Siebenundzwanzigstes Kapitel – Kollegen

Ich war nicht der einzige Geheimagent der Polizei. Ein Jude, Gaffré, war mein Kollege. Er war schon vor mir angestellt worden, da aber unsere Prinzipien sehr voneinander abwichen, so blieben wir nicht sehr lange im Einverständnis. Ich bemerkte, daß er sich übel benahm und benachrichtigte den Divisionschef. Als dieser sich von der Wahrheit überzeugte, setzte er Gaffré vor die Tür und wies ihn aus Paris aus.

Jeden Tag wurde nun gegen mich Anzeige erhoben, aber die Stimmen der Verleumder waren machtlos. Henry, die rechte Hand des Präfekten, verbürgte sich für mich, und so wurde beschlossen, daß jede gegen mich gerichtete Denunziation mir unmittelbar mitgeteilt würde, und mir eine schriftliche Widerlegung der Anklage gestattet sein solle. Dieses Vertrauenszeichen machte mir viel Freude; es bewies mir wenigstens, daß meine Vorgesetzten mir Gerechtigkeit widerfahren ließen, und nichts in der Welt hätte mich von dem mir selbst vorgeschriebenen Wege abbringen können.

Im Jahre 1810 lenkten Diebstähle ganz neuer Art und von unbegreiflicher Keckheit die Aufmerksamkeit der Polizei auf eine neue Verbrecherbande.

Fast alle waren Einbruchsdiebstähle. Die Diebe machten sich nur an reiche Häuser heran, und alle Indizien sprachen dafür, daß die Kerle eine genaue Kenntnis der Räumlichkeiten besaßen.

Alle meine Bemühungen, diese geschickten Diebe abzufangen, waren erfolglos geblieben. Aber da wurde in der Rue Saint-Claude ein Diebstahl begangen, dessen Ausführung mit den unüberwindlichsten Schwierigkeiten verknüpft zu sein schien. Die Wohnung lag im dritten Stockwerk eines Hauses, in dem der Polizeikommissar des Reviers wohnte. Als Leiter hatte das Laternenseil gedient, das an der Haustür des Beamten hing.

Am Tatort war aber ein Hafersäckchen vergessen worden, wie sie die Droschkenkutscher zu haben pflegten. Das ließ vermuten, daß die Diebe entweder Droschkenkutscher waren, oder daß eine Droschke bei der Ausführung der Tat benutzt wurde.

Henry beauftragte mich, über die Kutscher Erkundigungen einzuziehen, und es gelang mir auch, festzustellen, daß das Hafersäckchen einem gewissen Husson von der Droschke Nr. 712 gehörte. Ich machte einen Rapport. Husson wurde verhaftet, und durch ihn kam man auf die Spur zweier Brüder Delzève, von denen der ältere auch bald dingfest gemacht werden konnte. In dem von Henry geführten Verhör machte dieser einige wichtige Mitteilungen, die zur Verhaftung eines Frotteurs beim Hofstaat der Kaiserin Josephine führten.

Die Diebe waren zumeist Dienstmänner, Traiteure und Kutscher; sie gehörten also zu einer Klasse, bei der die Ehrlichkeit zur Tradition gehört. Im Laufe des Jahres 1812 überlieferte ich der Justiz die Hauptmitglieder der Bande. Nur Delzève junior war noch nicht eingefangen worden. Am 31. Dezember sagte Henry zu mir:

„Ich glaube, wenn wir’s richtig anstellen, kriegen wir auch noch den Krebs (Delzèves Spitzname). Morgen ist Neujahr; er wird gewiß einen Besuch bei der Wäscherin machen, die ihm und seinem Bruder oft Zuflucht gewährt hat. Ich habe das Gefühl, daß er bestimmt hinkommen wird, heute abend, in der Nacht oder morgen früh.“

Ich war ganz Henrys Ansicht. Er gab mir drei Inspektoren mit und wir begaben uns um sieben Uhr abends in die Nähe der Wohnung der Wäscherin. Es war außerordentlich kalt. Die Erde war mit Schnee bedeckt; der Winter war noch nie so streng gewesen …

Wir legen uns in den Hinterhalt. Nach einigen Stunden sind die Inspektoren starr vor Kälte und schlagen mir vor, umzukehren. Auch ich bin halb erfroren, denn ich hatte bloß einen leichten Dienstmannskittel an. Ich mache Einwände, obwohl es mir selbst angenehm gewesen wäre, abzuziehen; es wird beschlossen, bis Mitternacht auszuhalten. Aber kaum schlägt es zwölf, erinnern sie mich an mein Versprechen, und wir verlassen den Posten, den wir laut Vorschrift bis zum Morgen behalten sollten.

Wir begeben uns ins Palais-Royal. Ein Café ist noch offen. Wir gehen hinein, wärmen uns, trinken einen Glühwein und trennen uns; jeder geht nach Hause. Aber während ich meiner Wohnung zuschreite, denke ich über meine Handlungsweise nach.

Mein Benehmen erschien mir nun ganz falsch. Ich war verzweifelt, daß ich den Vorschlag der Inspektoren gefolgt war. Fest entschlossen, meinen Fehler wieder gut zu machen, kehrte ich auf den Beobachtungsposten zurück und nahm mir vor, die Nacht dort zu verbringen, und sollte ich auch in den Stiefeln sterben. Ich stellte mich in ein Eckchen, um von Delzève nicht bemerkt zu werden, wenn es ihm doch noch einfallen sollte, zu kommen.

In dieser Stellung verbrachte ich anderthalb Stunden; mein Blut erstarrte, ich fühlte meinen Mut sinken. Plötzlich kam ich auf einen glänzenden Gedanken: nicht weit von mir lag ein Haufen Dung und Unrat, der doch immer warm ist. Ich laufe hin, grabe im Dünger eine ziemlich große Vertiefung, so daß ich bis zum Gürtel darin sitzen kann, und verstecke mich in dem Loch; eine angenehme Wärme bringt mein Blut wieder in Umlauf.

Es wurde fünf Uhr morgens, und noch hatte ich meinen Schlupfwinkel nicht verlassen; abgesehen vom Geruch, war ich gut aufgehoben. Endlich öffnet sich die Tür des betreffenden Hauses, und eine Frauengestalt kommt zum Vorschein; die Tür wird aber nicht wieder geschlossen. Geräuschlos schleiche ich aus meinem Misthaufen und schiebe mich in den Hof. Ich schaue mich um, sehe aber nirgends Lichtschimmer.

Ich wußte, daß Delzèves Freunde sich durch einen verabredeten Pfiff zu erkennen geben; dieser Pfiff nach Art der Droschkenkutscher war mir bekannt. Ich ahme ihn nach, und beim zweiten Mal höre ich eine Stimme: „Wer ruft?“

„Chauffeur (der Kutscher, bei dem Delzève das Fahren gelernt hatte) ruft Krebs!“

„Du bist es?“ ruft dieselbe Stimme. (Es war Delzève.)

„Jawohl, ich brauche dich, komme herunter.“

„Ich komme, warte einen Augenblick.“

„Es ist kalt,“ erwiderte ich, „ich warte auf dich in der Kneipe an der Ecke. Beeil’ dich, hörst du?“

Die Kneipe war schon offen: man weiß, daß es am Neujahrsmorgen früh Gäste gibt. Aber ich hatte gar keine Lust zum Trinken. Um Delzève zu täuschen, mache ich die Ausgangstür auf und lasse sie mit Geräusch wieder zufallen, ohne hinauszugehen. Ich verstecke mich unter einer Treppe im Hof. Bald kommt Delzève herunter, ich sehe ihn: ich gehe ihm nach, packe ihn am Kragen, setze ihm die Pistole auf die Brust und erkläre ihn als meinen Gefangenen.

„Folge mir,“ rufe ich, „bei der leisesten Bewegung breche ich dir ein Glied, denn ich bin nicht allein!“

Vor Überraschung starr antwortet Delzève kein Wort und folgt mir mechanisch. Ich fordere ihm seine Hosenträger ab, er gibt sie mir; nun bin ich über ihn Herr: er kann mir weder widerstehen noch flüchten.

Ich beeilte mich, ihn abzuführen. Die Uhr schlug sechs, als wir die Rue Rocher erreichten. Ein Fiaker kam vorbei, ich ließ ihn halten. Der Zustand, in dem ich mich befand, mußte wohl den Kutscher um die Sauberkeit des Wageninnern besorgt machen, aber ich versprach doppelte Bezahlung, und so nahm er uns auf. Bald rollten wir auf dem Pariser Pflaster dahin. Zur größeren Sicherheit binde ich meinen Gefährten an, der sich gegen mich hätte auflehnen können. In Anbetracht meiner Kraft brauchte ich dieses Mittel nicht, aber ich hoffte ihn zu einem Geständnis zu bringen und wollte es mit ihm nicht verderben.

Delzève sah ein, wie unmöglich ein Fluchtversuch wäre. Ich versuchte ihm Vernunft beizubringen. Um ihn kirre zu machen, bot ich ihm eine Erfrischung an, er nahm an: der Kutscher verschaffte uns Wein, und wir fuhren ohne ein bestimmtes Ziel trinkend weiter.

Es war noch früh am Morgen. Da ich fest überzeugt war, daß es vorteilhaft für mich sei, dieses Tete-a-tete in die Länge zu ziehen, so schlug ich Delzève vor, mit mir in einem Restaurant in einem Separé zu frühstücken. Er war beruhigt und schien mir nicht mehr zu grollen. Er lehnt die Einladung nicht ab und ich fahre mit ihm in den „Cardan bleu“. Aber noch bevor wir dort angelangt waren, hatte er mir bereits wichtige Mitteilungen über eine ganze Anzahl seiner Komplizen gemacht, die noch frei in Paris herumliefen. Ich glaubte fest, daß er bei Tisch ganz auftauen würde. Ich ließ ihn wissen, daß er sich lediglich durch ein Geständnis der Polizei angenehm machen könne; als der Wagen vor der Tür hielt, war er schon ganz entschlossen. Ich ließ ihn vor mir die Treppe hinaufgehen; im Moment, als wir uns zu Tisch setzten, bat ihn ihn, damit wir in aller Ruhe essen könnten, um die Erlaubnis, ihn auf meine Manier binden zu dürfen. Ich wollte ihm volle Freiheit für Arme zur Führung von Messer und Gabel lassen, und mehr Freiheit braucht man ja bei Tische nicht. Er fühlte sich durch meine Vorsicht keineswegs beleidigt, und ich tat folgendes: mit zwei Servietten band ich ihm jeden Fuß an ein Stuhlbein, drei oder vier Zoll über dem Fußboden, so daß er nicht aufstehen konnte, ohne zu riskieren, sich Hals und Genick zu brechen.

Er aß mit viel Appetit. Er ermächtigte mich, vor Henry alles zu wiederholen, was er mir gestanden hatte. Um zwölf Uhr nahmen wir einen Kaffee ein: der Wein hatte Delzève einen kleinen Hieb versetzt. Wir bestiegen den Wagen ganz versöhnt, ja sogar als die besten Freunde. Zehn Minuten später waren wir auf der Präfektur. Henry nahm gerade die Neujahrsgratulationen seiner Untergebenen entgegen. Ich trete ein und melde:

„Ich habe die Ehre, Ihnen ein glückliches neues Jahr zu wünschen und zugleich den berüchtigten Delzève vorzustellen!“

„Das nenne ich ein Neujahrsgeschenk!“ rief Henry, als er meinen Gefangenen erblickte. Dann sagte er, an die Beamten gewandt:

„Es wäre zu wünschen, meine Herren, daß jeder von Ihnen dem Herrn Präfekten etwas ähnliches bringen kann.“

Er wies mich an, Delzève aufs Depot zu begleiten und sagte gütig zu mir:

„Vidocq, gehen Sie jetzt schlafen, ich bin mit Ihnen zufrieden!“

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