Tag eins

Missmutig studierte Smirnow die Dienstberichte der letzten Woche. Nicht ein einziger Erfolg – abgesehen von diesem Ukrainer, der keine Aufenthaltserlaubnis für den Fernen Osten hatte und Schuk und Diakonow geradewegs in die Arme gelaufen war, als er sich auf einem der Seelenverkäufer einschiffen wollte, die die Küste hochschippern. Wollte sich wahrscheinlich oben im Kolyma-Gebiet als illegaler Goldwäscher betätigen, das arme Schwein. ABSCHIEBEHAFT. Ein paar verdächtige Meldezettel überprüft: nichts Verwertbares. Und dann war da noch dieser Japaner, dessen Visum vor acht Wochen abgelaufen war und der das Land noch nicht wieder verlassen hatte, nicht offiziell wenigstens. Ginsburgs Fall. Ginsburg war neu in der Abteilung, aber einen Japaner hätte er eigentlich binnen achtundvierzig Stunden ausfindig gemacht haben müssen. Nun gut, die Grenzbehörden hatten sich erst vor wenigen Tagen dazu bequemt, ihnen die Akte zukommen zu lassen. Eine heiße Spur war das nicht mehr, dieser verdammte Japs konnte inzwischen sonstwo sein. Vielleicht war die Sache doch nichts für einen Neuling… Er klappte die Akte zu und brüllte: “Ginsburg!”
In der offenen Tür zum Büro nebenan erschien das bleiche, von einem dunklen Lockenschopf umrahmte Gesicht von Lawrentji Bryner: “Ginsburg ist unterwegs.”
Smirnow zündete sich ein Zigarillo an und fuchtelte das Streichholz aus. “Und in welcher Angelegenheit, wenn man fragen darf?”
Bryner grinste. “Immer noch auf Japaner-Jagd, soviel ich weiß.”
“Hoffentlich kriegt er keine Schlitzaugen davon,” knurrte Smirnow, schnippte achtlos das Streichholz weg und verbreitete gedankenschwer blauen Dunst um sich herum. “Wo ist Bajazzow?”
“Ist gerade mal kurz weg, ‘ne neue Batterie für den Moskwitsch besorgen.”
“Schicken Sie ihn zu mir rein, wenn er wieder da ist.”
Bryner nickte und ließ seinen Stuhl wieder nach vorne kippen und war ausser Sicht.
In letzter Zeit hatten sie wirklich nicht viel vorzuweisen. Von Planerfüllung konnte keine Rede sein. Die einzige nennenswerte größere Aktion, war der Umzug der Abteilung hierher gewesen in die ehemaligen Räume einer Marineversorgungseinheit mit abgetretenen Linoleumfußböden, schäbigem Mobiliar, hastig geweißten Wänden und aus der Decke hängenden Kabeln für die Beleuchtung, die noch nicht installiert war. In den Schränken gab es sogar noch alte Akten von den Marineheinis. Die Heizung spuckte, es war heiß und stickig. Er stemmte sich hoch und riss das Fenster auf. Kalte Luft trug den Geruch von schlecht eingestellten Ölbrennern herein. Der Blick ging hinüber zum Kriegshafen in den Ausläufern der Bucht. Dicht an dicht lagen dort die grauen Schiffe im Winterdunst.
Eine Abteilung mit sieben Mann, einer leicht schielenden Sekretärin und drei klapprigen Dienstwagen, abgeschoben in den hintersten Winkel des Hafengebiets… Er dachte zurück an die Stationen seiner langen Jahre bei der Polizei: Sachalin, ein paar Nester an der Küste, Nachodka und dies und das. Immer irgendwie dasselbe. Posten, die keiner haben wollte. Sackgassen. Kein Blumentopf zu gewinnen damit. Jetzt auch wieder. Eine Menge Ausländer in der Stadt. Viel Arbeit – theoretisch. Aber das interessierte niemanden. Gesetze waren aus der Mode gekommen, dafür hatte man jetzt Rechtsanwälte mit Mercedes-Limousinen, oder man spielte Golf mit irgendwelchen Vorgesetzten. Zu fassen kriegte man bestenfalls noch die ganz kleinen Fische wie diesen Ukrainer.
Und morgen sollte der neue Chef kommen. Aus Moskau. Ehemaliger KGB-Mann. Fünfzehn Jahre jünger als er. Er spuckte hinaus und schloss das Fenster wieder. Wie macht man eigentlich Karriere? Verdammt!
Als er sich umdrehte, stand Bajazzow vor seinem Schreibtisch und blickte ihn fragend an. “Bryner sagte, Sie hätten etwas für mich, Chef.”
Smirnow blies Rauch durch die Nase und grunzte. “Der Neue, dieser, äh, Ginsburg hat anscheinend Schwierigkeiten, seinen Mann zu finden. Sehn Sie zu, dass Sie herausfinden, wo er gerade herumfuhrwerkt und dann zeigen Sie ihm, wie’s geht. Ich will diesen lausigen Japaner spätestens bis morgen dingfest gemacht haben.”
Felix Bajazzow, ein leutseliger, gedrungener, blonder Mann mit Stirnglatze und derben Händen, nickte und meinte: “Ist klar, Chef.”
“Hat sich was mit ‘Chef’,” knurrte Smirnow. “Morgen kommt der Chef. Ab sofort bin ich bloß wieder Leutnant für Sie, kapiert?”
“Klar doch – Chef,” bestätigte Bajazzow mit einem verschwörerischen Grinsen und ging hinaus mit leichten, federnden Schritten, die sehr wenig zu seiner erdigen Erscheinung passten.
Smirnow starrte ihm nach und begann geistesabwesend, mit einem Kugelschreiber zu spielen.

***

“Ich war immer ein Mann der Partei. Die meisten von Ihnen, meine Freunde, wissen das. Aber die Zeiten haben sich geändert. – Nun, sie ändern sich ständig, doch diesmal haben sie sich ganz besonders grundlegend geändert. Wir haben jetzt Marktwirtschaft und Kapitalismus. Nicht alle sind froh darüber, besonders die nicht, die sich mit Veränderungen schon immer schwer getan haben. Für alle anderen gilt: neue Chance – neues Glück. Man kann jetzt Millionen machen und muss noch nicht mal übermäßig clever sein.”
“Wer ist das?” fragte Larkin gedämpft.
Lenk winkte ab. “Irgend so ein Schwätzer von der Handelskammer.”
Sie standen an einem Nebeneingang im vorderen Teil des Saales und bildeten ein seltsames Paar: Larkin, hochgewachsen, rotblond, im Sportjackett und der kleine, stämmige Kirgise in der Uniform des Polizeichefs von Wladiwostok.
Während der Redner in den großartigen Möglichkeiten der neuen Zeit schwelgte und die Aufmerksamkeit der vollbesetzten Stuhlreihen hatte, knurrte Lenk: “Achten Sie nicht auf ihn. Die Leute, die man sich merken sollte, sitzen in den ersten beiden Reihen. Ganz vorne in der Mitte haben wir beispielsweise Anatolij Tokarew, den stellvertretenden Gouverneur. Neben ihm, der Bursche mit dem vielen Lametta, das ist Kapitän Jeskalatow, der Chef der Hafenverwaltung, ein sehr wichtiger Mann. Der junge Schnösel im grauen Flanell: Fomin Luks von der Primorje-Bank. In der zweiten Reihe, ganz außen auf der anderen Seite, sitzt Oleg Korsakow; er hat eine Fernsehsendung hier im örtlichen Kanal, die ziemlich beliebt ist und immer wieder eine Menge Staub aufwirbelt.”
“Und die Frau neben ihm?” erkundigte sich Larkin.
Lenk warf ihm einen kurzen, tadelnden Seitenblick zu. “Tajana Newelskoja. War früher mal für Ihre alte Firma tätig. Ausländerbetreuung. Abteilung Wein, Weib und Gesang – sie war das Weib. Gibt jetzt Partys, auf denen man angeblich unbedingt gewesen sein muss.”
Die dunkeläugige Frau hatte bemerkt, dass man von ihr sprach und lächelte zu ihnen herüber.”
“Sieht ganz gut aus, wie?” fand Lenk.
“Stimmt,” sagte Larkin.
“Aber Vorsicht, man kann nicht ausschließen, dass sie immer noch für irgend jemand irgendwen, nun äh, betreut.”
Larkin nickte.
“Und der Hurensohn mit dem ausgestopften Gesicht gleich hier vorne,” fuhr Lenk mit seiner Vorstellung fort, “heißt Chas Waxler. Er ist Niederlassungsleiter eines amerikanischen Ölkonsortiums und organisiert den Nachschub für die Erdölförderung oben auf Sachalin. Es gibt da noch undurchsichtige Nebengeschäfte, aber leider konnten wir ihm noch nichts beweisen.”
Der Amerikaner gähnte ahnungslos und blickte auf die Uhr.
Der Redner rief in den Saal: “Und noch ein guter Rat zum Schluss: Falls Ihre alten Götter noch nicht ganz tot sind – geben Sie ihnen den Gnadenschuss. Sie können Ihnen nicht mehr helfen. Die Demokratie hat gesiegt. Es lebe der Präsident!”
Beifall. Im Saal ging das Licht an. Jemand verkündete: “Das Büffet ist eröffnet!”
Das Gedränge ins Foyer brachte Larkin und Lenk in die Nähe von Korsakow, der Tatjana Newelskoja über die Schulter lachend etwas zurief.
“Diese Stimme hab ich irgendwo schon mal gehört,” grübelte Larkin.
“Wahrscheinlich im Kino,” brummte Lenk.
“Im Kino?”
“Na ja, oder in der Flimmerkiste. Butch Cassidy and the Sundance Kid, Der Clou, All the President’s Men und so weiter. Er ist die russische Stimme von Robert Redford. Schauspielerei und Synchronsprechen, damit hat er früher mal seine Brötchen verdient.”
Im Strom der tief dekolletierten Abendkleider, funkelnden Brillanten und Smokings wurden sie getrennt, und am Büffet kam Larkin neben Waxler zu stehen.
Waxler war ein bulliger, energiegeladener Mann, der sprach, als habe er den Mund voller Murmeln. Während er seinen Teller belud, sagte er: “Na, Sportsfreund, wie hat Ihnen die Rede gefallen?”
“Ich habe nur den letzten Teil mitgekriegt,” antwortete Larkin ausweichend und in akzentfreiem Englisch.
“Da haben Sie überhaupt nichts verpasst. Es war Bullshit.”
“Bullshit?”
“Ganz große Affenscheiße. Von wegen Untergang des Kommunismus und Aufbruch ins Gelobte Land. Der Kommunismus war nicht das Problem. Wissen Sie, was das Problem ist?”
“Nein, was ist es denn?”
“Die russische Mentalität, das ist das Problem.”
“Aha.”
“Diese Mischung aus Bürokratie, Kriminalität und Leck-mich-am-Arsch-Einstellung. – ‘Nitschewo’, wenn Sie wissen, was ich meine. Um richtig loslegen zu können, hätte man nicht nur den Kommunismus abschaffen müssen, sondern die verdammten Russkis gleich mit.”
“Ach.”
“Ich bin jetzt seit acht Jahren hier zugange. Und wissen Sie, was mir das eingebracht hat? – Bluthochdruck. Cholesterin-Werte, die die Grenzen des Vorstellungsvermögens sprengen. Und die solide Grundlage für ein Magengeschwür. Von den vielen Dollars, die mir durch die Lappen gegangen sind, ganz zu schweigen. Dieses Land bringt einen um, glauben Sie mir.” Waxler betrachtete seinen vollgepackten Teller, bleckte die Zähne und schob ihn unberührt aufs Büffet zurück. “Da kann man sich nur noch an den Wodka halten. Das ist der einzige wirkliche Beitrag zur menschlichen Zivilisation, den Russland je geleistet hat. – War nett, mit Ihnen zu plaudern, mein Freund. Na sdrowje!” Er wandte sich ab und bahnte sich einen Weg zu den Getränken.
Mit einer angenehmen dunklen Stimme sagte Tatjana Newelskoja: “Er scheint Sie offenbar für einen Ausländer und dankbaren Abnehmer von Russen-Witzen zu halten.”
Larkin drehte den Kopf. Sie hatte sich dicht neben ihn gestellt. Groß, schlank und sich ihrer Wirkung voll bewusst stand sie da in einem am Hals geschlossenen Kleid, das die Schultern frei ließ. Sie trug nur wenig Schmuck und gab sich keine Mühe zu verbergen, dass sich in ihrem Haar die ersten grauen Fäden zeigten. Auf ihrem Gesicht lag ein leichter Schatten von Müdigkeit und reichen Erfahrungen. Und ihre ruhigen, aufnahmebereiten Augen waren fest auf Larkin gerichtet. “Ich würde allerdings auf Moskau tippen oder St. Petersburg – habe ich recht?”
“Moskau,” bestätigte er. “Woran sieht man das?”
“Es ist nichts, was man sehen könnte. Es hat eher etwas mit – Intuition zu tun.” Ihr Blick glitt kurz über sein Jackett. “Was man allerdings sehen kann, ist, dass Sie nicht hergekommen sind, um sich den Vortrag anzuhören oder das Büffet zu plündern.”
“Stimmt, ich wurde einfach mitgeschleppt.”
“Was haben Sie mit dem grässlichen kleinen Mann zu tun?”
“Er ist mein Chef. Sie mögen ihn nicht?”
“Er ist so undurchschaubar und durchschaut selbst doch jeden. Ich finde das nicht fair.”
“Hm.”
“Sie haben über mich gesprochen. Was hat er Ihnen erzählt?”
“Er sagte, dass Sie fantastisch aussehen.”
“Und was noch?”
“Was denn noch?”
“Dazu braucht man nicht fünf Sätze.”
Larkin lächelte. “Er hat mich vor Ihnen gewarnt.”
Amüsiert zog sie eine Augenbraue hoch. “Ach ja. Und was ist so gefährlich an mir?”
“Das hat er nicht gesagt.”
“Und was glauben Sie, dass es ist?”
“Wie könnte ich das wissen, ich kenne Sie ja kaum.”
“Aber Sie sind Polizist.”
“Na ja.”
Sie nippte an ihrem Champagnerglas. “Moskau ist so groß und aufregend. – Warum sind Sie weggegangen?”
“Das ist eine lange Geschichte.”
“Ich mag lange Geschichten.”
“Auch wenn sie den Abend und die halbe Nacht dauern?”
Ihre Augen funkelten ihn über das Glas hinweg an. “Die ganz besonders.”
Mit ernstem Gesicht tauchte Lenk aus der Menge auf und winkte Larkin zu sich. “Mein Fahrer hat gerade einen Anruf von Ihrer Abteilung bekommen. Einer Ihrer Männer ist tot. Sie sollten sich das mal ansehen. Smirnow wird Sie abholen.”
“Mach ich,” nickte Larkin und blickte zu Tatjana Newelskoja zurück. Sie hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Bedauernd hob er die Schultern und machte sich auf den Weg.
Vor dem Hoteleingang wartete Smirnow mit einem Streifenwagen. Vom Beifahrersitz aus drückte er die hintere Tür auf und stellte sich vor: “Ich bin Boris Smirnow, Ihr Stellvertreter.” Und mit dem Kopf auf den Fahrer zeigend: “Und das hier ist, äh…”
Der Fahrer, ein junger Milizmann, drehte sich zu Larkin um und grinste: “Anton Minski, aber alle sagen nur Atominski zu mir.”
“Er gehört nicht zu unserer Truppe,” erläuterte Smirnow. “Ist vom Miliz-Revier eine Etage tiefer. Wir sind gerade mal wieder ziemlich knapp mit Dienstwagen.” Und zum Fahrer sagte er: “So, Atominski, dann zeig mal, was du kannst.”
In einem wilden Wirbel wendete der Wagen über die Fahrbahnen und heulte mit Blaulicht und Martinshorn die Swetlanskaja hinunter.
“Was ist passiert?” fragte Larkin.
Sie ließen eine einsam dahinzockelnde Straßenbahn hinter sich. Rote Ampeln flogen flogen vorbei. Rücklichter und Scheinwerfer ausweichender Autos schwenkten zur Seite.
“Ginsburg hat’s erwischt. Ist drüben auf der anderen Seite der Bucht von der Straße abgekommen, in eine Schlucht gestürzt und verbrannt.” Smirnow zündete sich bedächtig ein Zigarillo an und fuhr fort: “War erst seit ein paar Wochen bei uns. Kam von den Grenztruppen…” Ein Lastwagen aus einer Seitenstraße, der den Streifenwagen zu spät bemerkt hatte, war halb in der Kreuzung stehengeblieben. Kaltblütig wich Minski auf die Gegenfahrbahn aus, ließ den Wagen mit ausgestelltem Heck an dem Hindernis vorbeischlittern, fing ihn sauber wieder ab und steigerte das Tempo sofort wieder. Der Geruch von verbranntem Reifengummi mischte sich mit dem Zigarilloqualm. “… machte gar keinen schlechten Eindruck, wirklich keinen schlechten Eindruck.”
Die hell erleuchteten Fenster eines Krankenhauses wischten vorüber. Smirnow drehte sich zu Larkin um. “Ich hoffe, unser Rumgetrödel geht Ihnen nicht zu sehr auf den Wecker. Aber diese verdammten Ladas machen gerade mal hundertvierzig Sachen, mehr ist einfach nicht drin. In Moskau werden Sie sicher ganz andere Schlitten gehabt haben.”
Der Fahrer nahm eine Steigung mit Vollgas und umkurvte einige langsamere Fahrzeuge. Larkin grapschte haltsuchend nach dem Türgriff und sagte etwas steif und angespannt: “Nicht in der Abteilung, in der ich war.”
Minski bremste den Wagen brutal zusammen und bog in ein unbeleuchtetes schmales Sträßchen ab, das sich durch die Hügel auf der Halbinsel im Süden der Bucht wand. Der Motor arbeitete angestrengt auf hohen Touren. Sie erreichten den Pazifik und folgten der Küstenlinie hoch über dem Wasser. Hinter einer Felsnase blockierte ein Mazda der Verkehrspolizei die Straße. Minski brachte den Wagen mit einer Gewaltbremsung zum Stehen. Die Sirene verstummte. Sie stiegen aus. Kreisende Blau- und Rotlichter tauchten die Szene in ein geisterhaftes Flackerlicht, in dem sich schemenhafte Gestalten bewegten. Ein schwerer Autokran hatte seinen Ausleger ausgeschwenkt. Eine frische salzige Brise verwehte rasch den brenzligen Geruch, der von den heißgelaufenen Bremsen und Reifen des strapazierten Streifenwagens aufstieg. Über das Wasser strahlte das Leuchtfeuer auf der Russkij-Insel herüber. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen stand ein Mann am Straßenrand und spähte rauchend in die Tiefe.
“Das ist Hauptmann Palmirow von der Abteilung Mord und Totschlag,” erklärte Smirnow.
Sie traten zu ihm. Er wandte ihnen sein teigiges Gesicht mit Nickelbrille zu. Smirnow machte ihn mit Larkin bekannt. Beide nickten sich zu. Palmirow nahm die Zigarette aus dem Mund und sagte: “Tja, wie konnte das passieren? Da vorne ist er von der Straße abgekommen.” Er deutete zu einem Straßenstück vor dem Autokran, das mit Trassierband abgesperrt war. “Brauchbare Spuren haben wir noch nicht gefunden. Vielleicht morgen bei Tageslicht… Die Straße schlängelt sich ziemlich gleichmäßig an den Felsen entlang, nur an dieser Stelle springt sie plötzlich zurück, um diesen schluchtartigen Meereseinschnitt zu umfahren. Möglich, dass ihn das überrascht hat. Kann aber auch sein, dass es am Wagen lag. – Oder an ganz etwas anderem.”
Larkin blickte in den Einschnitt hinunter, in dem tief unten die Brandung gegen einen Streifen von Geröll und Felsbrocken schäumte. Dort lagen zerschmettert und ausgebrannt die Trümmer von Ginsburgs Dienstwagen und qualmten noch. Handlampen funzelten suchend um sie herum.
“Wir haben eine Strickleiter angebracht. Wenn Sie wollen, können Sie mal runtersteigen und sich die Sache näher ansehen,” bot Palmirow an.
Larkin winkte ab und stellte fest: “Die Stelle dort unten kann man von der Straße nicht einsehen und es gibt keine sichtbaren Unfallspuren auf der Straße. – Wer hat diesen Unfall eigentlich gemeldet?”
“Gute Frage,” fand Palmirow. Er formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllte zu den Männern, die das Wrack untersuchten, hinunter: “Lunz, wer hat diese Sache gemeldet?”
Von unten kam ein dünnes “Waaas?” zurück.
Mit verdoppelter Lautstärke brüllte Palmirow seine Frage noch einmal.
Aus dem Donnern der Brandung drangen Satzfetzen herauf. “Notruf… Verkehrspolizei…”
Palmirow winkte einen der Verkehrspolizisten heran. “Wart ihr zuerst hier?”
Der Polizist nickte.
“Von wem kam der Notruf?”
“Wir haben ihn von der Zentrale gekriegt.”
Palmirow sog noch einen tiefen letzten Zug aus seiner heruntergebrannten Zigarette und schnippte sie funkensprühend weg. “Na, dann frag mal nach, von wem ihn deine Zentrale gekriegt hat.”
Der Polizist ging zu seinem Wagen.
“Ist es sicher, dass das da unten Ginsburg ist?” erkundigte sich Larkin.
“Sicher ist bisher nur, dass es sein Dienstwagen ist und dass wir seine Dienstmarke gefunden haben. Er war mitten im Feuer und sieht entsprechend aus. Die endgültige Identfizierung wird Zeit brauchen…”
“Chef, Chef!” rufend kam Bajazzow von der Straßensperre her gehastet und blieb keuchend vor ihnen stehen. “Das ist der Chef – Major Larkin,” korrigierte ihn Smirnow verdrossen und stellte ihn Larkin vor. Unschlüssig blickte Bajazzow zwischen beiden hin und her und begann dann atemlos: “Seit heute nachmittag bin ich hinter Ginsburg her. Konnte ihn nirgends finden. Hab’s vorhin gerade im Funk gehört.”
“Wo haben Sie ihn denn gesucht?” knurrte Smirnow.
“Na, überall da, wo er nach dem Japaner hätte suchen können.”
In kurzen Worten setzte Smirnow Larkin über den Fall ins Bild.
Larkin runzelte die Stirn. “Haben Sie ihn denn nicht über Funk erreicht?”
Bajazzow schüttelte den Kopf. “Sein Wagen hatte gar keinen Funk.”
“Und was ist mit dem Japaner?” erkundigte sich Smirnow.
Bajazzow schnitt eine Grimasse. “Das wird schwierig. Kaum jemand scheint sich noch an ihn zu erinnern. Noch nicht mal in seinem Hotel. Und ich habe noch niemanden gefunden, der ihn in den letzten acht Wochen gesehen hätte. Sieht so aus, als ob er sich aus dem Staub gemacht hätte.”
“Okay,” stellte Larkin fest, “ich möchte Ginsburgs Akte aus seiner Zeit bei den Grenztruppen. Und wenn da nichts drin steht, möchte ich etwas über die Einheit hören, bei der er war.”
“Mal langsam,” schaltete Palmirow sich ein. “Ich weiß, es ist bitter, gleich am ersten Tag im Amt einen Mann zu verlieren. Aber Unfall oder nicht, die Sache fällt in mein Ressort. Kümmern Sie sich um Ihre Ausländer, wir machen das hier schon.”
“Einverstanden,” konterte Larkin gelassen. “Machen Sie das ruhig. Und die Benachrichtigung der Angehörigen überlassen wir Ihnen selbstverständlich auch gerne.”
Der Verkehrspolizist kam zurück und berichtete: “Es war ein anonymer Anruf. Jemand sah den Rauch aufsteigen.”
“Mann oder Frau?” wollte Palmirow ungeduldig wissen.
Der Polizist ging zu seinem Wagen, sprach mit seiner Zentrale und kam wieder zurück. “Eine Frau, Alter unbestimmt.”
“Wir werden das überprüfen,” knurrte Palmirow. “Hier gibt’s weit und breit kein Haus und kein Telefon. Wenn wir Glück haben, hat unser Vögelchen ein Handy benutzt, dann müssten wir eigentlich seine Rufnummer haben, vorausgesetzt, die Schlauberger in der Zentrale haben’s nicht wieder mal vermasselt.”
“Glauben Sie, dass der Anrufer irgendwas mit der Sache hier zu tun hat?” fragte der Verkehrspolizist eingeschüchtert.
“Kann sein, kann nicht sein. Aber immerhin könnte sie etwas beobachtet haben, schließlich sind auf dieser Straße um diese Zeit nicht mehr viele Leute unterwegs. Und wenn irgendwer sonst an diesem Unfall schuld gewesen sein sollte, könnte er aufgefallen sein.”
“Gute Nacht, Hauptmann,” wünschte Larkin und schlenderte mit Smirnow und Bajazzow zu den Wagen zurück. Beim Einsteigen erkundigte er sich beläufig: “Was sind das für Lichter dort oben auf den Felsen?”
“Das sind die Diomed-Apartments,” knurrte Smirnow. “So ‘n neuer Wohnkomplex für neue Reiche mit Swimmingpool, Sauna, Pförtner, Garagenwart und so weiter.”
“Und wo führt die Straße hier eigentlich hin?”
“Zu einem alten, verfallenen Fort aus der Zarenzeit und dann außen rum um die Halbinsel wieder zurück in die Stadt.”
“Halten Sie es für erfolgversprechend, in dieser Gegend nach verlorengegangenen Japanern zu suchen?”
“Schwer zu sagen. Aber wenn ich’s mir recht überlege, würde ich hier überhaupt nichts suchen, weil’s hier einfach nichts gibt – außer ‘ner schönen Aussicht bei Tage.”
“Hm.”
“Was denken Sie?”
“Scheint ein fähiger Mann zu sein, dieser Palmirow.”
Smirnow schnaubte verächtlich. “Er ist ein cholerischer, ehrgeiziger Hurensohn. Ich kenne niemand, der mit ihm zusammen auch nur ein Gramm Wodka trinken würde.”
Minski startete den Motor. Larkin sagte: “So, so.”

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