The hospitable English House*

 

Lieber kleiner Mr. Burford, wie gern gedenk’ ich Deiner! Es sind nun volle acht Jahr, daß ich an Deinem Tische saß, aber Dein gastlich Haus ist unvergessen geblieben. Ich habe auch diesmal nach Dir gefragt; aber man kannte dich nicht mehr. Bist Du hinüber? Ach, mit Dir ist vieles andere noch gestorben – die ganze Hospitalität Deines Landes. Mag der Tag mir wieder lebendig werden, wo ich zum ersten Male durch die Gänge Deines Parkes schritt, und die Sonne so freundlich lachte und Deine Augen dazu.

Es war in einem Londoner Hotel; meine deutsche Reisegesellschaft hatte mich im Stich gelassen; unter lauter fremden Gesichtern saß ich an der Table d’hôte. Bald merkte ich, daß ich der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit war: es galt damals noch was, ein Fremder zu sein. Einige Worte wurden gewechselt; man fragte mich, wie lange ich in London sei, was ich gesehen habe, und da ich eben aus der Vernon-Galerie kam, waren wir bald in lebhaftem Gespräch über englische Maler und Malerei. Als ich, nicht ohne Absicht hinwarf, daß David Wilkie und neuerdings namentlich Landseer bei uns in Deutschland sehr wohl gekannt und gewürdigt seien, konnte ich deutlich wahrnehmen, welche Freude das auf allen Gesichtern hervorrief; sowie ich denn – damals wie jetzt – vielfach zu bemerken Gelegenheit fand, daß Selbstgefühl und Bewußtsein eigenen Wertes die Engländer gegen Anerkennung von außen her durchaus nicht unempfindlich gemacht hat. Es ist mit dem Nationalgefühl wie mit dem Künstlerstolz: wie guten Grund sie haben mögen, über Schmeichelei sind beide nicht erhaben.

Mein Nachbar zur Rechten, ein kleiner hagerer Mann, dessen Gesicht unerschöpfliches Wohlwollen ausdrückte, schloß mich ganz besonders in sein Herz, und lange bevor es mit der Tafel zur Neige ging, erklang das bekannte, alle Freundschaft einleitende Wort: can I have the honour to drink a glass of wine with you? Ich war begreiflicherweise nicht abgeneigt, mich bei einem vortrefflichen Cherry nach bester Kraft zu beteiligen, und als wir nach einer lebhaft durchschwatzten Stunde uns erhoben, war die Freundschaft geschlossen. Beim Abschied lud mich der kleine Mann ein, ihn nächsten Sonntag auf seiner Villa zu besuchen, entwarf in aller Eile einen Reiseplan für mich, und schied dann, nachdem ich frohen Herzens zugesagt hatte. Das englische, schwer zugängliche Familienleben kennenzulernen, war mein lebhafter Wunsch gewesen; er sollte mir nun erfüllt werden.

Sonntag, mit dem Frühzuge, der damals (bis Croydon wenigstens) für Dover und Brighton noch ein gemeinschaftlicher war, brach ich auf; bald war Anerley-Station erreicht; hier stieg ich aus, um den Rest meiner kleinen Reise zu Fuß zu machen. Es mochte noch eine halbe deutsche Meile sein. Der Weg führte mich abwechselnd durch Saatfelder, Dörfer, Laubholz, Hecken, Bruch und Weideland; es war nur eine halbe Meile, aber die Grafschaft Kent, der Garten Englands, rollte alle hundert Schritt ein anderes Bild vor mir auf und ließ in einer Stunde mich mehr sehen, als manche Tagereise, die ich durch märkischen Sand gemacht habe. Wir haben in unsern Niederungen, z.B. im Oderbruch, etwas Ähnliches; aber hier ist der Kreis von Gegenständen schnell erschöpft; der rasche Wechsel der Dinge ist auch vorhanden, aber die Zahl, die Mannigfaltigkeit alles dessen, was da wechselt, ist ungleich geringer.

Ich werde jenen Sonntagvormittag nicht leicht vergessen. Kirchenstill lag es über der Landschaft; nur hier und da spielten sonntäglich geputzte Kinder vor den sauberen Häuschen, oder Fink und Amsel schlugen, wenn ich durch Laubholz schritt. Überall trat mir ein Geist der Ordnung, eine Zierlichkeit, eine Kulturstufe der ländlichen Bevölkerung entgegen, wie sie bei uns selbst in der Nähe großer Städte nicht zu finden ist. Es war unzweifelhaft eine Nebenstraße, auf der ich vorwärts schritt, und doch war der Weg chaussiert; zu beiden Seiten befanden sich breite Abzugsgräben, hier und da selbst Rasenbänke für den Fußgänger. Der Eindruck der ganzen Landschaft war der eines großen Parks.

Gegen elf war ich bei Mr. Burford. Seine zierliche Villa bildete den Mittelpunkt einer Parkanlage, die in nächster Nähe des Hauses ein üppiger Blumengarten, an der äußersten Grenze aber ein Stück Wald war. Fast herrschte zu viel Symmetrie in dem Ganzen; von den Blumenbeeten aus sah man es nach allen Richtungen hin sich staffelweis erheben: erst Weißdorn, dann Goldregen, dann spanischer Flieder und Haselstrauch, bis endlich über Akazie und Sykomore hinweg, Ahorn und Rüster hoch in die Lüfte stiegen.

Mr. Burford stand vor der Tür seines Hauses und war eben beschäftigt, in Aquarell-Manier einen besonders hübschen Teil seines Gartens aufzunehmen und auszuführen, als ich eintrat. Er ließ sich nicht stören, bat im Interesse seines Bildes um Entschuldigung und überwies mich vorläufig seinen beiden Söhnen, von denen der eine achtzehn, der andere ein paar Jahre weniger zählen mochte. Wir schlenderten durch die Gänge des Parks: zu beiden Seiten dichtes Buschwerk, das sich oft zur Laube über uns wölbte, dann wieder ein blauer, lachender Himmelsstreif; im Gehölz der pickende Specht; auf der Hanfstaude der sich schaukelnde Hänfling; von Zeit zu Zeit ein prächtiger Silberfasan, der kreischend vor uns aufflog.

Als wir von unserm Spaziergang zurückkehrten, war das Aquarell-Bild fertig. Mr. Burford führte mich in eine Art Vorhalle, wo ich seinen Damen und einigen inzwischen angelangten Gästen vorgestellt wurde. Die Unterhaltung war anfangs dürftig, wie das in deutschen Landen wohl auch zu sein pflegt; auch das Hilfs- und Auskunftsmittel war dasselbe: Bücher und Kupferstiche, die auf verschiedenen Tischen vor uns ausgebreitet lagen.

Es ging zu Tisch, früher als es in England gemeinhin Brauch ist. Wir wollten noch ein paar Nachmittagsstunden zu Ausflügen in die Umgegend gewinnen. Die Mahlzeit war nach englischen Begriffen glänzend. In Champagner wurde tapfer angestoßen oder richtiger getoastet, da unser deutsches Anklingen mit den Gläsern gegen die Landessitte verstößt. Dort sieht man einander bloß an, läßt die Augen einige Zärtlichkeiten sagen, macht dabei mit Glas und Hand eine halbkreisförmige Bewegung und trinkt. Auch Reden wurden gehalten. Mr. Burford, dessen Unterhaltungsgabe sich unter dem Einflüsse von fünf Sorten Wein bis zur Schwatzhaftigkeit gesteigert hatte, platzte zunächst mit einem »Germany forever!« heraus; doch damit war’s ihm nicht genug. Auf die ewige Freundschaft beider stammverwandten Länder wurde Glas auf Glas geleert, und als es schließlich in Mr. Burfords Kopfe selbst sehr kriegerisch geworden war, trank er auf ein zweites Waterloo, wenn’s wieder einmal gelte, gleichviel gegen alte oder neue Feinde. Alles stimmte ein und in der mutigsten Stimmung von der Welt standen wir auf, um uns von Tisch in den Garten zu begehen. »Nun zu den Gipsies, Vater!« rief das jüngste Kind, ein reizender Junge von sechs Jahren; und groß und klein lärmte lachend mit: »Zu den Gipsies!« Gipsies sind Zigeuner. Man hält sie in England für Söhne Ägyptens, woraus sich im Laufe der Zeit die Benennung »Gipsies« (Ägypter) gebildet hat. Wir waren noch nicht allzuweit gegangen, als wir auf freiem Felde ein Gipsy-Nest entdeckten. Tief in einer Lehmgrube, um Schutz gegen den Wind zu finden, lagen drei zerlumpte Gestalten eng zusammengekauert; sie mochten frieren. Kaum daß sie uns gewahrten, so sprangen sie auf und gingen ihrem Geschäft nach, d.h. bettelten uns mit einer Beharrlichkeit an, der der endliche Erfolg nicht fehlen konnte. Wir erfuhren von ihnen, daß Großmutter zu Hause sei, und gingen nun, um Ihrer Majestät der Zigeunerkönigin unsern schuldigen Besuch zu machen. Ich hatte mich auf ein poetisches Zigeunerschloß: dichte Hecken als Wände, Moos und Flechten als Teppich, Baumstümpfe als Sessel, gefaßt gemacht – statt dessen ward ich in ein freundliches, grün abgeputztes Haus geführt, worin soeben ein lustiges Kaminfeuer hoch aufprasselte. Die Zigeunerkönigin war eifrig beschäftigt, sich und ihrem Mitregenten, einem steinalten Männchen, Kartoffeln zu kochen. Unser Erscheinen indes war ganz ersichtlich keine unwillkommene Störung; sie trat uns entgegen und die kohlschwarzen, trotz hohen Alters noch immer funkelnden Augen lachten freundlich, fast herzgewinnend, aus dem braunen, pockennarbigen Gesicht heraus. Es schien mir aus allem hervorzugehen, daß Mr. Burford ihr und dem alten Manne dies Häuschen für den Rest ihrer Tage geschenkt und sie überhaupt unterstützt habe; wenigstens trug ihr ganzes Tun, trotz mancher derben Keckheit, den unverkennbaren Stempel der Dankbarkeit. Ich erregte ihre Neugier, und sie drang darauf, daß sie mir wahrsagen müsse. Erst sträubte ich mich in einer Art abergläubischer Furcht; die freundlichen Augen aber machten mir Mut, und ich gab ihr lachend meine Hand. Bald war ich erlöst: »Drei Frauen und…«, aber ehe sie enden konnte, rief ich ein lautes »Stop!« dazwischen; – schon diese Aussicht auf die Lebensreise schien mir des Guten zuviel. Unter dem Jubel und Spott der ganzen Gesellschaft trat ich wieder ins Freie.

Es mochte gegen Abend sein, als wir in die Villa zurückkehrten. Der allgemeine Wunsch war jetzt – Musik. Man drang in mich, ich möchte spielen; ich sei ja ein Deutscher und jeder Deutsche spiele Klavier. Nur allzu wahr! Nach meinen Beteuerungen indes vom Gegenteil, nahm Mrs. Burford als erste Virtuosin der Familie am Fortepiano Platz, und spielte auf einem hackbrettartigen Instrumente Walzer und Polonaisen noch um etwas schlechter, als man denselben diesseits und jenseits des Kanals zu begegnen pflegt. Die Familie war entzückt und klatschte Bravo. Das natürliche Gefühl für den Wohlklang scheint dem Engländer zu fehlen. Und doch war dies Klavierkonzert nur ein schwacher Anfang: Mr. Burford zeigte alsbald der Gesellschaft an, daß er Volkslieder singen werde. »The black-eyed Susan« und »The girl I left behind me« klingen mir noch im Ohr; ich habe Ähnliches zum Glück nie wieder gehört.

Endlich schwieg er. Es schien der eigenen Familie doch fast zu viel gewesen zu sein; man war wie verlegen und drang aufs neue in mich, meine Gesangskunst zu zeigen. »A german song!« scholl es von allen Seiten. Deutschland gilt nun mal als das liederreiche Land. Ich singe nie, am wenigsten öffentlich; aber nach solchem Vorgänger glaubt’ ich alles wagen zu dürfen und mit dem süßen Gefühl künstlerischer Überlegenheit hob ich das Hauffsche Lied an: »Steh’ ich in finstrer Mitternacht.« Am Schluß der ersten Strophe fühlt’ ich zwar, daß mir der Text keineswegs geläufig sei, doch mit schneller Geistesgegenwart riß ich mich aus meiner üblen Lage, und sang (niemand verstand eine Silbe deutsch) fünfmal hintereinander denselben Vers. Der Beifall wollte nicht enden, ich aber verbeugte mich mit der verlegnen Bescheidenheit eines echten Künstlers.

Der Musik folgte die Dichtkunst; Shakespeare wurde geholt. Man war nicht wenig erstaunt, daß ich die bekanntesten Monologe aus Macbeth, Heinrich IV. und Hamlet auswendig wußte. Um so lebhafter war der Wunsch, mich irgendeine Stelle vortragen zu hören; man wollte gern erfahren, welchen Ton und Akzent wir für die poetische Sprache hätten, die, wie überall so auch in England, von der alltäglichen Redeweise abweicht. Ich wählte den Monolog Macbeths: »Is this a dagger which I see before me?« Jetzt war ich der Ausgelachte; ich konnte deutlich sehen, wie man, obwohl vergeblich, das Gekicher zu verbergen suchte. Gewiß hatte ich komische Fehler gemacht; außerdem aber, wie ich bald merken sollte, mußte ihnen die Art und Weise meines Vortrags saft- und kraftlos erschienen sein.

Der älteste Sohn, der, seitdem man den Shakespeare vom Bücherbrett geholt hatte, mit heiligem Eifer bei der Sache war, gab mir zu verstehen, daß er mir jetzt zeigen wolle, was es mit diesem Macbeth-Monolog eigentlich auf sich habe. Er las laut, mit beinahe ängstlicher Lebendigkeit und unter begleitenden Gestikulationen. Der Vortrag hatte ihn wie erschöpft. Die Familie schien überaus befriedigt und als ich leise Zweifel über die Zulässigkeit dieses Kraftmaßes äußerte und gegen den begleitenden Veitstanz geradezu protestierte, sagte man mir: so pflege der berühmte Macready (seitdem ins Privatleben zurückgetreten), der erste Schauspieler Englands, diese Stelle vorzutragen. Ich mußte mich um so eher bescheiden, als ich zufällig an die in Deutschland Mode gewordene Vortragsweise des Mephisto, nach der Seydelmannschen Schablone, dachte und mir sagen mußte, daß diese, bei uns so gefeierte Gesichterschneiderei und pausbackige Sprechweise, vor der Kritik eines unbefangenen Fremden vermutlich ebensowenig bestehen würde.

Es war spät geworden; zum Schluss hatt’ ich mich in ein halbes Dutzend Alben mit Stellen aus Byron, Young und Shakespeare einzuschreiben, wobei der zweite Sohn mir ein Gegengeschenk machte und zwar mein Porträt – eine allerliebste Bleistiftzeichnung, die er, während ich las, aufs Papier geworfen hatte. Ich stieg zwei Treppen hoch in das mit englischem Komfort eingerichtete Schlafzimmer, und nahm den frohverlebten Tag mit in meinen Traum.

Das war vor Jahren. – Nun sitz’ ich wiederum tagtäglich an offener Wirtstafel und schwatze mit meinen Nachbarn rechts und links; aber kein Mr. Burford ist unter ihnen, und »The hospitable english house« ist eine jener verbrauchten Redewendungen geworden, die wie schlechtes Papiergeld dann am meisten kursieren, wenn die Sache zu fehlen beginnt, drauf sie sich stützen.

 

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