufs neue nach al­len Sei­ten hin um­sah. Aber auch jetzt wie­der (so we­nigs­tens schien es ihr) mehr in Span­nung als in Angst und Sor­ge.

»Wat he man hett?« wie­der­hol­te sie.

Dann sah sie, daß er das Loch rasch wie­der zu­schüt­te­te. Noch ei­nen Au­gen­blick, und die Gar­ten­tür schloß sich, und al­les war wie­der dun­kel.

»Hm«, brumm­te die Jeschke. »Dat‘s joa bi­noah, as ob he een‘ ab­murkst hett. Na, so dull wahrd et joa woll nich sinn… Nei, nei, denn wihr dat Licht nich. Awers ick tru em nich. Un ehr tru ick ook nich.«

Und da­mit ging sie wie­der bis an ihr Bett und klet­ter­te hin­ein.

Aber ein rech­ter Schlaf wollt ihr nicht mehr kom­men, und in ih­rem halb­wa­chen Zustan­de sah sie be­stän­dig das Flim­mern im Kel­ler­loch und dann den Licht­schein, der in den Gar­ten fiel, und dann wie­der Hr­ad­scheck, wie er un­ter dem Bau­me stand und grub.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Um vier Uhr stieg der Knecht die Stie­ge hin­auf, um Szul­ski zu we­cken. Er fand aber die Stu­be ver­schlos­sen, wes­halb er sich be­gnüg­te, zu klop­fen und durch das Schlüs­sel­loch hin­ein­zu­ru­fen: »Is vier, Herr Szul­ski; steihn S‘ upp.« Er horch­te noch ei­ne Wei­le hin­ein, und als al­les ru­hig blieb, riß er an der klapp­ri­gen Tür­klin­ke hin und her und wie­der­hol­te: »Steihn S‘ upp, Herr Szul­ski, is Tied; ick spann nu an.« Und da­nach ging er wie­der trepp­ab und durch den La­den in die Kü­che, wo die Hr­ad­scheck­sche Magd, ei­ne gut­mü­ti­ge Per­son mit krau­sem Haar und vie­len Som­mer­spros­sen, noch halb ver­sch­la­fen am Her­de stand und Feu­er mach­te.

»Na, Ma­le­ken, ook all rut? Wat seggst du da­to? Klock vie­ren. Is doch Men­schen­schin­ne­rei. Wor­ümm nich um söss? Um söss wihr ook noch Tied. Na, nu koch uns man en be­ten wat mit.«

Und da­mit wollt er von der Kü­che her in den Hof hin­aus. Aber der Wind riß ihm die Tür aus der Hand und schlug sie mit Ge­krach wie­der zu.

»Jott, Ja­kob, ick hebb mi so ver­fiert. Dat künn joa ‚ nen Do­den upp­we­cken.«

»Sall ook, Ma­le. He hett joa ‚nen Do­dens­lo­ap. Nu wahrd he woll upp­stoahn.«

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter hielt der Ein­spän­ner vor der Haus­tür, und Ja­kob, dem die Hän­de vom Lei­ne­hal­ten schon ganz klamm wa­ren, sah un­ge­dul­dig in den Flur hin­ein, ob der Rei­sen­de noch nicht kom­me.

Der aber war im­mer noch nicht zu se­hen, und statt sei­ner er­schien nur Hr­ad­scheck und sag­te: »Geh hin­auf, Ja­kob, und sieh nach, was es ist. Er ist am En­de wie­der ein­ge­sch­la­fen. Und sag ihm auch, sein Kaf­fee wür­de kalt… Aber nein, laß nur; bleib. Er wird schon kom­men.«

Und rich­tig, er kam auch und stieg, wäh­rend Hr­ad­scheck so sprach, ge­ra­de die nicht all­zu ho­he Trep­pe hin­un­ter. Die­se lag noch in Dun­kel, aber ein Licht­schim­mer vom La­den her ließ die Ge­stalt des Frem­den doch ei­ni­ger­ma­ßen deut­lich er­ken­nen. Er hielt sich am Ge­län­der fest und ging mit be­son­de­rer Lang­sam­keit und Vor­sicht, als ob ihm der gro­ße Pelz un­be­quem und be­schwer­lich sei. Nun aber war er un­ten, und Ja­kob, der al­les neu­gie­rig ver­folg­te, was vor­ging, sah, wie Hr­ad­scheck auf ihn zu­schritt und ihn mit vie­ler Ar­tig­keit vom Flur her in die Wohn­stu­be hin­ein­kom­pli­men­tier­te, wo der Kaf­fee schon seit ei­ner Vier­tel­stun­de war­te­te.

»Na, nu wahrd et joa woll wihr‘n«, trös­te­te sich der drau­ßen im­mer un­ge­dul­di­ger Wer­den­de. »Kümmt Tied, kümmt Roat.« Und wirk­lich, ehe fünf Mi­nu­ten um wa­ren, er­schi­en das Paar wie­der auf dem Flur und trat von die­sem her auf die Stra­ße, wo der ver­bind­li­che Hr­ad­scheck nun­mehr rasch auf den Wa­gen zu­schritt und den Tritt her­un­ter­ließ, wäh­rend der Rei­sen­de, trotz­dem ihm die Pelz­müt­ze tief ge­nug im Ge­sicht saß, auch noch den Kra­gen sei­ner Wolfs­schur in die Hö­he klapp­te.

»Das ist recht«, sag­te Hr­ad­scheck. »Bes­ser be­wahrt als be­klagt. Und nun mach flink, Ja­kob, und ho­le den Kof­fer.«

Die­ser tat auch, wie be­foh­len, und als er mit dem Man­tel­sack wie­der un­ten war, saß der Rei­sen­de schon im Wa­gen und hat­te den von ihm als Trink­geld be­stimm­ten Gul­den vor sich auf das Spritz­le­der ge­legt. Oh­ne was zu sa­gen, wies er dar­auf hin und nick­te nur, als Ja­kob sich be­dank­te. Dann nahm er die Lei­ne ziem­lich un­ge­schickt in die Hand, wor­an wohl die gro­ßen Pelz­hand­schu­he schuld sein moch­ten, und fuhr auf das Orth­sche Ge­höft und die schat­ten­haft am Dorf­aus­gan­ge ste­hen­de Müh­le zu. Die­se ging nicht; der Wind weh­te zu hef­tig.

Hr­ad­scheck sah dem auf dem schlech­ten We­ge lang­sam sich fort­be­we­gen­den Fuhr­werk ei­ne Wei­le nach, sein Kopf war un­be­deckt, und sein spär­lich blon­des Haar flog ihm um die Stirn. Es war aber, als ob die Küh­lung ihn er­qui­cke. Als er wie­der in den Flur trat, fand er Ja­kob, der sich das Gul­den­stück an­sah.

»Ge­fällt dir wohl? Ei­nen Gul­den gibt nicht je­der. Ein fei­ner Herr!«

»Dat sall woll sein. Awers wor­ümm he man so still wihr? He segg­te joa ke­en Wuhrt nich.«

»Nein, er hat­te wohl noch nicht aus­ge­sch­la­fen«, lach­te Hr­ad­scheck. »Is ja erst fünf.«

»Ver­steiht sich. Klock feiv red ick ook nich veel.«

Ach­tes Ka­pi­tel

Der Wind hielt an, aber der Him­mel klär­te sich, und bei hel­lem Son­nen­schein fuhr um Mit­tag ein Jagd­wa­gen vor dem Tsche­chi­ner Gast­hau­se vor. Es war der Fried­rich­sau­er Amts­rat; Tra­keh­ner Rapp­hengs­te, der Kut­scher in Liv­ree. Hr­ad­scheck er­schien in der La­den­tür und grüß­te re­spekt­voll, fast de­vot.

»Tag, lie­ber Hr­ad­scheck; brin­gen Sie mir ei­nen >Luft< oder lie­ber gleich zwei; mein Kut­scher wird auch nichts da­ge­gen ha­ben. Nicht wahr, Jo­hann? Ei­ne wah­re Hun­de­käl­te. Und da­bei die­se Son­ne.«

Hr­ad­scheck ver­beug­te sich und rief in den La­den hin­ein: »Zwei Pfef­fer­minz, Ede; rasch!« und wand­te sich dann mit der Fra­ge zu­rück, wo­mit er sonst noch die­nen kön­ne.

»Mir mit nichts, lie­ber Hr­ad­scheck, aber and­ren Leu­ten. Oder we­nigs­tens der Ob­rig­keit. Da liegt ein Fuhr­werk un­ten in der Oder, wahr­schein­lich fehl­ge­fah­ren und in der Dun­kel­heit vom Damm ge­stürzt.«

»Wo, Herr Amts­rat?«

»Hier gleich. Kei­ne tau­send Schritt hin­ter Orths Müh­le.«

»Gott im Him­mel, ist es mög­lich! Aber wol­len der Herr Amts­rat nicht bei Schul­ze Woy­tasch mit vor­fah­ren?«

»Kann nicht, Hr­ad­scheck; ist mir zu sehr aus der Richt. Der Reit­wei­ner Graf er­war­tet mich, und ha­be mich schon ver­spä­tet. Und zu hel­fen ist oh­ne­hin nicht mehr, so­viel hab ich ge­sehn. Aber al­les muß doch sei­nen Schick ha­ben, auch Tod und Un­glück. Adieu… Vor­wärts!«

Und da­mit gab er dem Kut­scher ei­nen Tipp auf die Schul­ter, der sei­ne Tra­keh­ner wie­der an­trieb und we­nigs­tens ei­nen Ver­such mach­te, trotz der grund­lo­sen We­ge das Ver­säum­te nach Mög­lich­keit wie­der ein­zu­brin­gen.

Hr­ad­scheck mach­te gleich Lärm und schick­te Ja­kob zu Schul­ze Woy­tasch, wäh­rend er selbst zu Ku­ni­cke hin­über­ging, der eben sei­nen Mit­tags­schlaf hielt.

»Stör dich nicht gern um die­se Zeit, Ku­ni­cke; Schlaf ist mir al­le­mal hei­lig, und nun gar dei­ner! Aber es hilft nichts, wir müs­sen hin­aus. Der Fried­rich­sau­er Amts­rat war eben da und sag­te mir, daß ein Fuhr­werk in der Oder lie­ge. Mein Gott, wenn es Szul­ski wä­re!«

»Wird wohl«, gähn­te Ku­ni­cke, dem der Schlaf noch in al­len Glie­dern steck­te, »wird wohl… Aber er woll­te ja nicht hö­ren, als ich ihm ges­tern abend sag­te: >Nicht so früh, Szul­ski, nicht so früh…< Den­ke doch bloß vo­ri­ges Jahr, wie die Post run­ter­fiel und der ar­me Kerl von Pos­til­lon gleich mau­se­tot. Und der kann­te doch un­sern Damm! Und nu solch Pohl­scher, solch Bru­der Kra­kau­er. Na, wir wer­den ja sehn.«

In­zwi­schen hat­te sich Ku­ni­cke zu­recht­ge­macht und war erst in ho­he Bruchs­tie­fel und dann in ei­nen di­cken grau­grü­nen Flaus­rock hin­ein­ge­fah­ren. Und nun nahm er sei­ne Müt­ze vom Rie­gel und ei­nen Pi­ken­stock aus der Ecke.

»Komm!«

Da­mit tra­ten er und Hr­ad­scheck vom Flur her auf die Trep­pen­ram­pe hin­aus.

Der Wind blies im­mer stär­ker, und als bei­de, so gut es ging, von oben her sich um­sa­hen, sa­hen sie, daß Schul­ze Woy­tasch, der schon an­der­wei­tig von dem Un­glück ge­hört ha­ben muß­te, die Dorf­stra­ße her­un­ter­kam. Er hat­te sei­ne Po­nies, bril­lan­te klei­ne Tra­ber, ein­span­nen las­sen und fuhr, al­ler Po­li­zei­re­gel zum Trotz, über den auf­ge­schüt­te­ten Gang­weg hin, was er sich als Dorf­ob­rig­keit schon er­lau­ben konn­te. Zu­dem durft er sich mit Dring­lich­keit ent­schul­di­gen. Als er dicht an Ku­ni­ckes Ram­pe her­an war, hielt er und rief bei­den zu: »Wollt auch hin­aus? Na­tür­lich. Im­mer auf­stei­gen. Aber rasch.« Und im nächs­ten Au­gen­bli­cke ging es auf dem auf­ge­schüt­te­ten We­ge in vol­lem Tra­be wei­ter, auf Orths Ge­höft und die Müh­le zu. Hr­ad­scheck saß vorn ne­ben dem Kut­scher, Ku­ni­cke ne­ben dem Schul­zen. Das war so Re­gel und Ord­nung, denn ein Bau­ern­gut geht vor Gast­haus und Kram­la­den.

Gleich hin­ter der Müh­le be­gann die lang­sam und all­mäh­lich zum Damm an­stei­gen­de Schrä­gung. Oben war der Weg et­was bes­ser, aber im­mer noch schlecht ge­nug, so daß es sich emp­fahl, dicht am Damm­rand ent­lang­zu­fah­ren, wo, we­gen des we­ni­ger auf­ge­weich­ten Bo­dens, die Rä­der auch we­ni­ger tief ein­schnit­ten.

»Paß Ach­tung«, sag­te Woy­tasch, »sonst lie­gen wir auch un­ten.«

Und der Kut­scher, dem sel­ber ängst­lich sein moch­te, lenk­te so­fort auf die Mit­te des Damms hin­über, trotz­dem er hier lang­sa­mer fah­ren muß­te.

Sah man von der Fähr­lich­keit der Si­tua­ti­on ab, so war es ei­ne wun­der­vol­le Fahrt und das sich weit­hin dar­bie­ten­de Bild von ei­ner ge­wis­sen Groß­ar­tig­keit. Rechts­hin grü­ne Win­ter­saat, so weit das Au­ge reich­te, nur mit ein­zel­nen Tüm­peln, Häu­sern und Pap­pel­wei­den da­zwi­schen, zur Lin­ken aber die von Re­gen­güs­sen hoch an­ge­schwol­le­ne Oder, mehr ein Haff jetzt als ein Strom. Wü­tend kam der Süd­ost vom jen­sei­ti­gen Ufer her­über und trieb die grau­gel­ben Wel­len mit sol­cher Ge­walt an den Damm, daß es wie ei­ne Bran­dung war. Und in eben die­ser Bran­dung stan­den ge­kröpf­te Wei­den, nur noch den häß­li­chen Kopf über dem Was­ser, wäh­rend, auf der neu­mär­ki­schen Sei­te, der blau­schwar­ze Strich ei­ner Kie­fern­wal­dung in grel­lem, un­heim­li­chem Son­nen­schei­ne da­lag.

Bis da­hin war au­ßer des Schul­zen An­ruf an den Kut­scher kein Wort laut ge­wor­den, jetzt aber sag­te Hr­ad­scheck, in­dem er sich zu den bei­den hin­ter ihm Sit­zen­den um­dreh­te: »Der Wind wird ihn run­ter­ge­weht ha­ben.«

»Un­sinn!« lach­te Woy­tasch, »Ihr müßt doch sehn, Hr­ad­scheck, der Wind kommt ja von da, von drü­ben. Wenn der schuld wä­re, läg er hier rechts vom Damm und nicht nach links hin in der Oder… Aber seht nur, da wan­ken ja schon wel­che her­um und hal­ten sich die Hü­te fest. Fahr zu, daß wir nicht die letz­ten sind.«

Und ei­ne Mi­nu­te dar­auf hiel­ten sie ge­rad an der Stel­le, wo das Un­glück sich zu­ge­tra­gen hat­te. Wirk­lich, Orth war schon da, mit ihm ein paar sei­ner Mühl­knech­te, des­glei­chen Miet­zel und Quaas, de­ren aus­ge­bau­te Ge­höf­te ganz in der Nä­he la­gen. Al­les be­grüß­te sich und klet­ter­te dann ge­mein­schaft­lich den Damm hin­un­ter, um un­ten ge­nau zu se­hen, wie‘s stün­de. Die Bö­schung war glatt, aber man hielt sich an dem Werft- und Wei­den­ge­strüpp. Das über­all stand. Un­ten an­ge­kom­men, sah man be­stä­tigt, was von An­fang an nie­mand be­zwei­felt hat­te: Szuls­kis Ein­spän­ner lag wie ge­ken­tert im Was­ser, das Ver­deck nach un­ten, die Rä­der nach oben; von dem Pfer­de sah man nur dann und wann ein von den Wel­len über­schäum­tes Stück Hin­ter­teil, wäh­rend die Sche­re, dar­in es ein­ge­spannt ge­we­sen, wie ein Wahr­zei­chen aus dem Strom auf­rag­te. Den Man­tel­sack hat­ten die Wel­len an den Damm ge­spült, und nur von Szul­ski selbst ließ sich nichts ent­de­cken.

»Er ist nach Kie­nitz hin weg­ge­schwemmt«, sag­te Schul­ze Woy­tasch. »Aber weit weg kann er nicht sein; die Bran­dung geht ja schräg ge­gen den Damm.«

Und da­bei mar­schier­te man trupp­wei­se wei­ter, von Ge­strüpp zu Ge­strüpp, und durch­such­te je­de Stel­le.

»Der Pelz muß doch oben­auf schwim­men.«

»Ja, der Pelz«, lach­te Ku­ni­cke. »Wenn‘s bloß der Pelz wär. Aber der Pohl­sche steckt ja drin.«

Es war der Ku­ni­cke­sche Trupp, der so plau­der­te, ganz wie bei Dachs­gra­ben und Hüh­ner­jagd, wäh­rend der den an­dern Trupp füh­ren­de Hr­ad­scheck mit ei­nem Ma­le rief: »Ah, da ist ja sei­ne Müt­ze!«

Wirk­lich, Szuls­kis Pelz­müt­ze hing an dem kur­zen Ge­äst ei­ner Kropf­wei­de.

»Nun, ha­ben wir die«, fuhr Hr­ad­scheck fort, »so wer­den wir ihn auch sel­ber bald ha­ben.«

»Wenn wir nur ein Boot hät­ten. Aber es kann hier nicht tief sein, und wir müs­sen im­mer pei­len und Grund su­chen.«

Und so ge­schah‘s auch. Aber al­les Mes­sen und Pei­len half nichts, und es blieb bei der Müt­ze, die der ei­ne der bei­den Mül­ler­knech­te mitt­ler­wei­le mit ei­nem Ha­ken her­an­ge­holt hat­te. Zu­gleich wur­de der Wind im­mer schnei­den­der und käl­ter, so daß Ku­ni­cke, der noch von Möckern und Mont­mi­rail her ei­nen Rheu­ma­tis­mus hat­te, kei­ne Lust mehr zur Fort­set­zung ver­spür­te. Schul­ze Woy­tasch auch nicht.

»Ich wer­de Gens­darm Ge­el­haar nach Kie­nitz und Güs­te­biese schi­cken«, sag­te die­ser. »Ir­gend­wo muß er doch an­trei­ben. Und dann wol­len wir ihm ein or­dent­li­ches Be­gräb­nis ma­chen. Nicht wahr, Hr­ad­scheck? Die Hälf­te kann die Ge­mein­de ge­ben.«

»Und die and­re Hälf­te ge­ben wir«, setz­te Ku­ni­cke hin­zu. »Denn wir sind doch ei­gent­lich ein biß­chen schuld. Oder ei­gent­lich ganz ge­hö­rig. Er war ges­tern abend ver­dammt fiß­lig und man bloß noch so­so. War er denn wohl ka­t­holsch?«

»Na­tür­lich war er«, sag­te Woy­tasch. »Wenn ei­ner Szul­ski heißt und aus Kra­kau kommt, ist er ka­t­holsch. Aber das schadt nichts. Ich hin für Auf­klä­rung. Der Al­te Frit­ze war auch für Auf­klä­rung. Je­der nach sei­ner Façon…«

»Ver­steht sich«, sag­te Ku­ni­cke. »Ver­steht sich. Und dann am En­de, wir wis­sen auch nicht, das heißt, ich mei­ne, so ganz be­stimmt wis­sen wir nicht, ob er ein Ka­t­hol­scher war oder nich. Un was man nich weiß, macht ei­nen nich heiß. Nicht wahr, Quaas?«

»Nein, nein. Was man nicht weiß, macht ei­nen nicht heiß. Und Quaa­sen auch nicht.«

Al­le lach­ten, und selbst Hr­ad­scheck, der bis da­hin ei­ne wür­di­ge Zu­rück­hal­tung ge­zeigt hat­te, stimm­te mit ein.

Neun­tes Ka­pi­tel

Der To­te fand sich nicht, der Wa­gen aber, den man mü­he­voll aus dem Was­ser her­auf­ge­holt hat­te, wur­de nach dem Dorf ge­schafft und in Ku­ni­ckes gro­ße Scheu­ne ge­stellt. Da stand er nun schon zwei Wo­chen, um ent­we­der ab­ge­holt oder auf An­trag der Kra­kau­er Fir­ma ver­stei­gert zu wer­den.

Im Dor­fe gab es in­zwi­schen viel Ge­re­de, das al­ler Or­ten dar­auf hin­aus­lief: »Es sei was pas­siert und es stim­me nicht mit den Hr­ad­schecks. Hr­ad­scheck sei frei­lich ein fei­ner Vo­gel und Spaß­ma­cher und kön­ne Witz­chen und Ge­schich­ten er­zäh­len, aber er hab es hin­ter den Oh­ren, und was die Frau Hr­ad­scheck an­ge­he, die vor Vor­nehm­heit nicht sp­re­chen kön­ne, so wis­se je­der, stil­le Was­ser sei­en tief. Kurz­um, es sei bei­den nicht recht zu traun und der Pohl­sche wer­de wohl ganz wo­an­ders lie­gen als in der Oder.« Zum Über­fluß griff auch noch un­ser Freund, der Kan­tors­sohn, der sich je­des Skan­dals mit Vor­lie­be be­mäch­tig­te, in die Sai­ten sei­ner Lei­er, und all­abend­lich, wenn die Knech­te, mit de­nen er auf du und du stand, vom Kru­ge her durchs Dorf zo­gen, san­gen sie nach be­kann­ter Me­lo­die:

»Mor­gen­rot!

Abel schlug den Kain tot.

Ges­tern noch bei vol­len Fla­schen,

Mor­gens aus­ge­leer­te Ta­schen

Und ein küh­les, küh­les Gra-ab.«

All dies kam zu­letzt auch dem Küs­tri­ner Ge­richt zu Oh­ren, und wie­wohl es nicht viel bes­ser als Klatsch war, dem al­les Be­weis­kräf­ti­ge fehl­te, so sah sich der Vor­sit­zen­de des Ge­richts, Jus­tiz­rat Vo­win­kel, doch ver­an­laßt, an sei­nen Duz- und Lo­gen­bru­der Ec­ce­li­us ei­ni­ge Fra­gen zu rich­ten und da­bei Er­kun­di­gun­gen über das Vor­le­ben der Hr­ad­schecks ein­zu­zie­hen.

Das war am 7. De­zem­ber, und noch am sel­ben Ta­ge schrieb Ec­ce­li­us zu­rück:

»Lie­ber Bru­der. Es ist mir sehr will­kom­men, in die­ser Sa­che das Wort neh­men und Zeug­nis zu Guns­ten der bei­den Hr­ad­schecks ab­le­gen zu kön­nen. Man ver­le­um­det sie, weil man sie be­nei­det, be­son­ders die Frau. Du kennst un­se­re Brü­cher; sie sind hoch­fah­rend und stei­gern ih­ren Dün­kel bis zum Haß ge­gen al­les, was sich ih­nen gleich oder wohl gar über­le­gen glaubt. Aber ad rem. Er, Hr­ad­scheck, ist klei­ner Leu­te Kind aus Neu-Le­win und, wie sein Na­me be­zeugt, von böh­mi­scher Ex­trak­ti­on. Du weißt, daß Neu-Le­win in den acht­zi­ger Jah­ren mit böh­mi­schen Ko­lo­nis­ten be­setzt wur­de. Doch dies bei­läu­fig. Uns­res Hr­ad­scheck Va­ter war Zim­mer­mann, der, nach Art sol­cher Leu­te, den Sohn für das­sel­be Hand­werk be­stimm­te. Und un­ser Hr­ad­scheck soll denn auch wirk­lich als Zim­mer­mann ge­wan­dert und in Ber­lin be­schäf­tigt ge­we­sen sein. Aber es miß­fiel ihm, und so fing er, als er vor et­wa fünf­zehn Jah­ren nach Neu-Le­win zu­rück­kehr­te, mit ei­nem Kram­ge­schäft an, das ihm auch glück­te, bis er, um ei­nes ihm un­be­quem wer­den­den >Ver­hält­nis­ses< wil­len, den La­den auf­gab und den Ent­schluß faß­te, nach Ame­ri­ka zu ge­hen. Und zwar über Hol­land. Er kam aber nur bis ins Han­nö­ver­sche, wo er, in der Nä­he von Hil­des­heim, al­so ka­tho­li­sche Ge­gend, in ei­ner gro­ßen gast­haus­ar­ti­gen Dorf­her­ber­ge Quar­tier nahm. Hier traf es sich, daß an dem­sel­ben Ta­ge die seit Jahr und Tag in der Welt um­her­ge­zo­ge­ne Toch­ter des Hau­ses, krank und elend von ih­ren Fahr­ten und Aben­teu­ern – sie war mut­maß­lich Schau­spie­le­rin ge­we­sen -, zu­rück­kam und ei­ne furcht­ba­re Sze­ne mit ih­rem Va­ter hat­te, der ihr nicht nur die bö­ses­ten Na­men gab, son­dern ihr auch Zu­flucht und Auf­nah­me ver­wei­ger­te. Hr­ad­scheck, von dem Un­glück und wahr­schein­lich mehr noch von dem ei­gen­ar­ti­gen und ge­win­nen­den We­sen der jun­gen Frau ge­rührt, er­griff Par­tei für sie, hielt um ih­re Hand an, was dem Va­ter wie der gan­zen Fa­mi­lie nur ge­le­gen kam, und hei­ra­te­te sie, nach­dem er sei­nen Aus­wan­de­rungs­plan auf­ge­ge­ben hat­te. Bald da­nach, um Mar­ti­ni her­um, über­sie­del­ten bei­de hier­her, nach Tsche­chin, und schon am ers­ten Ad­vents­sonn­ta­ge kam die jun­ge Frau zu mir und sag­te, daß sie sich zur Lan­des­kir­che hal­ten und evan­ge­lisch ge­traut sein wol­le. Was denn auch ge­schah und da­mals (es geht jetzt ins zehn­te Jahr) ei­nen gro­ßen Ein­druck auf die Bau­ern mach­te. Daß der klei­ne Gott mit dem Bo­gen und Pfeil in dem Le­ben bei­der ei­ne Rol­le ge­spielt hat, ist mir un­zwei­fel­haft, eben­so daß bei­de sei­nen Ver­su­chun­gen un­ter­le­gen sind. Auch sonst noch, wie nicht be­strit­ten wer­den soll, blei­ben ei­ni­ge dunk­le Punk­te, trotz­dem es an an­schei­nend of­fe­nen Be­kennt­nis­sen nie ge­fehlt hat. Aber wie dem auch sein mö­ge, mir liegt es pflicht­mä­ßig ob, zu be­zeu­gen, daß es wohl­an­stän­di­ge Leu­te sind, die, so­lang ich sie ken­ne, sich gut ge­hal­ten und all­zeit in ei­ner christ­li­chen Ehe ge­lebt ha­ben. Ein­zel­nes, was ihm, nach der ent­ge­gen­ge­setz­ten Sei­te hin, vor läng­rer oder kürz­rer Zeit nach­ge­sagt wur­de, mag auf sich be­ruhn, um so mehr, als mir Sit­ten­stolz und Tu­gend­rich­te­rei von Grund aus ver­haßt sind. Die Frau hat mei­ne be­son­de­re Sym­pa­thie. Daß sie den al­ten Aber­glau­ben ab­ge­schwo­ren, hat sie mir, wie Du be­grei­fen wirst, von An­fang an lieb und wert ge­macht.«

Die Wir­kung die­ses Ec­ce­li­us­schen Brie­fes war, daß das Küs­tri­ner Ge­richt die Sa­che vor­läu­fig fal­len­ließ; als dem­sel­ben aber zur Kennt­nis kam, »daß Nacht­wäch­ter Me­wis­sen, nach neu­er­dings vor Schul­ze Woy­tasch ge­mach­ten Aus­sa­gen, an je­nem Ta­ge, wo das Un­glück sich er­eig­ne­te, so zwi­schen fünf und sechs (um die Zeit al­so, wo das Wet­ter am tolls­ten ge­we­sen) die Frau Hr­ad­scheck zwi­schen den Pap­peln an der Müh­le ge­sehn ha­ben woll­te, ganz so, wie wenn sie halb ver­bies­tert vom Damm her kä­me« – da wa­ren die Ver­dachts­grün­de ge­gen Hr­ad­scheck und sei­ne Frau doch wie­der so ge­wach­sen, daß das Ge­richt ein­zu­schrei­ten be­schloß. Aber frei­lich auch jetzt noch un­ter Ver­mei­dung je­des Eklats, wes­halb Vo­win­kel an Ec­ce­li­us, dem er oh­ne­hin noch ei­nen Dan­kes­brief schul­de­te, die fol­gen­den Zei­len rich­te­te:

»Ha­be Dank, lie­ber Bru­der, für Dei­nen aus­führ­li­chen Brief vom 7. d. M., dem ich, so­weit er ein Ur­teil ab­gibt, in mei­nem Her­zen zu­stim­me. Hr­ad­scheck ist ein durch­aus net­ter Kerl, weit über sei­nen Stand hin­aus, und Du wirst Dich ent­sin­nen, daß er letz­ten Win­ter so­gar in Vor­schlag war, und zwar auf mei­nen spe­zi­el­len An­trag. Das al­les steht fest. Aber zu mei­nem Be­dau­ern will die Ge­schich­te mit dem Po­len nicht aus der Welt, ja, die Ver­dachts­grün­de ha­ben sich ge­mehrt, seit neu­er­dings auch eu­er Me­wis­sen ge­spro­chen hat. And­rer­seits frei­lich ist im­mer noch zu we­nig Sub­stanz da, um oh­ne wei­te­res ei­ne Ver­haf­tung ein­tre­ten zu las­sen, wes­halb ich vor­ha­be, die Hr­ad­scheck­schen Dienst­leu­te, die doch schließ­lich al­les am bes­ten wis­sen müs­sen, zu ver­neh­men und von Ih­rer Aus­sa­ge mein wei­te­res Tun oder Nicht­tun ab­hän­gig zu ma­chen. Un­ter al­len Um­stän­den aber wol­len wir al­les, was Auf­sehn ma­chen könn­te, nach Mög­lich­keit ver­mei­den. Ich tref­fe mor­gen ge­gen 2 in Tsche­chin ein, fah­re gleich bei Dir vor und bit­te Dich, Sor­ge zu tra­gen, daß ich den Knecht Ja­kob samt den bei­den an­dern Per­so­nen, de­ren Na­men ich ver­ges­sen, in Dei­nem Hau­se vor­fin­de.«

So des Jus­tiz­rats Brief. Er selbst hielt zu fest­ge­setz­ter Zeit vor dem Pfarr­haus und trat in den Flur, auf dem die drei vor­ge­for­der­ten Dienst­leu­te schon stan­den. Vo­win­kel grüß­te sie, sprach, in der Ab­sicht, ih­nen Mut zu ma­chen, ein paar freund­li­che Wor­te zu je­dem und ging dann, nach­dem er sich aus sei­nem Man­tel her­aus­ge­wi­ckelt, auf Ec­ce­li­us‘ Stu­dier­stu­be zu, dar­in nicht nur der gro­ße schwar­ze Ka­chel­ofen, son­dern auch der wohl­ar­ran­gier­te Kaf­fee­tisch je­den Ein­tre­ten­den über­aus an­hei­melnd be­rüh­ren muß­te. Dies war denn auch bei Vo­win­kel der Fall. Er wies la­chend dar­auf hin und sag­te: »Vor­treff­lich, Freund. Höchst ein­la­dend. Aber ich den­ke, wir las­sen das bis nach­her. Erst das Ge­schäft­li­che. Das bes­te wird sein, du stellst die Fra­gen und ich be­gnü­ge mich mit der Bei­sit­zer-Rol­le. Sie wer­den dir un­be­fan­ge­ner ant­wor­ten als mir.« Da­bei nahm er in ei­nem ne­ben dem Ofen ste­hen­den ho­hen Lehn­stuh­le Platz, wäh­rend Ec­ce­li­us, auf den Flur hin­aus, nach Ede rief und sich‘s nun erst, nach Er­le­di­gung al­ler Prä­li­mi­na­ri­en, an sei­nem mäch­ti­gen Schreib­ti­sche be­quem mach­te, des­sen gro­ßes, zwi­schen ei­nem Sand- und ei­nem Tin­ten­faß ste­hen­des Ala­bas­ter­kreuz ihn von hin­ten her über­rag­te.

Der Ge­ru­fe­ne war in­zwi­schen ein­ge­tre­ten und blieb an der Tür stehn. Er hat­te sicht­lich sein Bes­tes ge­tan, um ei­nen ma­nier­li­chen Men­schen aus sich zu ma­chen, aber nur mit schwa­chem Er­folg. Sein braun­ro­tes Haar lag gro­ßen­teils blank an den Schlä­fen, wäh­rend ihm das we­ni­ge, was ihm sonst noch ver­blie­ben war, nach Art ei­ner Spitz­flam­me zu Häup­ten stand. Am schlimms­ten aber wa­ren sei­ne win­ter­li­chen Hän­de, die, wie ei­ne Welt für sich, aus dem über­all zu kurz ge­wor­de­nen Ein­seg­nungs­rock her­vor­sa­hen.

»Ede«, sag­te der Pas­tor freund­lich, »du sollst über Hr­ad­scheck und den Po­len aus­sa­gen, was du weißt.«

Der Jun­ge schwieg und zit­ter­te.

»Wa­rum sagst du nichts? Wa­rum zit­terst du?«

»Ick jrul mi so.«

»Vor wem? Vor uns?«

Ede schüt­tel­te mit dem Kopf

»Nun, vor wem denn?«

»Vor Hr­ad­sche­cken…«

Ec­ce­li­us, der al­les zu Guns­ten der Hr­ad­schecks ge­wen­det zu se­hen wünsch­te, war mit die­ser Aus­sa­ge we­nig zu­frie­den, nahm sich aber zu­sam­men und sag­te: »Vor Hrad­scheck. Wa­rum vor Hr­ad­scheck? Was ist mit ihm? Be­han­delt er dich schlecht?«

»Nei.«

»Nu wie denn?«

»Ick weet nich… He is so an­ners.«

»Nu gut. An­ders. Aber das ist nicht ge­nug,font face=”Nim­bus Ro­man No9 L, se­rif”¨¨¨ Ede. Du mußt uns mehr sa­gen. Wor­in ist er an­ders? Was tut er? Trinkt er? Oder flucht er? Oder ist er in Angst?«

»Nei.«

»Nu wie denn? Was denn?«

»Ick weet nich… He is so an­ners.«

Es war er­sicht­lich, daß aus dem ein­ge­schüch­ter­ten Jun­gen nichts wei­ter her­aus­zu­brin­gen sein wür­de, wes­halb Vo­win­kel dem Freun­de zu­blink­te, die Sa­che fal­len­zu­las­sen. Die­ser brach denn auch wirk­lich ab und sag­te: »Nun, es ist gut, Ede. Geh. Und schi­cke die Ma­le her­ein.«

Die­se kam und war in ih­rem Kopf- und Brust­tuch, das sie heu­te wie sonn­täg­lich an­ge­legt hat­te, kaum wie­der­zu­er­ken­nen. Sie sah klar aus den Au­gen, war un­be­fan­gen und er­klär­te, nach­dem Ec­ce­li­us sei­ne Fra­ge ge­stellt hat­te, daß sie nichts wis­se. Sie ha­be Szul­ski gar nicht ge­sehn, »un ihrst um Klo­cker vier oder noch en be­ten da­noah« wä­re Hrad­scheck an ih­re Kam­mer­tür ge­kom­men und hät­te ge­sagt, daß sie rasch auf­stehn und Kaf­fee ko­chen sol­le. Das ha­be sie denn auch ge­tan, und grad als sie den kein ge­spal­ten, sei Ja­kob ge­kom­men und hab ihr so im Vor­über­gehn ge­sagt, »daß er den Pohl­schen ge­weckt ha­be; der Pohl­sche hab aber ‚nen Do­den­schlaf ge­habt und ha­be gar nich ge­ant­wor­tet. Und da hab er an die Dür ge­bul­lert.«

All das er­zähl­te Ma­le hin­ter­ein­an­der fort, und als der Pas­tor zum Schlus­se frug, ob sie nicht noch wei­ter was wis­se, sag­te sie: »Nein, wei­ter wis­se sie nichts, oder man bloß noch das ei­ne, daß die Kan­ne, wie sie das Kaf­fee­ge­schirr her­aus­ge­holt ha­be, bei­nah noch ganz voll ge­we­sen sei. Und sei doch ein greu­li­ches Wet­ter ge­we­sen und kalt und naß. Und wenn sonst ei­ner des Mor­gens ab­rei­se, so tränk er mehrs­tens oder ei­gent­lich im­mer die Kan­ne leer, un von Zu­cker üb­rig­las­sen wär gar kei­ne Re­de nich. Und man­che näh­men ihn auch mit. Aber der Pohl­sche hät­te kei­ne drei Schluck ge­trun­ken, und sei ei­gent­lich al­les noch so ge­we­sen, wie sie‘s rein­ge­bracht ha­be. Wei­ter wis­se sie nichts.«

Da­nach ging sie, und der drit­te, der nun kam, war Ja­kob.

»Nun, Ja­kob, wie war es?« frag­te Ec­ce­li­us; »du weißt, um was es sich han­delt. Was du Ma­len und mir schon vor­her ge­sagt hast, brauchst du nicht zu wie­der­ho­len. Du hast ihn ge­weckt, und er hat nicht ge­ant­wor­tet. Dann ist er die Trep­pe her­un­ter­ge­kom­men, und du hast ge­sehn, daß er sich an dem Ge­län­der fest­hielt, als ob ihm das ge­hen in dem Pelz schwer wür­de. Nicht wahr, so war es?«

»Joa, Herr Pas­tor.«

»Und wei­ter nichts?«

»Nei, wi­der nix. Un wihr man blot noch, dat he so ‚n be­ten lütt ut­soah, un…«

»Und was?«

»Un dat he so still wihr un segg­te ke­en Wuhrd nich. Un as ick to em seg­gen deih: >Na ad­jes, Herr Szul­ski<, doa wihr he wed­der so bums­still un nick­te man blot so.«

Nach die­ser Aus­sa­ge trat auch Ja­kob ab, und die Pfarr­kö­chin brach­te den Kaf­fee. Vo­win­kel nahm ei­ne der Tas­sen und sag­te, wäh­rend er sich an das Fens­ter­brett lehn­te: »Ja, Freund, die Sa­che steht doch schlim­mer, als du wahr­ha­ben möch­test, und fast auch schlim­mer, als ich er­war­te­te.«

»Mag sein«, er­wi­der­te der Pas­tor. »Nach mei­nem Ge­fühl in­des, das ich selbst­ver­ständ­lich dei­ner bes­se­ren Er­fah­rung un­ter­ord­ne, be­deu­ten all die­se Din­ge gar nichts oder herz­lich we­nig. Der Jun­ge, wie du ge­sehn hast, konn­te vor Angst kaum sp­re­chen, und aus der Kö­chin Aus­sa­ge war doch ei­gent­lich nur das ei­ne fest­zu­stel­len, daß es Men­schen gibt, die viel, und and­re, die we­nig Kaf­fee trin­ken.«

»Aber Ja­kob!«

Ec­ce­li­us lach­te. »Ja, Ja­kob. >He wihr en be­ten to lütt<, das war das ei­ne, >un he wihr en be­ten to still<, das war das and­re. Willst du dar­aus ei­nen Strick für die Hr­ad­schecks drehn?«

»Ich will es nicht, aber ich fürch­te, daß ich es muß. Je­den­falls ha­ben sich die Ver­dachts­grün­de durch das, was ich eben ge­hört ha­be, mehr ge­mehrt als ge­min­dert, und ein Ver­fah­ren ge­gen den so man­nig­fach Be­las­te­ten kann nicht län­ger mehr hin­aus­ge­scho­ben wer­den. Er muß in Haft, wär es auch nur, um ei­ner Ver­dunk­lung des Tat­be­stan­des vor­zu­beu­gen.«

»Und die Frau?«

»Kann blei­ben. Über­haupt werd ich mich auf das Nö­tigs­te be­schrän­ken, und um auch jetzt noch al­les Auf­se­hen zu ver­mei­den, hab ich vor, ihn auf mei­nem Wa­gen, als ob es sich um ei­ne Spa­zier­fahrt han­del­te, mit nach Küs­trin zu neh­men.«

»Und wenn er nun schul­dig ist, wie du bei­nah glaubst oder we­nigs­tens für mög­lich hältst? Ist dir ei­ne sol­che Nach­bar­schaft nicht ei­ni­ger­ma­ßen ängst­lich?«

Vo­win­kel lach­te. »Man sieht, Ec­ce­li­us, daß du kein Kri­mi­na­list bist. Schuld und Mut ver­tra­gen sich schlecht zu­sam­men. Al­le Schuld lähmt.«

»Nicht im­mer.«

»Nein, nicht im­mer. Aber doch meist. Und al­le­mal da, wo das Ge­setz schon über ihr ist.«

Zehn­tes Ka­pi­tel

Die Ver­haf­tung Hr­ad­schecks er­folg­te zehn Ta­ge vor Weih­nach­ten. Jetzt war Mit­te Ja­nu­ar, aber die Küs­tri­ner Un­ter­su­chung rück­te nicht von der Stel­le, wes­halb es in Tsche­chin und den Nach­bar­dör­fern hieß. »Hr­ad­scheck wer­de mit nächs­tem wie­der ent­las­sen wer­den, weil nichts ge­gen ihn vor­lie­ge.« Ja, man be­gann auf das Ge­richt und den Ge­richts­di­rek­tor zu schel­ten, wo­bei sich‘s selbst­ver­ständ­lich traf, daß al­le die, die vor­her am lei­den­schaft­lichs­ten von ei­ner Hin­rich­tung ge­träumt hat­ten, jetzt in Ta­deln und Schmä­hen mit gu­tem Bei­spiel vor­an­gin­gen.

Vo­win­kel hat­te viel zu dul­den; kein Zwei­fel. Am aus­gie­bigs­ten in Schmä­hun­gen aber war man ge­gen die Zeu­gen, und der An­grif­fe ge­gen die­se wä­ren noch viel mehr gewe­sen, wenn man nicht gleich­zei­tig über sie ge­lacht hät­te. Der dum­me La­den­jun­ge, der Ede, so ver­si­cher­te man sich ge­gen­sei­tig, kön­ne doch nicht für voll an­ge­se­hen wer­den und die Ma­le mit ih­ren Som­mer­spros­sen und ih­rem nicht aus­ge­trun­ke­nen Kaf­fee wo­mög­lich noch we­ni­ger. Daß man bei den Hr­ad­schecks oft ei­nen wun­der­ba­ren Kaf­fee krie­ge, das wis­se je­der, und wenn al­le die, die das durch­ge­trich­ter­te Zi­cho­ri­en­zeug stehn­lie­ßen, auf Mord und Tot­schlag hin ver­klagt und ein­ge­zo­gen wer­den soll­ten, so sä­ße bald das hal­be Bruch hin­ter Schloß und Rie­gel. »Aber Ja­kob und der al­te Me­wis­sen?« hieß es dann wohl. In­des auch von die­sen bei­den woll­te die plötz­lich zu­guns­ten Hr­ad­schecks um­ge­stimm­te Ma­jo­ri­tät nichts wis­sen. Der duß­li­ge Ja­kob, von dem jetzt so viel ge­macht wer­de, ja, was hab er denn ei­gent­lich bei­ge­bracht? Doch nichts wei­ter als das ewi­ge »He wihr so ‚n be­ten still.« Aber du lie­ber Him­mel, wer ha­be denn Lust, um Klock fünf und bei stei­fem Süd­ost ei­nen lan­gen Schnack zu ma­chen? Und nun gar der al­te Me­wis­sen, der, so­lang er le­be, den Him­mel für ei­nen Du­del­sack an­ge­se­hen ha­be? Wahr­haf­tig, der kön­ne viel sa­gen, eh man‘ s zu glau­ben brau­che. »Mit ei­nem ka­ri­er­ten Tuch über dem Kopf. Und wenn‘s kein ka­ri­er­tes Tuch ge­we­sen, dann sei‘s ei­ne Pfer­de­de­cke ge­we­sen.« Oh, du himm­li­sche Gü­te! Mit ei­ner Pfer­de­de­cke! Die Hr­ad­scheck mit ei­ner Pfer­de­de­cke! Gibt es Pfer­de­de­cken oh­ne Flö­he? Nein. Und nun gar die­se schnipp­sche Pri­se, die sich ewig mit ih­rem tür­ki­schen Shawl her­um­ziert und noch öte­po­tö­ter is als die Reit­wein­sche Grä­fin!

So ging das Ge­re­de, das sich, an und für sich schon güns­tig ge­nug für Hr­ad­scheck, in Fol­ge klei­ner Vor­komm­nis­se mit je­dem neu­en Ta­ge güns­ti­ger ge­stal­te­te. Dar­un­ter war eins von be­sond­rer Wir­kung. Und zwar das fol­gen­de. Hei­lig­abend war ein Brief Hrad­schecks bei Ec­ce­li­us ein­ge­trof­fen, wor­in es hieß: »es ging‘ ihm gut, wes­halb er sich auch freu­en wür­de, wenn sei­ne Frau zum Fest her­über­kom­men und ei­ne Vier­tel­stun­de mit ihm plau­dern wol­le; Vo­win­kel hab es ei­gens ge­stat­tet, ver­steht sich, in Ge­gen­wart von Zeu­gen«. So die brief­li­che Mit­tei­lung, auf wel­che Frau Hr­ad­scheck, als sie durch Ec­ce­li­us da­von ge­hört, die­sem letz­te­ren so­fort ge­ant­wor­tet hat­te: »Sie wer­de die­se Rei­se nicht ma­chen, weil sie nicht wis­se, wie sie sich ih­rem Man­ne ge­gen­über zu be­neh­men ha­be. Wenn er schul­dig sei, so sei sie für im­mer von ihm ge­schie­den, ein­mal um ih­rer selbst, aber mehr noch um ih­rer Fa­mi­lie wil­len. Sie wol­le da­her lie­ber zum Abend­mahl ge­hen und ih­re Sa­che vor Gott tra­gen und bei der Ge­le­gen­heit den Him­mel in­stän­digst bit­ten, ih­res Man­nes Un­schuld recht bald an den Tag zu brin­gen.« So was hör­ten die Tsche­chi­ner gern, die sämt­lich höchst un­fromm wa­ren, aber nach Art der meis­ten Un­from­men ei­nen un­ge­heu­ren Re­spekt vor je­dem hat­ten, der »lie­ber zum Abend­mahl ge­hen und sei­ne Sa­che vor Gott tra­gen« als nach Küs­trin hin rei­sen woll­te.

Kurz­um, al­les stand gut, und es hät­te sich von ei­ner to­ta­len »Rück­er­obe­rung« des dem In­haf­tier­ten an­fangs durch­aus ab­ge­neig­ten Dor­fes sp­re­chen las­sen, wenn nicht ein Un­er­schüt­ter­li­cher ge­we­sen wä­re, der, so­bald Hr­ad­schecks Un­schuld be­haup­tet wur­de, re­gel­mä­ßig ver­si­cher­te: »Hr­ad­scheck? Den kenn ich. Der muß ans Mes­ser.«

Die­ser Un­er­schüt­ter­li­che war nie­mand Ge­rin­ge­res als Gens­darm Ge­el­haar, ei­ne sehr wich­ti­ge Per­son im Dorf, auf de­ren Au­to­ri­tät hin die Mehr­heit so­fort ge­schwo­ren hät­te, wenn ihr nicht sei­ne bitt­re Feind­schaft ge­gen Hr­ad­scheck und die klein­li­che Ver­an­las­sung da­zu be­kannt ge­we­sen wä­re. Ge­el­haar, gu­ter Gens­darm, aber noch bes­se­rer Sau­faus, war, um Ko­gnaks und Rums wil­len, durch vie­le Jah­re hin ein In­ti­mus bei Hrad­scheck ge­we­sen, bis die­ser ei­nes Ta­ges, des ewi­gen Gra­tis-Ein­schen­kens mü­de, mit mehr Über­mut als Klug­heit ge­sagt hat­te: »Hö­ren Sie, Ge­el­haar, Rum ist gut. Aber Rum kann ei­nen auch rum­brin­gen.« Auf wel­che Pro­vo­ka­ti­on hin (Hr­ad­scheck lieb­te der­g­lei­chen Wit­ze) der sich nun plötz­lich aufs ho­he Pferd set­zen­de Ge­el­haar mit hoch­ro­tem Ge­sicht ge­ant­wor­tet hat­te: »Ge­wiß, Herr Hr­ad­scheck. Was kann ei­nen nich al­les rum­brin­gen? Den ei­nen dies, den an­dern das. Und mit Ih­nen, mein lie­ber Herr, is auch noch nicht al­ler Ta­ge Abend.«

Von der aus die­sem Zwie­ge­spräch ent­stan­de­nen Feind­schaft wuß­te das gan­ze Dorf, und so kam es, daß man nicht viel dar­auf gab und im we­sent­li­chen bloß lach­te, wenn Ge­el­haar zum hun­derts­ten Ma­le ver­si­cher­te: »Der? Der muß ans Mes­ser.«

»Der muß ans Mes­ser«, sag­te Ge­el­haar, aber in Tsche­chin hieß es mit je­dem Ta­ge mehr: »Er kommt wie­der frei.«

Und »He kümmt wed­der rut« hieß es auch im Hau­se der al­ten Jeschke, wo die blon­de Nich­te, die Li­ne – die­sel­be, nach der Hr­ad­scheck bei sei­nen Gar­ten­be­geg­nun­gen mit der Al­ten im­mer zu fra­gen pfleg­te -, seit Weih­nach­ten zum Be­such war und an ei­ner Aus­stat­tung, wenn auch frei­lich nicht an ih­rer ei­ge­nen, ar­bei­te­te. Sie war ei­ne her­vor­ra­gend klu­ge Per­son, die, trotz­dem sie noch kei­ne sie­ben­und­zwan­zig zähl­te, sich in den ver­schie­dens­ten Le­bens­stel­lun­gen im­mer mit Glück ver­sucht hat­te: früh schon als Kin­der- und Haus­mäd­chen, dann als Näh­te­rin und schließ­lich als Pfarr­kö­chin in ei­nem neu­mär­ki­schen Dorf, in welch letz­trer Ei­gen­schaft sie nicht nur sämt­li­che Bet­stun­den mit­ge­macht, son­dern sich auch durch ei­nen ex­em­pla­risch sitt­li­chen Le­bens­wan­del aus­ge­zeich­net hat­te. Denn sie ge­hör­te zu de­nen, die, wenn en­ga­giert, in­ner­halb ih­res En­ga­ge­ments al­les Ge­for­der­te leis­ten, auch Ge­bet, Tu­gend und Treue.

Sol­cher For­de­run­gen ent­schlug sich nun frei­lich die Jeschke, die viel­mehr, wenn sie den Fa­den von ih­rem Wo­cken spann, im­mer nur Ge­schich­ten von be­güns­tig­ten und ge­nas­führ­ten Lieb­ha­bern hö­ren woll­te, be­son­ders von ei­nem Küs­tri­ner Fou­ra­ge-Be­am­ten, der drei Stun­den lang im Schnee hat­te war­ten müs­sen. Noch da­zu ver­geb­lich. All das freu­te die Jeschke ganz un­ge­mein, die dann re­gel­mä­ßig hin­zu­setz­te: »Joa, Li­ne, so wihr ick ook. Awers moak et man nich to dull.« Und dann ant­wor­te­te die­se: »Wie werd ich denn, Mut­ter Jeschke!« Denn sie nann­te sie nie Tan­te, weil sie sich der na­hen Ver­wandt­schaft mit der al­ten He­xe schä­men moch­te.

Plau­dern war bei­der Lust. Und plau­dernd sa­ßen bei­de Weib­sen auch heu­te wie­der.

Es war ein ziem­lich kal­ter Tag, und drau­ßen lag fuß­ho­her Schnee. Drin­nen aber war es be­hag­lich, das Rot­kehl­chen zwit­scher­te, die Wand­uhr ging in star­kem Schlag, und der Ka­chel­ofen tat das Sei­ne. Dem Ofen zu­nächst aber hock­te die Jeschke, wäh­rend Li­ne weit­ab an dem ganz mit Eis­blu­men über­deck­ten Fens­ter saß und sich ein Kuck­loch ge­pus­tet hat­te, durch das sie nun be­quem se­hen konn­te, was auf der Stra­ße vor­ging.

»Da kommt ja Gens­darm Ge­el­haar«, sag­te sie. »Grad über den Damm. Er muß drü­ben bei Ku­ni­cke ge­we­sen sein. Ver­steht sich, Ku­ni­cke früh­stückt um die­se Zeit. Und sieht auch so rot aus. Was er nur will? Er wird am En­de der ar­men Frau, der Hr­ad­sche­cken, ei­nen Be­such ma­chen wol­len. Is ja schon vier Wo­chen Stroh­wit­we.«

»Nei, nei«, lach­te die Al­te. »Dat deiht he nich. Dem is joa sein ejen all to veel, so lütt se is. Ne, ne, den kenn ick. Ge­el­haar is man blot noch för so.«

Und da­bei mach­te sie die Be­we­gung des Aus-der-Fla­sche-Trin­kens.

»Hast recht«, sag­te Li­ne. »Sieh, er kommt grad auf un­ser Haus zu.«

Und wirk­lich, un­ter die­sem Ge­spräch, wie‘s die Jeschke mit ih­rer Nich­te ge­führt hat­te, war Ge­el­haar von der Dorf­stra­ße her in ei­nen schma­len, bloß manns­brei­ten Gang ein­ge­tre­ten, der, an der Hr­ad­scheck­schen Ke­gel­bahn ent­lang, in den Gar­ten der al­ten Jeschke führ­te.

Von hier aus war auch der Ein­gang in das Hä­us­chen der Al­ten, das mit sei­nem Gie­bel nach der Stra­ße stand.

»Gu­ten Tag, Mut­ter Jeschke«, sag­te der Gens­darm. »Ah, und gu­ten Tag, Li­ne­ken. Oder ich muß jetzt wohl sa­gen Mam­sell Lin­chen.«

Li­ne, die den statt­li­chen Ge­el­haar (er hat­te bei den Gar­de­küras­sie­ren ge­dient), al­ler de­spek­tier­li­chen An­deu­tun­gen der Al­ten un­ge­ach­tet, kei­nes­wegs aus ih­rer Lis­te ge­stri­chen hat­te, stemm­te so­fort den lin­ken Fuß ge­gen ei­nen ihr ge­gen­über­ste­hen­den Bin­sen­stuhl und sah ihn zwin­kernd über das gro­ße Stück Lein­wand hin an, das sie, wie wenn sie‘s ab­mes­sen woll­te, mit ei­nem en­er­gi­schen Ruck und Puff vor sich aus­spann­te.

Die Wir­kung die­ser klei­nen Küns­te blieb auch nicht aus. So we­nigs­tens schien es Li­nen. Die Jeschke da­ge­gen wußt es bes­ser, und als Ge­el­haar auf ih­re mit Vor­be­dacht in Hoch­deutsch ge­spro­che­ne Fra­ge, »was ihr denn ei­gent­lich die Eh­re ver­schaf­fe«, mit ei­nem scherz­haft ge­mein­ten Fin­ger­zeig auf Li­ne ge­ant­wor­tet hat­te, lach­te sie nur und sag­te:

»Nei, nei, Herr Gens­darm. Ick weet schon, ick weet schon… Awers nu set­ten S‘ sich ihrst… Joa, diss‘ Hr­ad­scheck… he kümmt joa nu wed­der rut.«

»Ja, Mut­ter Jeschke«, wie­der­hol­te Ge­el­haar, »he kümmt nu wed­der rut. Das heißt, er kommt wie­der raus, wenn er nich drin bleibt.«

»Woll, woll. Wenn he nicht drin bliewt. Awers wor­ümm sall he drin blie­wen? Ke­en een hett joa wat siehn, un ke­en een hett joa wat ut­funn‘n. Un Se ook nich, Ge­el­haar.«

»Nein«, sag­te der Gens­darm. »Ich auch nich. Aber es wird sich schon was fin­den oder doch fin­den las­sen, und da­zu müs­sen Sie hel­fen, Mut­ter Jeschke. Ja, ja. So­viel weiß ich, die Hr­ad­scheck hat schon lan­ge kei­nen Schlaf mehr und ist im­mer trepp­auf und trepp­ab. Und wenn die Leu­te sa­gen, es sei bloß, weil sie sich um den Mann grä­me, so sag ich: Un­sinn, er is nich so und sie is nich so.«

»Nei, nei«, wie­der­hol­te die Jeschke. »He is nich so un se is nich so. De Hr­ad­schecks, nei, de sinn nich so.«

»Kei­nen or­dent­li­chen Schlaf al­so«, fuhr Ge­el­haar fort, »nich bei Tag und auch nich bei Nacht, und wankt im­mer so rum und is mal im Hof und mal im Gar­ten. Das hab ich von der Ma­le… Hö­ren Sie, Mut­ter Jeschke, wenn ich so mal nach­tens hier auf Pos­ten ste­hen könn­te! Das wä­re so was. Li­ne bleibt mit auf, und wir set­zen uns dann ans Fens­ter und wa­chen und ku­cken. Nich wahr, Li­ne?«

Li­ne, die schon vor­her das Weiß­zeug bei­sei­te ge­legt und ih­ren blon­den Zopf halb auf­ge­floch­ten hat­te, schlug jetzt mit dem lo­sen Bü­schel über ih­re lin­ke Hand und sag­te: »Will es mir noch über­le­gen, Herr Ge­el­haar. Ein ar­mes Mäd­chen hat nichts als sei­nen Ruf.«

Und da­bei lach­te sie.

»Küm­men S‘ man, Ge­el­haar«, trös­te­te die Jeschke, trotz­dem Trost ei­gent­lich nicht nö­tig war. »Küm­men S‘ man. Ick geih to Bett. Wat doa to siehn is, ick me­en hier bu­ten, dat hebb ick siehn, dat weet ick all. Un is üm­mer dat Sül­wig­te.«

»Dat Sül­wig­te?«

»Joa. Nu nich mihr. Awers as noch ke­en Snee wihr. Doa…«

»Da. Was denn?«

»Doa wihr se nach­tens üm­mer so rümm hier.«

»So, so«, sag­te der Gens­darm und tat vor­sich­tig al­ler­lei wei­te­re Fra­gen. Und da sich die Jeschke von gu­ten Be­zie­hun­gen zur Dorf­po­li­zei nur Vor­tei­le ver­sp­re­chen konn­te, so wur­de sie trotz al­ler sons­ti­gen Zu­rück­hal­tung im­mer mit­teil­sa­mer und er­zähl­te dem Gens­dar­men Neu­es und Al­tes, na­ment­lich auch das, was sie da­mals, in der stür­mi­schen No­vem­ber­nacht, von ih­rer Kü­chen­tür aus be­ob­ach­tet hat­te. Hr­ad­scheck ha­be lang da­ge­stan­den, ein flack­rig Licht in der Hand. »Un wihr bi­noah so, as ob he wull, dat man ein seihn sull.« Und dann hab er ei­nen Spa­ten ge­nom­men und sei bis an den Birn­baum ge­gan­gen. Und da hab er ein Loch ge­gra­ben. An der Gar­ten­tür aber ha­be was ge­stan­den wie ein Kof­fer oder Korb oder ei­ne Kis­te. Was? Das ha­be sie nicht ge­nau se­hen kön­nen. Und dann hab er das Loch wie­der zu­ge­schüt­tet.

Ge­el­haar, der sich bis da­hin, al­lem Dienst­ei­fer zum Trotz, eben­so­sehr mit Li­ne wie mit Hr­ad­scheck be­schäf­tigt hat­te, ja, viel­leicht mehr noch Cour­ma­cher als Be­am­ter ge­we­sen war, war un­ter die­sem Be­richt sehr ernst­haft ge­wor­den und sag­te, wäh­rend er mit Wich­tig­keits­mie­ne sei­nen ge­dun­se­nen Kopf hin und her wieg­te: »Ja, Mut­ter Jeschke, das tut mir leid. Aber es wird Euch Un­ge­le­gen­hei­ten ma­chen.«

»Wat? Wat, Ge­el­haar?«

»Un­ge­le­gen­hei­ten, weil Ihr da­mit so spät her­aus­kommt.«

»Joa, Ge­el­haar, wat sall dat? Wat mie­nen S‘ mit >to spät<? Et hett mi joa kee­ner nich fro­agt. Un Se ook nich. Un wat weet ick denn ook? Ick weet joa nix. Ick weet joa joar nix.«

»Ihr wißt ge­nug, Mut­ter Jeschke.«

»Nei, nei, Ge­el­haar. Ick weet joar nix.«

»Das ist ge­ra­de ge­nug, daß ei­ner nachts in sei­nem Gar­ten ein Loch gräbt und wie­der zu­schüt­tet.«

»Joa, Ge­el­haar, ick weet nich, awers jed‘ een möt doch in sein ejen Goar­den en Loch bud­deln künn‘.«

»Frei­lich. Aber nicht um Mit­ter­nacht und nicht bei sol­chem Wet­ter.«

»Na, rie­den S‘ mi man nich rin. Un moa­ken Se‘t good mit mi… Li­ne, Li­ne, segg doch ook wat.«

Und wirk­lich, Li­ne trat in Fol­ge die­ser Auf­for­de­rung an den Gens­dar­men her­an und sag­te, tief auf­at­mend, wie wenn sie mit ei­ner plötz­li­chen und mäch­ti­gen Sin­nen­er­re­gung zu kämp­fen hät­te: »Laß nur, Mut­ter Jeschke. Herr Ge­el­haar wird schon wis­sen, was er zu tun hat. Und wir wer­den es auch wis­sen. Das ver­steht sich doch von selbst. Nicht wahr, Herr Ge­el­haar?

Die­ser nick­te zu­trau­lich und sag­te mit plötz­lich ver­än­der­tem und wie­der freund­li­cher wer­den­dem To­ne: »Wer­de schon ma­chen, Mam­sell Li­ne. Schul­ze Woy­tasch läßt ja, Gott sei Dank, mit sich re­den und Vo­win­kel auch. Haupt­sach is, daß wir den Fuchs über­haupt ins Ei­sen krie­gen. Un is dann am En­de gleich, wann wir ihn ha­ben und ob ihm der Balg heut oder mor­gen ab­ge­zo­gen wird.«

Elf­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zig Stun­den spä­ter kam – und zwar auf die Mel­dung hin, die Ge­el­haar, gleich nach sei­nem Ge­sprä­che mit der Jeschke, bei der Be­hör­de ge­macht hat­te – von Küs­trin her ein of­fe­ner Wa­gen, in dem, au­ßer dem Kut­scher, der Jus­tiz­rat und Hrad­scheck sa­ßen. Die Luft ging scharf, und die Son­ne blen­de­te, wes­halb Vo­win­kel, um sich ge­gen bei­des zu schüt­zen, sei­nen Man­tel auf­ge­klappt, der Kut­scher aber sei­nen Kopf bis an Nas und Oh­ren in den Pelz­kra­gen hin­ein­ge­zo­gen hat­te. Nur Hr­ad­scheck saß frei da, Luft und Licht, de­ren er seit län­ger als vier Wo­chen ent­behrt hat­te, be­gie­rig ein­sau­gend. Der Wa­gen fuhr auf der Damm­hö­he, von der aus sich das un­ten lie­gen­de Dorf be­quem über­bli­cken und bei­nah je­des ein­zel­ne Haus in al­ler Deut­lich­keit er­ken­nen ließ. Das da, mit dem schwar­zen, teer­ge­stri­che­nen Ge­bälk, war das Schul­haus, und das gel­be, mit dem glä­ser­nen Aus­sichts­turm, muß­te Ku­ni­ckes sein, Ku­ni­ckes »Vil­la«, wie die Tsche­chi­ner es spöt­tisch nann­ten. Das nied­ri­ge grad ge­gen­über aber, das war sei­ne, das sah er an dem Birn­baum, des­sen schwar­zes Ge­zweig über die mit Schnee be­deck­te Dach­flä­che weg­rag­te. Vo­win­kel be­merk­te wohl, wie Hr­ad­scheck sich un­will­kür­lich auf sei­nem Sit­ze hob, aber nichts von Be­sorg­nis drück­te sich in sei­nen Mie­nen und Be­we­gun­gen aus, son­dern nur Freu­de, sei­ne Heim­stät­te wie­der­zu­se­hen.

Im Dor­fe selbst schien man der An­kunft des jus­tiz­rät­li­chen Wa­gens schon ent­ge­gen­ge­se­hen zu ha­ben. Auf dem Vor­platz der Igel­schen Brett- und Schnei­de­müh­le, die man, wenn man von der Küs­tri­ner Sei­te her kam, als ers­tes Ge­höft zu pas­sie­ren hat­te (ge­ra­de­so wie das Orth­sche nach der Frank­fur­ter Sei­te hin), stand der al­te Brett- und Schnei­de­mül­ler und feg­te mit ei­nem kur­zen stor­ri­gen Be­sen den Schnee von der obers­ten Bret­ter­la­ge fort, an­schei­nend aufs eif­rigs­te mit die­ser sei­ner Ar­beit be­schäf­tigt, in Wahr­heit aber nur be­gie­rig, den her­an­kom­men­den Hr­ad­scheck eher als ir­gend­ein an­de­rer im Dorf ge­se­hen zu ha­ben. Denn Schnei­de­mül­ler Igel, oder der »Schnei­di­gel«, wie man ihn kurz­weg und in der Re­gel mit ab­sicht­lich un­deut­li­cher Aus­spra­che nann­te, war ein Topf­ku­cker. Aber so topf­kuck­rig er war, so stolz und hoch­mü­tig war er auch, und so wandt er sich in dem­sel­ben Au­gen­bli­cke, wo der Wa­gen an ihm vor­über­fuhr, rasch wie­der auf sein Haus zu, bloß um nicht grü­ßen zu müs­sen. Hier nahm er, um sei­ne Neu­gier, de­ren er sich schä­men moch­te, vor nie­man­dem zu ver­ra­ten, Hut und Stock mit be­son­de­rer Lang­sam­keit vom Rie­gel und folg­te dann dem Wa­gen, den er üb­ri­gens bald da­nach schon vor dem Hr­ad­scheck­schen Hau­se vor­fah­ren sah.

Frau Hr­ad­scheck war nicht da. Statt ih­rer über­nahm es Ku­ni­cke, den sie dar­um ge­be­ten ha­ben moch­te, den Wirt und so­zu­sa­gen die Hon­neurs des Hau­ses zu ma­chen. Er führ­te denn auch den Jus­tiz­rat vom Flur her in den La­den und von die­sem in die da­hin­ter be­find­li­che Wein­stu­be, wo man ei­nen Im­biß be­reit­ge­stellt hat­te. Vo­win­kel nahm aber, un­ter vor­läu­fi­ger freund­li­cher Ab­leh­nung, nur ein klei­nes Glas Port­wein und trat dann in den Gar­ten hin­aus, wo sich be­reits al­les, was zur Dorf­ob­rig­keit ge­hör­te, ver­sam­melt hat­te: Schul­ze Woy­tasch, Gens­darm Ge­el­haar, Nacht­wäch­ter Me­wis­sen und drei bäu­er­li­che Ge­richts­män­ner. Ge­el­haar, der, zur Fei­er des Ta­ges, sei­nen Staats-Czako mit dem arms­lan­gen schwar­zen Lam­pen­put­zer auf­ge­setzt hat­te, rag­te, mit Hil­fe die­ser Pa­ra­de­zu­ta­ten, um fast drei Haup­tes­län­gen über den Rest al­ler An­we­sen­den hin­aus. Das war der in­ne­re Zir­kel. Im wei­tern Um­kreis aber stan­den die, die bloß aus Neu­gier sich ein­ge­fun­den hat­ten, dar­un­ter der schon stark ge­früh­stück­te Kan­tors­sohn und Dorf­dich­ter, wäh­rend ei­ni­ge zwan­zig eben aus der Schu­le her­an­ge­kom­me­ne Jun­gens mit ih­ren Klapp-Pan­ti­nen auf das Ke­gel­haus ge­klet­tert wa­ren, um von hier aus Zeu­ge zu sein, was wohl bei der Sa­che her­aus­kom­men wür­de. Vor­läu­fig in­des be­gnüg­ten sie sich da­mit, Schnee­bäl­le zu ma­chen, mit de­nen sie nach den gro­ßen und klei­nen Mäd­chen war­fen, die hin­ter dem Gar­ten­zaun der al­ten Jeschke stan­den. Al­les plap­per­te, lach­te, reck­te den Hals, und wä­re nicht Hr­ad­scheck selbst ge­we­sen, der, die Bli­cke sei­ner al­ten Freun­de ver­mei­dend, ernst und schwei­gend vor sich hin sah, so hät­te man glau­ben kön­nen, es sei Kir­mes oder ei­ne win­ter­li­che Jahr­markts­sze­ne.

Die Ge­richts­män­ner flüs­ter­ten und steck­ten die Köp­fe zu­sam­men, wäh­rend Woy­tasch und Ge­el­haar sich um­sa­hen. Es schien noch et­was zu feh­len, was auch zu­traf. Als aber bald da­nach der al­te To­ten­grä­ber Won­ne­kamp mit noch zwei von sei­nen Leu­ten er­schi­en, rück­te man nä­her an den Birn­baum her­an und be­gann den Schnee, der hier lag, fort­zu­schip­pen. Das ging leicht ge­nug, bis statt des Schnees die ge­fror­ne Er­de kam, wo nun die Pick­axt aus­hel­fen muß­te. Der Frost in­des­sen war nicht tief in die Er­de ge­drun­gen, und so konn­te man den Spa­ten nicht nur bald wie­der zur Hand neh­men, son­dern kam auch ra­scher vor­wärts, als man an­fangs ge­hofft hat­te. Die her­aus­ge­wor­fe­nen Schol­len und Lehm­stü­cke wur­den im­mer grö­ßer, je wei­cher der Bo­den wur­de, bis mit ei­nem Ma­le der al­te To­ten­grä­ber ei­nem der Ar­bei­ter in den Arm fiel und mit der sei­nem Stan­de zu­stän­di­gen Ru­he sag­te: »Nu giw mi moal; nu kümmt wat.« Da­bei nahm er ihm das Grab­scheit oh­ne wei­te­res aus der Hand und fing sel­ber an zu gra­ben. Aber er­sicht­lich mit gro­ßer Vor­sicht. Al­les dräng­te vor und woll­te sehn. Und sie­he da, nicht lan­ge, so war ein To­ter auf­ge­deckt, der zu gro­ßem Tei­le noch in Kleid­er­res­ten steck­te. Die Be­we­gung wuchs, und al­ler Au­gen rich­te­ten sich auf Hr­ad­scheck, der, nach wie vor, vor sich hin sah und nur dann und wann ei­nen scheu­en Sei­ten­blick in die Gru­be tat.

»Nu heb­ben se ‚n«, lief ein Ge­mur­mel den Gar­ten­zaun ent­lang, un­klar las­send, ob man Hr­ad­scheck oder den To­ten mei­ne; die Jun­gens auf dem Ke­gel­hä­us­chen aber reck­ten ih­re Häl­se noch mehr als vor­her, trotz­dem sie we­der nah noch hoch ge­nug stan­den, um ir­gend­was sehn zu kön­nen.

Ei­ne Pau­se trat ein. Dann nahm der Jus­tiz­rat des An­ge­klag­ten Arm und sag­te, wäh­rend er ihn dicht an die Gru­be führ­te. Nun, Hr­ad­scheck, was sa­gen Sie?«

Die­ser ver­zog kei­ne Mie­ne, fal­te­te die Hän­de wie zum Ge­bet und sag­te dann fest und fei­er­lich: »Ich sa­ge, daß die­ser To­te mei­ne Un­schuld be­zeu­gen wird.«

Und wäh­rend er so sprach, sah er zu dem al­ten To­ten­grä­ber hin­über, der den Blick auch ver­stand und, oh­ne wei­te­re Fra­gen ab­zu­war­ten, ge­schäfts­mä­ßig sag­te: »Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Ich den­ke zwan­zig Jah­re. Und der Pohl­sche, der es sein soll, is noch kei­ne zehn Wo­chen tot.«

Und sie­he da, kaum daß die­se Wor­te ge­spro­chen wa­ren, so war ihr In­halt auch schon be­wie­sen, und je­der schäm­te sich, so we­nig kal­tes Blut und so we­nig Um­sicht und Über­le­gung ge­habt zu ha­ben. In ei­nem ge­wis­sen Ent­de­ckungs­ei­fer wa­ren al­le wie blind ge­we­sen und hat­ten un­be­ach­tet ge­las­sen, daß ein Schä­del, um ein rich­ti­ger Schä­del zu wer­den, auch sein Stück Zeit ver­langt und daß die To­ten ih­re Ver­schie­den­hei­ten und ih­re Gra­de ha­ben, ge­ra­de­so­gut wie die Le­ben­di­gen.

Am ver­lo­gens­ten war der Jus­tiz­rat. Aber er sam­mel­te sich rasch und sag­te: »To­ten­grä­ber Won­ne­kamp hat recht. Das ist nicht der To­te, den wir su­chen. Und wenn er zwan­zig Jah­re in der Er­de liegt, was ich kei­nen Au­gen­blick be­zweif­le, so kann Hr­ad­scheck an die­sem To­ten kei­ne Schuld ha­ben. Und kann auch von ei­ner frü­he­ren Schuld kei­ne Re­de sein. Denn Hr­ad­scheck ist erst im zehn­ten Jahr in die­sem Dorf. Das al­les ist jetzt er­wie­sen. Trotz al­le­dem blei­ben ein paar dunk­le Punk­te, wor­über Auf­klä­rung ge­ge­ben wer­den muß. Ich le­be der Zu­ver­sicht, daß es an die­ser Auf­klä­rung nicht feh­len wird, aber ehe sie ge­ge­ben ist, darf ich Sie, Herr Hr­ad­scheck, nicht aus der Un­ter­su­chung ent­las­sen. Es wird sich da­bei, was ich als ei­ne wei­te­re Hoff­nung hier aus­sp­re­che, nur noch um Stun­den und höchs­tens um Ta­ge han­deln.«

Und da­mit nahm er Ku­ni­ckes Arm und ging in die Wein­stu­be zu­rück, wo­selbst er nun­mehr, in Ge­sell­schaft von Woy­tasch und den Ge­richts­män­nern, dem für ihn ser­vier­ten Früh­stü­cke tap­fer zu­sprach. Auch Hr­ad­scheck ward auf­ge­for­dert, sich zu set­zen und ei­nen Im­biß zu neh­men. Er lehn­te je­doch ab und sag­te, daß er mit sei­ner Mahl­zeit lie­ber war­ten wol­le, bis er im Küs­tri­ner Ge­fäng­nis sei.

So wa­ren sei­ne Wor­te.

Und die­se Wor­te ge­fie­len den Bau­ern un­ge­mein. »Er will nicht an sei­nem eig­nen Tisch zu Gas­te sit­zen und das Brot, das er ge­ba­cken, nicht als Gna­den­brot es­sen. Da hat er recht. Das möcht ich auch nicht.«

So hieß es, und so dach­ten die meis­ten.

Aber frei­lich nicht al­le.

Gens­darm Ge­el­haar ging an dem Zaun ent­lang, über den, samt and­rem Wei­ber­volk, auch Mut­ter Jeschke weg­ge­kuckt hat­te. Na­tür­lich auch Li­ne.

Ge­el­haar tipp­te die­ser mit dem Fin­ger auf den Dutt und sag­te: »Nu, Li­ne, was macht der Zopf?«

»Mei­ner?« lach­te die­se. »Hö­ren S‘, Herr Gens­darm, jetzt kommt Ih­rer an die Reih.«

»Wird so schlimm nicht wer­den, Li­ne­ken… Und Mut­ter Jeschke, was sagt die da­zu?«

»Joa, wat sall se seg­gen? He is nu wed­der rut. Awers he kümmt ook woll wed­der rin.«

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Ei­ne Wo­che war ver­gan­gen, in der die Tsche­chi­ner viel er­lebt hat­ten. Das Wich­tigs­te war: Hr­ad­scheck, nach­dem er noch ein Küs­tri­ner Schluß­ver­hör durch­ge­macht hat­te, war wie­der da. Schlicht und un­be­fan­gen, oh­ne Lü­cken und Wi­der­sprü­che, wa­ren die Dun­kel­hei­ten auf­ge­klärt wor­den, so daß an sei­ner Un­schuld nicht län­ger zu zwei­feln war. Es sei­en ihm, so hieß es in sei­ner vor Vo­win­kel ge­mach­ten Aus­sa­ge, durch Un­acht­sam­keit, de­ren er sich sel­ber zu zei­hen ha­be, meh­re­re gro­ße Speck­sei­ten ver­dor­ben, und die­se mög­lichst un­be­merkt im Gar­ten zu ver­gra­ben, hab er an je­nem Ta­ge vor­ge­habt. Er sei denn auch, gleich nach­dem sei­ne Gäs­te die Wein­stu­be ver­las­sen hät­ten, ans Werk ge­gan­gen und ha­be, ge­nau­so wie‘s die Jeschke ge­sehn und er­zählt, an dem al­ten Birn­baum ein Loch zu gra­ben ver­sucht; als er aber er­kannt ha­be, daß da was ver­scharrt lie­ge, ja, dem An­schei­ne nach ein To­ter, hab ihn ei­ne furcht­ba­re Angst ge­packt, in Fol­ge de­ren er nicht wei­ter ge­gra­ben, son­dern das Loch rasch wie­der zu­ge­schüt­tet ha­be. Der Kof­fer, den die Jeschke ge­se­hen ha­ben wol­le, das sei­en eben je­ne Speck­sei­ten ge­we­sen, die, dicht über­ein­an­der­ge­packt, an der Gar­ten­tür ge­le­gen hät­ten. »Aber wo­zu die Heim­lich­keit und die Nacht?« hat­te Vo­win­kel nach die­ser Er­klä­rung et­was spitz ge­fragt, wor­auf Hr­ad­scheck, in sei­ner Er­zäh­lung fort­fah­rend, oh­ne Ver­le­gen­heit und Un­ru­he ge­ant­wor­tet hat­te: »Zu die­ser Heim­lich­keit sei­en für ihn zwei Grün­de ge­we­sen. Ers­tens hab er sich die Vor­wür­fe sei­ner Frau, die nur zu ge­neigt sei, von sei­ner Un­acht­sam­keit in Ge­schäfts­din­gen zu sp­re­chen, er­spa­ren wol­len. Und er dür­fe wohl hin­zu­set­zen, wer ver­hei­ra­tet sei, der ken­ne das und wis­se nur zu gut, wie ger­ne man sich sol­chen An­kla­gen und Streit­sze­nen ent­zie­he. Der zwei­te Grund aber sei noch wich­ti­ger ge­we­sen: die Rück­sicht auf die Kund­schaft. Die Bau­ern, wie der Herr Jus­tiz­rat ja wis­se, sei­en die schwie­rigs­ten Leu­te von der Welt, ewig voll Miß­trau­en, und wenn sie der­lei Din­ge, wie Schin­ken und Speck, auch frei­lich nicht in sei­nem La­den zu kau­fen pfleg­ten, weil sie ja ge­nug da­von im eig­nen Rauch hät­ten, so zö­gen sie doch gleich Schlüs­se vom ei­nen aufs and­re. Der­glei­chen hab er mehr als ein­mal durch­ge­macht und dann wo­chen­lang al­ler Ecken und En­den hö­ren müs­sen, er pas­se nicht auf. Ja, noch letz­ten Herbst, als ihm ganz oh­ne sei­ne Schuld ei­ne Ton­ne He­rin­ge tra­nig ge­wor­den sei, ha­be Schnei­di­gel über­all im Dor­fe ge­putscht und un­ter an­derm zu Quaas und Ku­ni­cke ge­sagt: >Uns wird er da­mit nicht kom­men; aber die klei­nen Leu­te, die, die…<«

Der Jus­tiz­rat hat­te hier­bei ge­lä­chelt und zu­stim­mend ge­nickt, weil er die Bau­ern fast so gut wie Hr­ad­scheck kann­te, so daß, nach Er­le­di­gung auch die­ses Punk­tes, ei­gent­lich nichts üb­rig­ge­blie­ben war als die Fra­ge, »was denn nun, un­ter so be­wand­ten Um­stän­den, aus dem durch­aus zu be­sei­ti­gen­den Speck ge­wor­den sei?« Wel­che Fra­ge je­doch nur da­zu bei­ge­tra­gen hat­te, Hr­ad­schecks Un­schuld voll­ends ins Licht zu stel­len. »Er ha­be die Speck­sei­ten an dem­sel­ben Mor­gen noch an ei­ner an­de­ren Gar­ten­stel­le ver­scharrt; gleich nach Szuls­kis Ab­rei­se.« – »Nun, wir wer­den ja sehn«, hat­te Vo­win­kel hier­auf ge­ant­wor­tet und ei­nen sei­ner Ge­richts­die­ner ab­ge­schickt, um sich in Tsche­chin selbst über die Rich­tig­keit oder Un­rich­tig­keit die­ser Aus­sa­ge zu ver­ge­wis­sern. Und als sich nun in kür­zes­ter Frist al­les be­stä­tigt oder mit an­de­ren Wor­ten der ver­gra­be­ne Speck wirk­lich an der von Hr­ad­scheck an­ge­ge­be­nen Stel­le ge­fun­den hat­te, hat­te man das Ver­fah­ren ein­ge­stellt, und an dem­sel­ben Nach­mit­ta­ge noch war der un­ter so schwe­rem Ver­dacht Ge­stan­de­ne nach Tsche­chin zu­rück­ge­kehrt und in ei­ner statt­li­chen Küs­tri­ner Miet­schai­se vor sei­nem Hau­se vor­ge­fah­ren. Ede, ganz ver­blüfft, hat­te nur noch Zeit ge­fun­den, in die Wohn­stu­be, dar­in sich Frau Hr­ad­scheck be­fand, hin­ein­zu­ru­fen: »Der Herr, der Herr…«, wor­auf Hr­ad­scheck selbst mit der ihm ei­ge­nen Jo­via­li­tät und un­ter dem Zu­ru­fe »Nun, Ede, wie geht‘s?« in den Flur sei­nes Hau­ses ein­ge­tre­ten, aber frei­lich im sel­ben Au­gen­blick auch wie­der mit ei­nem er­schreck­ten »Was is, Frau?« zu­rück­ge­fah­ren war. Ein Aus­ruf, den er wohl tun durf­te. Denn ge­al­tert, die Au­gen tief ein­ge­sun­ken und die Haut wie Per­ga­ment, so war ihm Ur­sel un­ter der Tür ent­ge­gen­ge­tre­ten.

Hr­ad­scheck war da, das war das ei­ne Tsche­chi­ner Er­eig­nis. Aber das an­de­re stand kaum da­hin­ter zu­rück: Ec­ce­li­us hat­te, den Sonn­tag dar­auf, über Sach­ar­ja 7, Vers 9 und 10 ge­pre­digt, wel­che Stel­le lau­te­te: »So spricht der Herr Ze­baoth: Rich­tet recht, und ein jeg­li­cher be­wei­se an sei­nem Bru­der Gü­te und Barm­her­zig­keit. Und tu­et nicht Un­recht den Fremd­lin­gen, und den­ke kei­ner wi­der sei­nen Bru­der et­was Ar­ges in sei­nem Her­zen.« Schon bei Le­sung des Tex­tes und der sich dar­an knüp­fen­den Ein­lei­tungs­be­trach­tung hat­ten die Bau­ern auf­ge­horcht; als aber der Pas­tor das All­ge­mei­ne fal­len­ließ und, oh­ne Na­men zu nen­nen, den Hr­ad­scheck­schen Fall zu schil­dern und die Trüg­lich­keit des Schei­nes nach­zu­wei­sen be­gann, da gab sich ei­ne Be­we­gung kund, wie sie seit dem Sonn­tag (es ging nun ins fünf­te Jahr), an wel­chem Ec­ce­li­us auf die schwe­ren sitt­li­chen Ver­ge­hen ei­nes als Bräu­ti­gam vor dem Al­tar ste­hen­den rei­chen Bau­ern­soh­nes hin­ge­wie­sen und ihn zu bes­se­rem Le­bens­wan­del er­mahnt hat­te, nicht mehr da­ge­we­sen war. Bei­de Hr­ad­schecks wa­ren in der Kir­che zu­ge­gen und folg­ten je­dem Wor­te des Geist­li­chen, der heu­te viel Bi­bel­sprü­che zi­tier­te, mehr noch als ge­wöhn­lich.

Es war un­aus­bleib­lich, daß die­se Recht­fer­ti­gungs­re­de zu­gleich zur An­kla­ge ge­gen al­le die­je­ni­gen wur­de, die sich in der Hr­ad­scheck-Sa­che so we­nig freund­nach­bar­lich be­nom­men und durch al­ler­hand Zu­trä­ge­rei­en ent­we­der ihr Übel­wol­len oder doch zum min­des­ten ih­re Leicht­fer­tig­keit und Un­über­legt­heit ge­zeigt hat­ten. Wer in ers­ter Rei­he da­mit ge­meint war, konn­te nicht zwei­fel­haft sein, und vie­ler Au­gen, nur nicht die der Bau­ern, die, wie her­kömm­lich, kei­ne Mie­ne ver­zo­gen, rich­te­ten sich auf die mit­samt ih­rem »Li­ne­ken« auf der vor­letz­ten Bank sit­zen­de Mut­ter Jeschke, der Kan­zel grad ge­gen­über, dicht un­ter der Or­gel. Li­ne, sonst ein Mus­ter von Nicht­ver­le­gen­wer­den, wuß­te doch heu­te nicht wo­hin und ver­wünsch­te die al­te He­xe, ne­ben der sie das Kreuz­feu­er so vie­ler Au­gen aus­hal­ten muß­te. Mut­ter Jeschke selbst aber nick­te nur lei­se mit dem Kopf, wie wenn sie je­des Wort bil­li­ge, das Ec­ce­li­us ge­spro­chen, und sang, als die Pre­digt aus war, den Schluß­vers ru­hig mit. Ja sie blieb selbst un­be­fan­gen, als sie drau­ßen, an den zu bei­den Sei­ten des Kirch­hof­we­ges ste­hen­den Frau­en vor­beih­um­pelnd, erst die vor­wurfs­vol­len Bli­cke der Äl­te­ren und dann das Ki­chern der Jün­ge­ren über sich er­ge­hen las­sen muß­te.

Zu Hau­se sag­te Li­ne: »Das war ei­ne schö­ne Ge­schich­te, Mut­ter Jeschke. Hät­te mir die Au­gen aus dem Kopf schä­men kön­nen.«

»Bis doch sünnst nicht so.«

»Ach was, sünnst. Hat er recht oder nicht? Ich mei­ne, der Al­te drü­ben?«

»Ick weet nich, Li­ne«, be­schwich­tig­te die Jeschke. »He möt et joa wee­ten.«

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

»He möt et joa wee­ten«, hat­te die Jeschke ge­sagt und da­mit aus­ge­spro­chen, wie sie wirk­lich zu der Sa­che stand. Sie miß­trau­te Hr­ad­scheck nach wie vor; aber der Um­stand, daß Ec­ce­li­us von der Kan­zel her ei­ne Recht­fer­ti­gungs­re­de für ihn ge­hal­ten hat­te, war doch nicht oh­ne Ein­druck auf sie ge­blie­ben und ver­an­laß­te sie, sich ei­ni­ger­ma­ßen zwei­fel­voll ge­gen ih­ren ei­ge­nen Arg­wohn zu stel­len. Sie hat­te Re­spekt vor Ec­ce­li­us, trotz­dem sie kaum we­ni­ger als ei­ne rich­ti­ge al­te He­xe war und die hei­li­gen Hand­lun­gen der Kir­che ganz nach Art ih­rer sym­pa­the­ti­schen Ku­ren an­sah. Al­les, was in der Welt wirk­te, war Sym­pa­thie, Be­sp­re­chung, Spuk, aber die­ser Spuk hat­te doch zwei Quel­len, und der wei­ße Spuk war stär­ker als der schwar­ze. Dem­ge­mäß un­ter­warf sie sich auch (und zu­mal wenn er von Al­tar oder Kan­zel her sprach) dem den wei­ßen Spuk ver­tre­ten­den Ec­ce­li­us, ihm so­zu­sa­gen die sich­re­re Be­zugs­quel­le zu­ge­ste­hend. Un­ter al­len Um­stän­den aber such­te sie mit Hr­ad­scheck wie­der auf ei­nen gu­ten Fuß zu kom­men, weil ihr der Wert ei­ner gu­ten Nach­bar­schaft ein­leuch­te­te. Hr­ad­scheck sei­ner­seits, statt den Emp­find­li­chen zu spie­len, wie manch an­de­rer ge­tan hät­te, kam ihr da­bei auf hal­bem We­ge ent­ge­gen und war über­haupt von so viel Un­be­fan­gen­heit, daß, ehe noch die Fas­tel­aben­d-Pfann­ku­chen ge­ba­cken wur­den, die gan­ze Szul­ski-Ge­schich­te so gut wie ver­ges­sen war. Nur sonn­tags im Kru­ge kam sie noch dann und wann zur Spra­che.

»Wenn man we­nigs­tens de Pelz wed­der in die Hücht käm…«

»Na, du wührst doch den Pohl­schen si­en‘ Pelz nich ant­re­cken wulln?«

»Nich ant­re­cken? Wor­ümm nich? Dat de Pohl­sche drinn wihr, dat deiht em nix. Un mi ook nich. Un wat sünnst noch drin wihr, na, dat wahrd nu joa woll rut sinn.«

»Joa, joa. Dat wahrd nu joa woll rut sinn.«

Und dann lach­te man und wech­sel­te das The­ma.

Sol­che Scher­ze bil­de­ten die Re­gel, und nur sel­ten war es, daß ir­gend­wer ernst­haft auf den Fall zu sp­re­chen kam und bei der Ge­le­gen­heit sei­ne Ver­wun­de­rung aus­drück­te, daß die Lei­che noch im­mer nicht an­ge­trie­ben sei. Dann aber hieß es, »der To­te lieg im Schlick, und der Schlick gä­be nichts her­aus, oder doch erst nach fünf­zig Jah­ren, wenn das an­ge­schwemm­te Vor­land Acker ge­wor­den sei. Dann würd er mal beim Pflü­gen ge­fun­den wer­den, ge­rad­so, wie der Fran­zo­se ge­fun­den wär.«

Ja, ge­ra­de­so wie der Fran­zo­se, der jetzt über­haupt die Haupt­sa­che war, viel mehr als der mit sei­nem Fuhr­werk ver­un­glück­te Rei­sen­de, was ei­gent­lich auch nicht wun­der­neh­men konn­te. Denn Un­glücks­fäl­le wie der Szuls­ki­sche wa­ren häu­fig, oder we­nigs­tens nicht sel­ten, wäh­rend der ver­scharr­te Fran­zos un­term Birn­baum al­les Zeug da­zu hat­te, die Phan­ta­sie der Tsche­chi­ner in Be­we­gung zu set­zen. Al­ler­lei Ge­schich­ten wur­den aus­ge­spon­nen, auch Lie­bes­ge­schich­ten, in de­ren ei­ner es hieß, daß An­no 13 ein in ei­ne hüb­sche Tsche­chi­ne­rin ver­lieb­ter Fran­zo­se bei­nah täg­lich von Küs­trin her nach Tsche­chin ge­kom­men sei, bis ihn ein Ne­ben­buh­ler er­sch­la­gen und ver­scharrt ha­be. Die­se Ge­schich­te lie­ßen sich auch die Mäg­de nicht neh­men, trotz­dem sich äl­te­re Leu­te sehr wohl ent­san­nen, daß man ei­nen Chas­seur- oder nach and­rer Mei­nung ei­nen Vol­ti­geur-Kor­po­ral ein­fach we­gen zu schar­fer Fou­ra­gie­rung bei­sei­te ge­bracht und still­ge­macht ha­be. Die­se Bes­ser­wis­sen­den dran­gen aber mit ih­rer Pro­sa-Ge­schich­te nicht durch, und un­ter al­len Um­stän­den blieb der Fran­zo­se Held und Mit­tel­punkt der Un­ter­hal­tung.

All das kam uns­rem Hr­ad­scheck zu­stat­ten. Aber was ihm noch mehr zu­stat­ten kam, war das, daß er den­sel­ben »Fran­zo­sen un­term Birn­baum« nicht bloß zur Wie­der­her­stel­lung, son­dern so­gar zu glän­zen­der Auf­bes­se­rung sei­ner Re­pu­ta­ti­on zu be­nut­zen ver­stand.

Und das kam so.

Nicht all­zu lan­ge nach sei­ner Ent­las­sung aus der Un­ter­su­chungs­haft war in ei­ner Kir­chen-Ge­mein­de­rats­sit­zung, der Ec­ce­li­us in Per­son prä­si­dier­te, da­von die Re­de ge­we­sen, dem Fran­zo­sen auf dem Kirch­hof ein christ­li­ches Be­gräb­nis zu gön­nen. »Der Fran­zo­se sei zwar«, so hat­te sich der den An­trag stel­len­de Ku­ni­cke ge­äu­ßert, »sehr wahr­schein­lich ein Ka­t­hol­scher ge­we­sen, aber man dür­fe das so ge­nau nicht neh­men; die Ka­t­hol­schen sei­en, bei Licht be­se­hen, auch Chris­ten, und wenn ei­ner schon so lang in der Er­de ge­le­gen ha­be, dann sei‘s ei­gent­lich gleich, ob er den ge­rei­nig­ten Glau­ben ge­habt ha­be oder nicht.« Ec­ce­li­us hat­te die­ser echt Ku­ni­cke­schen Re­de, wenn auch selbst­ver­ständ­lich un­ter Lä­cheln, zu­ge­stimmt, und die Sa­che war schon als an­ge­nom­men und er­le­digt be­trach­tet wor­den, als sich Hr­ad­scheck noch im letz­ten Au­gen­blick zum Wor­te ge­mel­det hat­te. »Wenn der Herr Pre­di­ger das Be­gräb­nis auf dem Kirch­ho­fe, der, als ein rich­ti­ger christ­li­cher Got­tes­acker, je­dem Chris­ten, evan­ge­lisch oder ka­tho­lisch, et­was durch­aus Hei­li­ges sein müs­se, für an­ge­mes­sen oder gar für pflicht­mä­ßig hal­te, so kön­ne es ihm nicht ein­fal­len, ein Wort da­ge­gen sa­gen zu wol­len; wenn es aber nicht ganz so lie­ge, mit an­dern Wor­ten, wenn ein Be­gräb­nis da­selbst nicht ab­so­lut pflicht­mä­ßig sei, so spräch er hier­mit den Wunsch aus, den Fran­zo­sen in sei­nem Gar­ten be­hal­ten zu dür­fen. Der Fran­zo­se sei so­zu­sa­gen sein Schutz­pa­tron ge­wor­den, und kein Tag gin­ge hin, oh­ne daß er des­sel­ben in Dank­bar­keit und Lie­be ge­den­ke. Das sei das, was er nicht um­hin­ge­konnt ha­be hier aus­zu­sp­re­chen, und er set­ze nur noch hin­zu, daß er, ge­wünsch­ten Fal­les, die Stel­le mit ei­nem Git­ter ver­se­hen oder mit ei­nem Buchs­baum um­ziehn wol­le.« Die gan­ze Re­de hat­te Hr­ad­scheck mit be­weg­ter und die Dank­bar­keits­stel­le so­gar mit zit­tern­der Stim­me ge­spro­chen, was ei­ne gro­ße Wir­kung auf die Bau­ern ge­macht hat­te.

»Bist ein bra­ver Kerl«, hat­te der, wie al­le Früh­stü­cker, leicht zum Wei­nen ge­neig­te Ku­ni­cke ge­sagt und ei­ne Vier­tel­stun­de spä­ter, als er Woy­tasch und Ec­ce­li­us bis vor das Pfarr­haus be­glei­te­te, mit Nach­druck hin­zu­ge­setzt: »Un wenn‘s noch ein Rus­se wär! Aber das is ihm al­les eins, Russ‘ oder Fran­zos. Der Fran­zos hat ihm ge­hol­fen, und nu hilft er ihm wie­der und läßt ihn ein­git­tern. Oder doch we­nigs­tens ei­ne Ra­bat­te zie­hen. Und wenn es ein Git­ter wird, so hat er‘s nicht unter zwanzig Taler. Und da rechne ich noch keinen Anstrich und keine Vergoldung.«

Das al­les war Mit­te März ge­we­sen, und vier Wo­chen spä­ter, als die Schwal­ben zum ers­ten Ma­le wie­der durch die Dorf­gas­se hin­schos­sen, um sich an­zu­mel­den und zu­gleich Um­schau nach den al­ten Men­schen und Plät­zen zu hal­ten, hat­te Hr­ad­scheck ein Zwie­ge­spräch mit Zim­mer­meis­ter Bug­gen­ha­gen, dem er bei der Ge­le­gen­heit ei­ne Plan­zeich­nung vor­leg­te.

»Se­hen Sie, Bug­gen­ha­gen, das Haus ist über­all zu klein, über­all ist an­ge­baut und an­ge­klebt, die Kü­che dicht ne­ben dem La­den, und für die Frem­den ist nichts da wie die zwei Gie­bel­stu­ben oben. Das ist zu­we­nig, ich will al­so ein Stock auf­set­zen. Was mei­nen Sie? Wird der Un­ter­bau ein Stock­werk aus­hal­ten?«

»Was wird er nicht!« sag­te Bug­gen­ha­gen. »Na­tür­lich Fach­werk!«

»Na­tür­lich Fach­werk!« wie­der­hol­te Hr­ad­scheck. »Auch schon der Kos­ten we­gen. Al­le Welt tut jetzt im­mer, als ob mei­ne Frau zum min­des­ten ein Rit­ter­gut ge­erbt hät­te. Ja, hat sich was mit Rit­ter­gut. Er­bärm­li­che tau­send Ta­ler.«

»Na, na.«

»Nun, sa­gen wir zwei«, lach­te Hr­ad­scheck. »Aber mehr nicht, auf Eh­re. Und daß da­von kei­ne Sei­de zu spin­nen ist, das wis­sen Sie. Kei­ne Sei­de zu spin­nen und auch kei­ne Pa­läs­te zu bau­en. Al­so so bil­lig wie mög­lich, Bug­gen­ha­gen. Ich den­ke, wir neh­men Lehm als Fül­lung. Stein ist zu schwer und zu teu­er, und was wir da­durch spa­ren, das las­sen wir der Ein­rich­tung zu­gu­te kom­men. Ein paar Öfen mit wei­ßen Ka­cheln, nicht wahr? Ich ha­be schon an Feil­ner ge­schrie­ben und an­ge­fragt. Und na­tür­lich al­les Ta­pe­te! Sieht im­mer nach was aus und kann die Welt nicht kos­ten. Ich den­ke, wei­ße; das ist am sau­bers­ten und zu­gleich das bil­ligs­te.«

Bug­gen­ha­gen hat­te zu­ge­stimmt und gleich nach Os­tern mit dem Um­bau be­gon­nen.

Und nicht all­zu lan­ge, das Wet­ter hat­te den Bau be­güns­tigt, so war das Haus, das nun ei­nen auf­ge­setz­ten Stock hat­te, wie­der un­ter Dach. Aber es war das al­te Dach, die näm­li­chen al­ten Stei­ne, denn Hr­ad­scheck wur­de nicht mü­de, Spar­sam­keit zu for­dern und im­mer wie­der zu be­to­nen, »daß er nach wie vor ein ar­mer Mann sei«.

Vier Wo­chen spä­ter stan­den auch die Feil­ner­schen Öfen, und nur hin­sicht­lich der Tape­te wa­ren an­de­re Be­schlüs­se ge­faßt und statt der wei­ßen ein paar bunt­far­bi­ge ge­wählt wor­den.

An­fangs, so­lan­ge das Dach-Ab­de­cken dau­er­te, hat­te Hr­ad­scheck in au­gen­schein­li­cher Ner­vo­si­tät im­mer zur Ei­le an­ge­trie­ben, und erst als die rechts nach der Ke­gel­bahn hin ge­le­ge­ne Gie­bel­wand ein­ge­ris­sen und statt der Stu­ben oben nur noch das Bal­ken- und Spar­ren­werk sicht­bar war, hat­te sich sei­ne Hast und Un­ru­he ge­legt, und Auf­ge­räum­theit und gu­te Lau­ne wa­ren an Stel­le der­sel­ben ge­tre­ten. In die­ser gu­ten Lau­ne war und blieb er auch, und nur ein ein­zi­ger Tag war ge­we­sen, der ihm die­sel­be ge­stört hat­te.

»Was mei­nen Sie, Bug­gen­ha­gen«, hat­te Hr­ad­scheck ei­nes Ta­ges ge­sagt, als er ei­ne aus dem Kel­ler her­auf­ge­hol­te Fla­sche mit Port­wein auf­zog. »Was mei­nen Sie, lie­ße sich nicht der Kel­ler et­was hö­her wöl­ben? Na­tür­lich nicht der gan­ze Kel­ler. Um Got­tes wil­len nicht, da blieb‘ am En­de kein Stein auf dem an­dern, und La­den und Wein- und Wohn­stu­be, kurz­um al­les müß­te ver­än­dert und auf ei­nen an­dern Leis­ten ge­bracht wer­den. Das geht nicht. Aber es wä­re schon viel ge­won­nen, wenn wir das Mit­tel­stück, das grad un­ter dem Flur hin­läuft, et­was hö­her le­gen könn­ten. Ob die Die­le da­durch um zwei Fuß nied­ri­ger wird, ist ziem­lich gleich­gül­tig; denn die Fäs­ser, die da lie­gen, ha­ben im­mer noch Spiel­raum ge­nug, auch nach oben hin, und sto­ßen nicht gleich an die De­cke.«

Bug­gen­ha­gen wi­der­sprach nie, teils aus Klug­heit, teils aus Gleich­gül­tig­keit, und das ein­zi­ge, was er sich dann und wann er­laub­te, wa­ren hal­be Vor­schlä­ge, hin­sicht­lich de­ren es ihm gleich war, ob sie gut­ge­hei­ßen oder ver­wor­fen wur­den. Und so ver­fuhr er auch dies­mal wie­der und sag­te: »Ver­steht sich, Hr­ad­scheck. Es geht. Wa­rum soll es nicht ge­hen? Es geht al­les. Und der Kel­ler ist auch wirk­lich nicht hoch ge­nug (ich glau­be kei­ne fünf­te­halb Fuß) und die Fens­ter viel zu klein und zu nied­rig; al­les wird sto­ckig und mult­rig. Muß al­so ge­macht wer­den. Aber wa­rum gleich wöl­ben? Wa­rum nicht lie­ber aus­schach­ten? Wenn wir zehn Fuh­ren Er­de raus­neh­men, ha­ben wir über­all fünf Fuß im gan­zen Kel­ler, und kein Mensch stößt sich mehr die kah­le Plat­te. Nach oben hin wöl­ben macht bloß Kos­ten und Um­stän­de. Wir kön­nen eben­so­gut nach un­ten ge­hen.«

Hr­ad­scheck, als Bug­gen­ha­gen so sprach, hat­te die Far­be ge­wech­selt und sich mo­men­tan ge­fragt, »ob das al­les viel­leicht was zu be­deu­ten ha­be?« Bald aber von des Sp­re­chen­den Un­be­fan­gen­heit über­zeugt, war ihm sei­ne Ru­he zu­rück­ge­kehrt.

»Wenn ich mir‘s recht über­le­ge, Bug­gen­ha­gen, so las­sen wir‘s. Wir müs­sen auch an das Grund­was­ser den­ken. Und ist es so lan­ge so ge­gan­gen, so kann‘s auch noch wei­ter so ge­hen. Und am En­de, wer kommt denn in den Kel­ler? Ede. Und der hat noch lan­ge kei­ne fünf Fuß.«

Das war ei­ni­ge Zeit vor Be­ginn der Ma­nö­ver ge­we­sen, und wenn es ein paar Ta­ge lang är­ger­lich und ver­stim­mend nach­ge­wirkt hat­te, so ver­schwand es rasch wie­der, als An­fang Sep­tem­ber die Trup­pen­mär­sche be­gan­nen und die Schwed­ter Dra­go­ner als Ein­quar­tie­rung ins Dorf ka­men. Das Haus vol­ler Gäs­te zu ha­ben war über­haupt Hrad­schecks Ver­gnü­gen, und der liebs­te Be­such wa­ren ihm Ritt­meis­ter und Lieu­ten­ants, die nicht nur ih­re Fla­sche tran­ken, son­dern auch al­ler­lei wuß­ten und den Mund auf dem rech­ten Fleck hat­ten. Ei­ni­ge ver­schwo­ren sich, daß ein Krieg ganz na­he sei. Kai­ser Ni­ko­laus, Gott sei Dank, sei höchst un­zu­frie­den mit der neu­en fran­zö­si­schen Wirt­schaft, und der un­si­che­re Pas­sa­gier, der Louis Phil­ipp, der doch ei­gent­lich bloß ein Wasch­lap­pen und hal­ber Cre­tin sei, sol­le mit sei­ner gan­zen Kon­sti­tu­ti­on wie­der bei­sei­te ge­scho­ben und statt sei­ner ei­ne bour­bo­ni­sche Re­gent­schaft ein­ge­setzt oder viel­leicht auch der ver­trie­be­ne Karl X. Wie­der zu­rück­ge­holt wer­den, was ei­gent­lich das bes­te sei. Kai­ser Ni­ko­laus ha­be recht, über­haupt im­mer recht. Kon­sti­tu­ti­on sei Un­sinn und das gan­ze Bür­ger­kö­nig­tum die rei­ne Phra­send­re­sche­rei.

Wenn so das Ge­spräch ging, ging un­serm Hr­ad­scheck das Herz auf, trotz­dem er ei­gent­lich für Frei­heit und Re­vo­lu­ti­on war. Wenn es aber Re­vo­lu­ti­on nicht sein konn­te, so war er auch für Ty­ran­nei. Bloß ge­pfef­fert muß­te sie sein. Auf­re­gung, Blut, Tot­schie­ßen – wer ihm das leis­te­te, war sein Freund, und so kam es, daß er über Louis Phil­ipp mit zu Ge­rich­te saß, als ob er die hy­per­loya­le Ge­sin­nung sei­ner Gäs­te ge­teilt hät­te. Nur von Ede sah er sich noch über­trof­fen, und wenn die­ser durch die Wein­stu­be ging und ein neu­es Beef­steak oder ei­ne neue Fla­sche brach­te, so lag al­le­mal ein dümm­li­ches La­chen auf sei­nem Ge­sicht, wie wenn er sa­gen woll­te: »Recht so, run­ter mit ihm; al­les muß um ei­nen Kopf kür­zer ge­macht wer­den.« Ein paar blut­jun­ge Lieu­ten­ants, die die­se ko­mi­sche Ra­se­rei wahr­nah­men, amü­sier­ten sich herz­lich über ihn und lie­ßen ihn mittrin­ken, was als­bald da­hin führ­te, daß der für ge­wöhn­lich so schüch­ter­ne Jun­ge ganz aus sei­ner Re­ser­ve her­aus­trat und sich ge­le­gent­lich selbst mit dem sonst so ge­fürch­te­ten Hr­ad­scheck auf ei­nen hal­ben Un­ter­hal­tungs­fuß stell­te.

»Da, Herr«, rief er ei­nes Ta­ges, als er ge­ra­de mit ei­nem Kor­be voll Fla­schen wie­der aus dem Kel­ler her­auf­kam. »Da, Herr; das hab ich eben un­ten ge­fun­den.« Und da­mit schob er Hr­ad­scheck ei­nen schwarz­über­spon­ne­nen Kne­bel­knopf zu. »Sind sol­che, wie der Pohl­sche an sei­nem Rock hat­te.«

Hr­ad­scheck war krei­de­weiß ge­wor­den und stot­ter­te: »Ja, hast recht, Ede. Das sind sol­che. Hast recht. Das heißt, die von dem Pohl­schen, die wa­ren grö­ßer. Sol­che klei­nen wie die, die hat­te Her­mann­chen, uns‘ Lütt-Her­mann, an sei­nem Pelz­rock. Weißt du noch? Aber nein, da warst du noch gar nicht hier. Bring ihn mei­ner Frau; ver­giß nicht. Oder gib ihn mir lie­ber wie­der; ich will ihn ihr sel­ber brin­gen.«

Ede ging, und die zu­nächst­sit­zen­den Of­fi­zie­re, die Hr­ad­schecks Er­re­gung wahr­ge­nom­men hat­ten, aber nicht recht wuß­ten, was sie dar­aus ma­chen soll­ten, stan­den auf und wand­ten sich ei­nem Ge­spräch mit and­ren Ka­me­ra­den zu.

Auch Hr­ad­scheck er­hob sich. Er hat­te den Kne­bel­knopf zu sich ge­steckt und ging in den Gar­ten, är­ger­lich ge­gen den Jun­gen, am är­ger­lichs­ten aber ge­gen sich selbst.

»Gut, daß es Frem­de wa­ren, und noch da­zu sol­che, die bloß an Mäd­chen und Pfer­de den­ken. War‘s ei­ner von uns hier, und wenn auch bloß der Öl­göt­ze, der Quaas, so hatt ich die gan­ze Ge­schich­te wie­der über den Hals. Auf­pas­sen, Hr­ad­scheck, auf­pas­sen. Und das ver­damm­te Zu­sam­men­fah­ren und Sich-Ver­fär­ben! Kalt Blut, oder es gibt ein Un­glück.«

So vor sich hin sp­re­chend, war er, den Blick zu Bo­den ge­rich­tet, schon ein paar­mal in dem Mit­tel­gang auf und ab ge­schrit­ten. Als er jetzt wie­der auf­sah, sah er, daß die Jesch­ke hin­ter dem Him­beer­zau­ne stand und ein paar ver­spä­te­te Bee­ren pflück­te.

»Die al­te He­xe. Sie lau­ert wie­der.«

Aber trotz al­le­dem ging er auf sie zu, gab ihr die Hand und sag­te: »Nu, Mut­ter Jeschke, wie geht‘s? Lan­ge nicht ge­sehn. Auch Ein­quar­tie­rung?«

»Nei, Hr­ad­scheck.«

»Oder is Li­ne wie­der da?«

»Nei, Li­ne­ken ook nich. De is joa jit­zt in Küs­trin.«

»Bei wem denn?«

»Bi Schoo­lin­spek­ters. Un doa will se nich weg… Hü­ren S‘, Hr­ad­scheck, ick glöw, de Schoo­lin­spek­ters sinn ook man so… Awers wat heb­ben Se denn? Se sehn joa janz ge­el ut. Un hier so ‚ne Falt. Oh, Se mö­ten sich nich är­gern, Hr­ad­scheck.«

»Ja, Mut­ter Jeschke, das sa­gen Sie wohl. Aber man muß sich är­gern. Da sind nun die jun­gen Of­fi­zie­re. Na, die ge­hen bald wie­der und sind auch am En­de so schlimm nicht und ei­gent­lich net­te Herr­chen und im­mer fi­del. Aber der Ede, die­ser Ede! Da hat der Jun­ge ges­tern wie­der ein hal­bes Faß Öl aus­lau­fen las­sen. Das ist doch über den Spaß. Wo soll man denn das Geld schließ­lich her­neh­men? Und dann die Pla­cke­rei trepp­auf, trepp­ab, und die schma­len Kel­ler­stu­fen halb ab­ge­rutscht. Es ist zum Hals­bre­chen.«

»Na, Se heb­ben joa doch nu Bug­gen­ha­gen bi sich. De künn joa doch ne ni­je Trepp moa­ken.«

»Ach, der, der. Mit dem ist auch nichts; är­gert mich auch. Soll­te mir da den Kel­ler hö­her le­gen. Aber er will nicht und hat al­ler­hand Aus­re­den. Oder viel­leicht ver­steht er‘s auch nicht. Ich wer­de mal den Küs­tri­ner Mau­rer­meis­ter kom­men las­sen, der jetzt an den Ka­se­mat­ten her­um­flickt. Ka­se­mat­ten und Kel­ler ist ja bei­nah das­sel­be. Der muß Rat schaf­fen. Und bald. Denn der Kel­ler ist ei­gent­lich gar kein rich­ti­ger Kel­ler; is bloß ein Loch, wo man sich den Kopf stößt.«

»Joa, joa. De Wienstuw sitt em to sihr upp ‚n Na­cken.

»Frei­lich. Und die gan­ze Ge­schich­te hat nicht Luft und nicht Licht. Und wa­rum nicht? Weil kein rich­ti­ges Fens­ter da ist. Al­les zu klein und zu nied­rig. Al­les zu dicht zu­sam­men.«

»Woll, woll«, stimmt die Jeschke zu. »Jott, ick weet noch, as de Pohl­sche hier wihr und dat Licht üm­mer so blin­zeln deih. Joa, wo wihr dat Licht? Wihr et in de Stuw o‘r wihr et in‘n Kel­ler? Ick weet et nich.«

Al­les klang so pfif­fig und hä­misch, und es lag of­fen zu­ta­ge, daß sie sich an ih­res Nach­barn Ver­le­gen­heit wei­den woll­te. Dies­mal aber hat­te sie die Rech­nung oh­ne den Wirt ge­macht, und die Ver­le­gen­heit blieb schließ­lich auf ih­rer Sei­te. War doch Hr­ad­scheck seit lan­ge schon wil­lens, ihr ge­gen­über, bei sich bie­ten­der Ge­le­gen­heit, mal ei­nen an­dern Ton an­zu­sch­la­gen. Und so sah er sie denn jetzt mit sei­nen durch­drin­gen­den Au­gen scharf an und sag­te, sie plötz­lich in der drit­ten Per­son an­re­dend: »Jeschken, ich weiß, wo Sie hin will. Aber weiß Sie denn auch, was ei­ne Ver­le­um­dungs­kla­ge ist? Ich er­fah­re al­les, was Sie so her­um­schwatzt; aber seh Sie sich vor, sonst kriegt Sie‘s mit dem Küs­tri­ner Ge­richt zu tun; Sie ist ‚ne al­te He­xe, das weiß je­der, und der Jus­tiz­rat weiß es auch. Und er war­tet bloß noch auf ei­ne Ge­le­gen­heit.«

Die Al­te fuhr er­schreckt zu­sam­men. »Ick me­en joa man, Hr­ad­scheck, ick me­en joa man… Se wee­ten doch, en be­ten Spo­aß möt sinn.«

»Nun gut. Ein biß­chen Spaß mag sein. Aber wenn ich Euch ra­ten kann, Mut­ter Jeschke, nicht zu­viel. Hört Ihr wohl, nicht zu­viel.«

Und da­mit ging er wie­der auf das Haus zu.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Ängs­ti­gun­gen und Är­ger­nis­se wie die vor­ge­schil­der­ten ka­men dann und wann vor, aber im gan­zen, um es zu wie­der­ho­len, war die Bau­zeit ei­ne glück­li­che Zeit für un­sern Hrad­scheck ge­we­sen. Der La­den war nie leer, die Kund­schaft wuchs, und das dem Grund­stück zu­ge­hö­ri­ge, drau­ßen an der Neu-Le­wi­ner Stra­ße ge­le­ge­ne Stück Acker­land gab in die­sem Som­mer ei­nen be­son­ders gu­ten Er­trag. Das­sel­be galt auch von dem Gar­ten hin­term Haus; al­les ge­dieh dar­in, der Spar­gel pracht­voll, di­cke Stan­gen mit gelb­wei­ßen Köp­fen, und die Pas­ti­nak- und Dill­bee­te stan­den hoch in Dol­den. Am meis­ten aber tat der al­te Birn­baum, der sich mehr als seit Jah­ren an­streng­te. »Dat ‚s de Fran­zos«, sag­ten die Knech­te sonn­tags im Krug, »de deiht wat för ein«, und als die Pflü­ckens­zeit ge­kom­men, rief Ku­ni­cke, der sich ge­ra­de zum Ke­geln ein­ge­fun­den hat­te: »Hör, Hrad­scheck, du könn­test uns mal ein paar von dei­nen Fran­zo­sen­bir­nen brin­gen.« Fran­zo­sen­bir­nen! Das Wort wur­de sehr be­wun­dert, lief rasch von Mund zu Mund, und ehe drei Ta­ge ver­gan­gen wa­ren, sprach kein Mensch mehr von Hr­ad­schecks »Mal­va­sie­ren«, son­dern bloß noch von den »Fran­zo­sen­bir­nen«. Hr­ad­scheck selbst aber freu­te sich des Wor­tes, weil er dar­an er­kann­te, daß man, trotz al­ler Sti­chel­re­den der al­ten Jeschke, mehr und mehr an­fing, die Vor­komm­nis­se des letz­ten Win­ters von der scherz­haf­ten Sei­te zu neh­men.

Ja, die Som­mer- und Bau­mo­na­te brach­ten licht­vol­le Ta­ge für Hr­ad­scheck, und sie hät­ten noch mehr Licht und noch we­ni­ger Schat­ten ge­habt, wenn nicht Ur­sel ge­we­sen wä­re. Die füll­te, wäh­rend al­les and­re glatt und gut ging, sei­ne See­le mit Mit­leid und Sor­ge, mit Mit­leid, weil er sie lieb­te (we­nigs­tens auf sei­ne Wei­se), mit Sor­ge, weil sie dann und wann ganz wun­der­li­che Din­ge re­de­te. Zum Glück hat­te sie nicht das Be­dürf­nis, Um­gang zu pfle­gen und Men­schen zu sehn, leb­te viel­mehr ein­ge­zo­ge­ner denn je und be­gnüg­te sich da­mit, sonn­tags in die Kir­che zu ge­hen. Ih­re sonst tief­lie­gen­den Au­gen spran­gen dann aus dem Kopf, so be­gie­rig folg­te sie je­dem Wort, das von der Kan­zel her laut wur­de, das Wort aber, auf das sie war­te­te, das kam nicht. In ih­rer Sehn­sucht ging sie dann, nach der Pre­digt, zu dem gu­ten, ihr im­mer gleich­mä­ßig ge­neigt blei­ben­den Ec­ce­li­us hin­über, um, so­weit es ging, Herz und See­le vor ihm aus­zu­schüt­ten und et­was von Be­frei­ung oder Er­lö­sung zu hö­ren; aber Seel­sor­ge war nicht sei­ne star­ke Sei­te, noch we­ni­ger sei­ne Pas­si­on, und wenn sie sich der Sün­de ge­ziehn und in Selbst­an­kla­gen er­schöpft hat­te, nahm er lä­chelnd ih­re Hand und sag­te: »Lie­be Frau Hr­ad­scheck, wir sind all­zu­mal Sün­der und man­geln des Ruh­mes, den wir vor Gott ha­ben sol­len. Sie ha­ben ei­ne Nei­gung. Sich zu pei­ni­gen, was ich miß­bil­li­ge. Sich ewig an­kla­gen ist oft Dün­kel und Ei­tel­keit. Wir ha­ben Chris­tum und sei­nen Wan­del als Vor­bild, dem wir im Ge­fühl uns­rer Schwä­che de­mü­tig nach­stre­ben sol­len. Aber wah­ren wir uns vor Selbst­ge­rech­tig­keit, vor al­lem vor der, die sich in Zer­knir­schung äu­ßert. Das ist die Haupt­sa­che.« Wenn er das tro­cken-ge­schäfts­mä­ßig, oh­ne Pa­thos und selbst oh­ne je­de Spur von Sal­bung ge­sagt hat­te, ließ er die Sa­che so­fort wie­der fal­len und frag­te, zu na­tür­li­che­ren und ihm wich­ti­ger dün­ken­den Din­gen über­ge­hend, »wie weit der Bau sei?« Denn er woll­te nächs­tes Früh­jahr auch bau­en. Und wenn dann die Hr­ad­scheck, um ihm zu Wil­len zu sein, von al­len mög­li­chen Klei­nig­kei­ten, am liebs­ten und ein­ge­hends­ten aber von den Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten zwi­schen ih­rem Mann und Zim­mer­meis­ter Bug­gen­ha­gen ge­plau­dert hat­te, rieb er sich schmun­zelnd und vor sich hin ni­ckend die Hand und sag­te rasch und in au­gen­schein­li­cher Furcht, das See­len­ge­spräch wie­der auf­ge­nom­men zu sehn: »Und nun, lie­be Frau Hr­ad­scheck, muß ich Ih­nen mei­ne Nel­ken zei­gen.«

Um Jo­han­ni wuß­te ganz Tsche­chin, daß die Hr­ad­scheck es nicht mehr lan­ge ma­chen wer­de. Kei­nem ent­ging es. Nur sie sel­ber sah es so schlimm nicht an und woll­te von kei­nem Dok­tor hö­ren. »Sie wis­sen ja doch nichts. Und dann der Wa­gen und das vie­le Geld.« Auf das letz­te­re, das »vie­le Geld«, kam sie jetzt über­haupt mit Vor­lie­be zu sp­re­chen, fand al­les un­nö­tig oder zu teu­er, und wäh­rend sie noch das Jahr vor­her für ein Po­ly­san­der-Fort­epia­no ge­we­sen war, um es, wenn nicht der Amts­rä­tin in Fried­rich­sau, so doch we­nigs­tens der Do­mä­nen­päch­te­rin auf Schloß So­li­kant gleich­zu­tun, so war sie jetzt spar­sam bis zum Geiz. Hr­ad­scheck ließ sie ge­wäh­ren, und nur ein­mal, als sie ge­ra­de beim Scho­ten­pa­len war, nahm er sich ein Herz und sag­te: »Was ist das nur jetzt, Ur­sel? Du ringst dir ja je­den Drei­er von der See­le.« Sie schwieg, dreh­te die Schüs­sel hin und her und pal­te wei­ter. Als er aber ste­hen­blieb und auf Ant­wort zu war­ten schien, sag­te sie, wäh­rend sie die Schüs­sel rasch und hef­tig bei­sei­te setz­te: »Soll es al­les um­sonst ge­we­sen sein? Oder willst du…« Wei­ter kam sie nicht. Ein Herz­krampf, dar­an sie jetzt häu­fi­ger litt, über­fiel sie wie­der, und Hr­ad­scheck sprang zu, um ihr zu hel­fen.

Ih­re Wirt­schaft be­sorg­te sie pünkt­lich, und al­les ging am Schnür­chen, wie vor­dem. Aber In­ter­es­se hat­te sie nur für eins, und das ei­ne war der Bau. Sie wollt ihn, dar­in Hrad­schecks Ei­fer noch über­tref­fend, in mög­lichs­ter Schnel­le be­en­det sehn, und so spar­sam sie sonst ge­wor­den war, so war sie doch ge­gen kei­ne Mehr­aus­ga­be, die Be­schleu­ni­gung und ra­sche­res Zu­stan­de­kom­men ver­sprach. Ein­mal sag­te sie: »Wenn ich nur erst oben bin. Oben werd ich auch wie­der Schlaf ha­ben. Und wenn ich erst wie­der sch­la­fe, werd ich auch wie­der ge­sund wer­den.« Er woll­te sie be­ru­hi­gen und strich ihr mit der Hand über Stirn und Haar. Aber sie wich sei­ner Zärt­lich­keit aus und kam in ein hef­ti­ges Zit­tern. Über­haupt war es jetzt öf­ter so, wie wenn sie sich vor ihm fürch­te. Mal sag­te sie lei­se: »Wenn er nur nicht so glatt und glau wär. Er ist so mun­ter und spricht so viel und kann al­les. Ihn ficht nichts an… Und die drü­ben in Neu-Le­win war auch mit ei­nem Ma­le weg.« Sol­che Stim­mun­gen ka­men ihr von Zeit zu Zeit, aber sie wa­ren flüch­tig und ver­gin­gen wie­der.

Und nun wa­ren die letz­ten Au­gust­ta­ge.

»Mor­gen, Ur­sel, ist al­les fer­tig.«

Und wirk­lich, als der and­re Tag da war, bot ihr Hr­ad­scheck mit ei­ner ge­wis­sen freund­li­chen Fei­er­lich­keit den Arm, um sie trepp­auf in ei­ne der neu­en Stu­ben zu füh­ren. Es war die, die nach der Ke­gel­bahn hin­aus lag, jetzt die hüb­sches­te, hell­blau ta­pe­ziert und an der De­cke ge­malt: ein Kranz von Blü­ten und Früch­ten, um den Tau­ben flo­gen und pick­ten. Auch das Bett war schon her­auf­ge­schafft und stand an der Mit­tel­wand, ge­nau da, wo frü­her die Bett­wand der al­ten Gie­bel- und Lo­gier­stu­be ge­we­sen war.

Hr­ad­scheck er­war­te­te Dank und gu­te Wor­te zu hö­ren. Aber die Kran­ke sag­te nur: »Hier? Hier, Abel?«

»Es sind neue Stei­ne«, stot­ter­te Hr­ad­scheck.

Ur­sel in­des war schon von der Tür­schwel­le wie­der zu­rück­ge­tre­ten und ging den Gang ent­lang, nach der an­dern Gie­bel­sei­te hin­über, wo sich ein gleich­gro­ßes, auf den Hof hin­aus­ge­hen­des Zim­mer be­fand. Sie trat an das Fens­ter und öff­ne­te; Kü­chen­rauch, mehr an­hei­melnd als stö­rend, kam ihr von der Sei­te her ent­ge­gen, und ei­ne Hen­ne mit ih­ren Kü­chel­chen zog un­ten vor­über; Ja­kob aber, der holz­sä­gend in Front ei­ner off­nen Re­mi­se stand, neck­te sich mit Ma­le, die beim Brun­nen Wä­sche spül­te.

»Hier will ich blei­ben.«

Und Hr­ad­scheck, der durch den Auf­tritt mehr er­schüt­tert als ver­dros­sen war, war ein­ver­stan­den und ließ al­les, was sich von Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­den in der hell­blau tape­zier­ten und für Ur­sel be­stimm­ten Stu­be be­fand, nach der an­dern Sei­te hin­über­brin­gen.

Und sie­he da, Frau Hr­ad­scheck er­hol­te sich wirk­lich und so­gar ra­scher, als sie selbst zu hof­fen ge­wagt hat­te. Schlaf kam, der schar­fe Zug um ih­ren Mund wich, und als die schon er­wähn­ten Ma­nö­ver­ta­ge mit ih­rer Dra­go­ner-Ein­quar­tie­rung ka­men, hat­te sich ihr Aus­sehn und ih­re Stim­mung der­art ver­bes­sert, daß sie ge­le­gent­lich die Wir­tin ma­chen und mit den Of­fi­zie­ren plau­dern konn­te. Das Ha­ge­re, Hek­ti­sche gab ihr, bei der gu­ten Toi­let­te, die sie zu ma­chen ver­stand, et­was Dis­tin­gu­ier­tes, und ein al­ter Es­kadron­chef, der sie mit er­staun­li­cher Rit­ter­lich­keit um­cour­te, sag­te, wenn er ihr beim Früh­stück nach­sah und mit bei­den Hän­den den lan­gen blon­den Schnurr­bart dreh­te: »Fa­mo­ses Weib. Auf Eh­re. Wie die nur hier­her kommt?« Und dann gab er sei­ner Be­wun­de­rung auch Hr­ad­scheck ge­gen­über Aus­druck, wor­auf die­ser nicht we­nig ge­schmei­chelt ant­wor­te­te: »Ja, Herr Ritt­meis­ter, Glück muß der Mensch ha­ben! Man­cher kriegt‘s im Schlaf.«

Und dann lach­te der Es­kadron­chef und stieß mit ihm an.

 

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