Sein letzter Auftritt

Es war neun Uhr abends am zweiten August – dem schrecklichsten August in der Menschheitsgeschichte. Man hätte denken können, dass der Fluch Gottes bedrohlich über einer dekadenten Welt hing, denn in der schwülen, stillstehenden Luft lag eine furchteinflößende Stille und das Gefühl von nebelhaften Erwartungen. Die Sonne war schon lange untergegangen, aber weit im Westen lag noch ein blutroter Streifen tief über dem Horizont wie eine offene Wunde. Hoch am Himmel schienen hell die Sterne und unten in der Bucht schimmerten die Lichter der Schiffe. Die beiden berühmten Deutschen standen an der Brüstungsmauer der Terrasse, hinter sich das langgestreckte, niedrige Haus mit vielen Giebeln, und blickten auf den breiten Sandstrand am Fuße der Kalksteinklippe hinunter, auf der sich von Bork vor vier Jahren wie ein Wanderfalke niedergelassen hatte. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich mit leiser, vertraulicher Stimme. Von unten betrachtet mochten sich ihre beiden glimmenden Zigarren ausnehmen wie die glühenden Augen eines bösen Teufels, der in die Dunkelheit hinabstarrte.

Von Bork war ein bemerkenswerter Mann – ein Mann, dem kaum einer von all den anderen ergebenen Spionen des Kaisers gleichkam. Es waren vor allem seine Talente, die ihn für den Einsatz in England empfohlen hatten, den wichtigsten Einsatz überhaupt, und seit er ihn übernommen hatte, waren sie für das halbe Dutzend von Leuten, die wussten, wie die Dinge wirklich standen, immer deutlicher geworden. Einer von ihnen war der Mann, der neben ihm stand, Baron von Herling, der Botschaftssekretär, dessen riesiger 100-PS-Benz die Landstraße blockierte, darauf wartend, seinen Besitzer nach London zurückzubringen.

»Soweit ich die Lage beurteilen kann, werden Sie wahrscheinlich in einer Woche wieder in Berlin sein,« sagte der Sekretär. »Sie werden überrascht sein, was für einen Empfang man Ihnen dort bereiten wird, mein lieber von Bork, denn ich weiß zufällig, wie man in den höchsten Kreisen über Ihre Arbeit in diesem Land denkt.«

Der Sekretär war ein riesiger Mann, sowohl, was seine Größe als auch sein Körperumfang anging, und er sprach auf eine bedächtige, bedeutungsschwere Art, die der wesentlichste Aktivposten bei seiner politischen Karriere gewesen war.

Von Bork lachte.

»Man kann diese Engländer ziemlich leicht hinters Licht führen,« bemerkte er. »Ein gutmütigeres, einfacher gestricktes Volk kann man sich einfach nicht vorstellen.«

»Dazu kann ich nichts sagen,« murmelte der andere gedankenvoll. »Sie haben seltsame Beschränkungen, und man muss lernen, sich auf sie einzustellen. Ihre scheinbare Einfachheit

ist eine Falle, in die man als Fremder gerne hineintappt. Man hat zunächst den Eindruck, dass sie vollkommen sanftmütig sind. Aber dann stößt man plötzlich auf sehr harten Widerstand, und da weiß man, dass man an eine Grenze gestoßen ist und muss sich auf diese Tatsache einstellen. Sie haben da zum Beispiel ihre insularen Konventionen, nach denen man sich unbedingt richten muss.«

»Sie sprechen von ‚guten Umgangsformen‘ und dergleichen?« seufzte von Bork wie jemand, der darunter schon schwer zu leiden gehabt hatte.

»Ich spreche von britischen Vorurteilen, in all ihren verschrobenen Erscheinungsformen. Nehmen Sie zum Beispiel einen meiner schlimmsten Patzer – ich kann es mir erlauben, über meine Patzer zu reden, da Sie meine Arbeit gut genug kennen, um auch um meine Erfolge zu wissen. Bei meinem ersten Aufenthalt hier wurde ich übers Wochenende ins Landhaus eines Kabinettsministers eingeladen. Die Unterhaltung war erstaunlich indiskret.«

Von Bork nickte und sagte trocken: »Ich war auch dabei.«

»Ganz recht. Nun gut, ich schickte eine Zusammenfassung der Konversation nach Berlin. Leider ist unser guter Reichskanzler ein wenig plump in diesen Dingen, und er übermittelte eine Bemerkung, aus der hervorging, dass er wusste, was auf diesem Treffen besprochen worden war. Das fiel natürlich sofort auf mich zurück. Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Unannehmlichkeiten mir das bereitet hat. Ich kann Ihnen versichern, in dieser Angelegenheit waren unsere britischen Gastgeber plötzlich gar nicht mehr sanftmütig. Es hat mich zwei Jahre gekostet, die Affäre vergessen zu machen. Und Sie mit Ihrer sportlichen Attitüde –«

»Oh nein, nennen Sie es bitte nicht eine Attitüde. Eine Attitüde ist etwas Gekünsteltes. Aber meine Haltung ist eine ganz natürliche. Ich bin der geborene Sportsmann. Und ich genieße das.«

»Schön, das macht Ihre Art umso wirkungsvoller. Sie treten bei Segelregatten gegen sie an, Sie gehen mit ihnen zusammen auf die Jagd, Sie spielen Polo, Sie nehmen es mit ihnen in jedem Wettkampf auf, mit dem Vierspänner haben Sie bei der Olympiade sogar eine Medaille gewonnen. Wie ich hörte, treten Sie sogar im Boxkampf gegen junge Offiziere an. Und was ist dabei herausgekommen? Niemand nimmt Sie ernst. Sie sind einfach nur ein ‚guter alter Sportsmann‘, ein ‚ziemlich anständiger Bursche für einen Deutschen‘, ein trinkfester junger Kerl, der sich in Nachtklubs und wo sonst noch herumtreibt und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt. Und die ganze Zeit über ist ihr ruhiger Landsitz der Mittelpunkt für die Hälfte allen Unheils in England, und der sportliche Junker der scharfsinnigste Geheimdienstmann in Europa. Genial, mein lieber von Bork – einfach genial!«

»Sie schmeicheln mir, Baron. Aber sicherlich kann ich für mich in Anspruch nehmen, meine vier Jahre hier im Land nicht untätig gewesen zu sein. Aber ich habe Ihnen noch gar nicht meinen kleinen Laden hier gezeigt. Möchten Sie ihn vielleicht kurz ansehen?« Die Tür des Arbeitszimmers ging direkt auf die Terrasse hinaus. Von Bork stieß sie auf, ging voran und schaltete die elektrische Beleuchtung ein. Dann schloss er die Tür wieder hinter der massigen Gestalt, die ihm gefolgt war und zog sorgfältig die schweren Vorhänge vor dem vergitterten Fenster zu. Erst als er diese Vorsichtsmaßnahmen durchgeführt und noch einmal überprüft hatte, wandte er sein sonnengebräuntes Gesicht mit der Adlernase wieder seinem Besucher zu.

»Einige Papiere sind schon weg« sagte er. »Gestern, als meine Frau und das Hauspersonal nach Flushing abgereist sind, haben sie die weniger wichtigen mitgenommen. Für die anderen muss ich natürlich den Schutz der Botschaft in Anspruch nehmen.«

»Wir haben für Sie in meiner Privatsuite schon Räume reserviert. Es wird keine Schwierigkeiten für Sie oder Ihr Gepäck geben. Natürlich ist es immer noch möglich, dass wir gar nicht abreisen müssen. England kann Frankreich immer noch seinem Schicksal überlassen. Wir sind uns ziemlich sicher, dass es kein bindendes Abkommen zwischen ihnen gibt.«

»Und Belgien?«

»Ja, Belgien auch.«

Von Bork schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht sehen, wie dieser Fall eintreten könnte. Es gibt definitiv ein Abkommen. England könnte sich von einer derartigen Erniedrigung nie wieder erholen.«

»Sie würden wenigstens für den Augenblick Frieden haben.«

»Aber was ist mit Ihrem Ehrgefühl?«

»Ich bitte Sie, wir leben in einem Zeitalter der Nützlichkeitserwägungen. Ehre ist ein mittelalterlicher Begriff. Darüber hinaus ist England gar nicht bereit für einen Krieg. Es ist einfach unbegreiflich, aber nicht einmal unsere spezielle Kriegssteuer in Höhe von 50 Millionen Reichsmark, die, sollte man doch denken, unsere Ziele so klar gemacht hat, wie wenn wir sie auf der Titelseite der Times angekündigt hätten, hat diese Leute aus ihrem Schlummer geweckt. Hier und da fragt mal jemand danach. Und es ist meine Aufgabe, eine passende Antwort darauf zu finden. Hier und da gibt es Irritationen. Und es ist meine Aufgabe, sie auszuräumen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass soweit es die wesentlichen Dinge angeht – Bevorratung von Munition, Vorkehrungen gegen U-Boot-Angriffe, die Produktion von Sprengstoff – nichts ist vorbereitet. Wie kann England dann in einen Krieg eintreten, besonders da wir sie mit einem Teufelsgebräu wie dem Gespenst eines irischen Bürgerkriegs, rasenden Furien und Gott weiß, was nicht noch alles, in helle Aufregung versetzt haben, um sie dazu zu bringen, sich lieber nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.«

»Aber England muss an seine Zukunft denken.«

»Ah, das ist eine ganz andere Sache. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in der Zukunft unsere ganz eigenen Pläne mit England haben, und dass Ihre Informationen dabei für uns von großem Nutzen sein werden. Mit John Bull können wir uns heute befassen oder morgen. Wenn er heute vorzieht, sind wir bestens darauf vorbeireitet. Wenn es morgen sein soll, dann werden wir noch besser darauf vorbereitet sein. Ich würde meinen, es wäre klüger von ihnen, gegen uns mit Verbündeten zu kämpfen und nicht ohne sie, aber das ist ihr Problem. Diese Woche ist ihre Schicksalswoche. Aber Sie sprachen von Ihren Papieren.« Er setzte sich in einen Lehnstuhl, das Licht spiegelte sich auf seinem breiten kahlen Schädel und er paffte bedächtig seine Zigarre.

In einer Ecke des großen eichenholzgetäfelten Zimmers mit Bücherregalen an den Wänden hing ein Vorhang. Als er weggezogen wurde, gab er den Blick frei auf einen großen stabilen Safe. Von Bork löste einen kleinen Schlüssel von seiner Uhrenkette, hantierte damit umständlich am Schloss und öffnete die schwere Tür.

»Sehen Sie mal!« sagte er, während er beiseite trat mit einer ausholenden Handbewegung.

Das Licht fiel voll in den geöffneten Safe, und der Botschaftssekretär blickte mit gespanntem Interesse auf die Ablagefächer, in die das Innere unterteilt war. Jedes Fach trug eine Beschriftung und während er sie überflog, las er eine lange Folge von Titeln wie ‚Furten‘, ‚Hafen-Verteidigungsanlagen‘, ‚Flugzeuge‘, ‚Irland‘, ‚Ägypten‘, ‚Portsmouth – Festungen‘, ‚Ärmelkanal‘, ‚Rosythe‘ und noch viele andere. Jedes Fach war vollgestopft mit Papieren und Plänen.

»Kolossal!« sagte der Sekretär, legte seine Zigarre weg und klatschte sanft in seine fetten Hände.

»Und das alles in nur vier Jahren, Herr Baron. Nicht schlecht für einen trinkfesten, pferdenärrischen Landjunker, wie? Aber das Kronjuwel meiner Sammlung kommt erst noch und alles ist schon dafür vorbereitet.« Er deutete auf ein Fach, über dem ‚Marine-Signale‘ geschrieben stand.

»Aber Sie haben da doch schon eines schönes Dossier.«

»Überholt und Altpapier. Irgendwie hat die Admiralität davon Wind bekommen und alle Verschlüsselungen geändert. Das war wirklich ein schwerer Schlag, Herr Baron – der schlimmste Rückschlag in meiner ganzen Mission. Aber dank meines Scheckbuchs und des guten Altamount wird noch heute Abend alles wieder in Ordnung sein.«

Der Baron blickte auf seine Uhr und gab einen kehligen Laut der Enttäuschung von sich.

»Nun, ich kann wirklich nicht länger warten. Sie können sich sicher denken, wie sehr die Dinge in Carlton Terrace gerade in Bewegung sind und dass wir alle auf unserem Posten sein müssen. Ich hatte eigentlich gehofft, ich könnte von Ihrem großartigen Team gute Nachrichten mitbringen. Nannte Ihnen Altamont denn keine Uhrzeit?«

Von Bork reichte ihm ein Telegramm:

WERDE AUF JEDEN FALL HEUTE ABEND KOMMEN UND DIE NEUEN ZÜNDKERZEN MITBRINGEN.

ALTAMONT.

»Zündkerzen, was ist das?«

»Wie Sie sehen, gibt er sich gerne als Motorenfachmann, und ich habe eine gut bestückte Garage. In unserem Code trägt alles, was so anfallen kann, den Namen irgendeines Ersatzteils. Wenn er von einem Kühler spricht, dann meint er ein Schlachtschiff, eine Ölpumpe ist ein Kreuzer und so weiter. Zündkerzen sind Marine-Signale.«

»Gesendet aus Portsmouth mittags,« sagte der Sekretär, nachdem er die Telegrammüberschrift studiert hatte. »Übrigens, was haben Sie ihm dafür gegeben?«

»Fünfhundert Pfund für diesen speziellen Auftrag. Natürlich bezieht er daneben noch ein reguläres Honorar.«

»Was für ein gieriger Strolch. Diese Verräter sind zwar nützlich, aber ich missgönne ihnen ihr Blutgeld.«

»Ich missgönne Altamont gar nichts. Er ist ein ausgezeichneter Mitarbeiter. Solange ich ihn gut bezahle, liefert er mir wenigstens die Ware, wie er sich auszudrücken beliebt. Er ist übrigens kein Verräter. Ich versichere Sie, dass selbst unser entschiedenster pangermanischer Junker in seinen Empfindungen England gegenüber eine harmlose Taube ist verglichen mit einem wirklich verbitterten Amerikaner irischer Abstammung.«

»Oh, ein Amerikaner irischer Abstammung?«

»Wenn Sie ihn schon mal reden gehört hätten, dann würden Sie daran nicht die leisesten Zweifel haben. Selbst ich kann ihn manchmal kaum verstehen. Er scheint dem Englisch des Königs den Krieg erklärt zu haben ebenso wie dem König selbst. Müssen Sie wirklich gehen? Er sollte jeden Moment hier sein?«

»Bedaure, aber ich bin schon viel zu lange geblieben. Wir erwarten Sie also morgen Früh, und wenn Sie dieses Signalbuch durch die kleine Pforte bei den Duke of York-Treppen bringen, können Sie damit Ihrer Tätigkeit hier in England ein triumphales Ende hinzufügen. – Was?! Tokajer?« Er zeigte auf eine versiegelte, verstaubte Flasche, die zusammen mit zwei hochstieligen Gläsern auf einem Tablett stand.

»Darf ich Ihnen ein Glas einschenken, bevor Sie zurückfahren?«

»Nein danke. Aber das sieht mir ganz nach einem Bachanal aus.«

»Altamont hat einen ziemlichen feinen Geschmack für Weine, und er hat an meinem Tokajer einen Narren gefressen.

Er ist ein etwas empfindlicher Zeitgenosse, dem man auch in kleinen Dingen nachgeben muss. Ich muss ihn immer noch studieren, kann ich Ihnen sagen.«

Sie waren wieder auf die Terrasse hinausgeschlendert und bis an ihr Ende gegangen, wo der Chauffeur des Barons den großen Wagen zitternd und blubbernd anließ.

»Das dort sind die Lichter von Harwich, nehme ich an,« sagte der Sekretär und zog sich seinen Staubmantel über. »Wie ruhig und friedlich das alles erscheint. In einer Woche wird man da vielleicht ganz andere Lichter sehen, und die englische Küste wird ein weit weniger friedlicher Platz sein! Und auch der Himmel wird nicht mehr so friedlich sein, wenn all die guten Versprechungen von Zeppelin wahr werden. Übrigens, wer ist das?«

Er deutete auf das einzige erleuchtete Fenster hinter ihnen; in ihm stand eine Lampe, und neben ihr saß eine alte rotgesichtige Frau mit einer Haube nach ländlicher Sitte an einem Tisch. Sie saß über einer Strickarbeit, die sie gelegentlich unterbrach, um eine große schwarze Katze zu tätscheln, die neben ihr auf einem Stuhl lag.

»Das ist Martha, die einzige Bediente, die ich noch bei mir behalten habe.«

Der Sekretär kicherte.

»Fast eine Personifizierung der Britannica,« sagte, »in ihrer völligen Selbstversunkenheit und einem Hauch von Schläfrigkeit. Nun denn, au revoir von Bork!« Mit einem letzten Winken sprang er in den Wagen, und einen Augenblick später, schossen die goldfarbenen Lichtkegel der Scheinwerfer durch die Dunkelheit davon. Der Sekretär lehnte sich in die Polster der Luxuslimousine zurück, in Gedanken schon ganz bei der drohenden europäischen Tragödie, so dass er kaum bemerkte, wie als sein Wagen, als er im Dorf um eine Kurve bog, beinahe mit einem kleinen Ford zusammenstieß, der aus der Gegenrichtung kam.

Als der letzte Schein der Scheinwerfer in der Ferne verschwunden war, ging von Bork langsam in sein Arbeitszimmer zurück. Als er an dem beleuchteten Fenster vorbei kam, bemerkte er, dass seine alte Haushälterin das Licht gelöscht und sich zur Ruhe begeben hatte.

Für ihn waren die Stille und die Dunkelheit seines großen Hauses eine neue Erfahrung, denn seine Familie und sein Hauspersonal hatten viele Köpfe gezählt. Aber es war ihm eine große Beruhigung, alle in Sicherheit zu wissen, und dass er, abgesehen von einer alten Frau, die sich um die Küche kümmerte, das Haus ganz für sich hatte. In seinem Arbeitszimmer gab es noch einiges zu tun und er machte sich daran, bis sein angespanntestes, angenehmes Gesicht von der Hitze der brennenden Papiere gerötet war. Neben dem Schreibtisch stand ein Lederkoffer, in den er sehr sorgfältig und systematisch den wertvollen Inhalt seines Safes schichtete. Er hatte kaum damit begonnen, als sein empfindliches Gehör in der Ferne das Geräusch eines Kraftwagens wahrnahm. Er gab einen Laut der Befriedigung von sich, schnallte den Koffer zu, verschloss den Safe und eilte auf die Terrasse.

Er kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Scheinwerfer eines kleinen Wagens vor dem Tor anhielten. Ein Insasse sprang heraus und kam auf ihn zugeeilt, während der Chauffeur, ein schwer gebauter älterer Mann mit einem grauen Schnurrbart, sich in seinem Sitz einrichtete wie ein Mann, der sich auf eine längere Wache einstellt.

»Nun?« fragte von Bork ungeduldig, während er seinem Besucher entgegen eilte.

Zur Antwort schwenkte der Mann ein kleines in braunes Packpapier gewickeltes Päckchen über seinem Kopf.

»Sie können sich heute Abend glücklich schätzen,« rief er, » ich bringe Ihnen nämlich

schließlich den Schinken nach Hause.«

»Die Signale?«

»Genau wie ich Ihnen in meinem Telegramm angekündigt habe. Jedes Bisschen davon, Flaggensignale, Lichtsignale, Funksignale – allerdings nur in Kopie, nicht im Original. Das wäre zu riskant gewesen. Aber das ist wirklich erstklassige Ware, darauf können Sie sich verlassen.« Er schlug dem Deutschen mit einer groben Vertraulichkeit auf die Schulter, vor der andere zurückgeschreckt wären.

»Kommen Sie rein,« sagte von Bork. »Ich bin ganz allein im Haus. Ich habe nur noch auf Sie gewartet. Natürlich ist eine Kopie besser als das Original. Wenn das Original fehlen würde, würden sie wieder die ganze Verschlüsselung ändern. Sie glauben mit der Kopie ist alles in Ordnung?«

Altamont hatte das Arbeitszimmer betreten und sich mit seinen langen Beinen in einem Armsessel ausgestreckt. Er war ein hochgewachsener, ausgemergelter Mann von um die Sechzig mit klar geschnittenen Zügen und einem Ziegenbart, der ihn Karikaturen von Uncle Sam ähneln ließ. Eine halb gerauchte, ausgegangene Zigarre hing ihm aus dem Mundwinkel; als er sich niedergesetzt hatte, riss er ein Streichholz an und zündete sie wieder an. »Sind wohl dabei umzuziehen?« bemerkte er, sich umschauend. »Sagen Sie bloß, Mister,« fuhr er fort, als er den Safe sah, vor dem der Vorhang immer noch fortgezogen war, »Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass Sie Ihre Papiere da drin aufbewahren?«

»Warum nicht?«

»Um Gottes Willen, in einem Ungetüm wie diesem?! Und die halten Sie wirklich für einen Spion? Jeder x-beliebige Ganove aus den Staaten könnte Ihnen das Ding mit einem Dosenöffner aufmachen. Wenn ich gewusst hätte, dass jeder Brief von mir in so etwas wie dem Ding da landen würde, dann hätte ich schon ein ausgemachter Trottel gewesen sein müssen, Ihnen überhaupt etwas zu schreiben.«

»Diesen Safe aufzubrechen, würde jedem Ganoven Kopfzerbrechen bereiten,« versprach von Bork. »Dieses Metall können Sie mit keinem Werkzeug aufschneiden.«

»Und was ist mit dem Schloss?«

»Das auch nicht, es ist ein Doppel-Kombinationsschloss. Sie wissen, was das ist?«

»Keine Ahnung,« sagte der Amerikaner.

»Nun, Sie brauchen ein Wort und eine Folge von Zahlen, um das Schloss zu öffnen.« Er erhob sich und zeigte auf die in zwei Richtungen drehbare Scheibe um das Schlüsselloch. »Der äußere Kranz ist für die Buchstaben, der innere für die Ziffern.«

»Schön, schön, das ist prima.«

»Aber es ist nicht ganz so einfach, wie Sie vielleicht denken. Vor vier Jahren habe ich es anfertigen lassen, und was, glauben Sie wohl, habe ich für das Wort und die Zahlen gewählt?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Nun, ich wählte ‚August‘ für das Wort und ‚1914‘ für die Zahl, und da haben wir es auch schon.«

Auf dem Gesicht des Amerikaners zeigten sich Überraschung und Bewunderung.

»Mein Gott, das war aber clever! Sie haben es wirklich auf den Punkt getroffen.«

»Ja, nur wenige von uns hätten das Datum erraten können. Aber das ist es, und ich werde morgen Früh hier Schluss machen.«

»Nun, dann glaube ich, dass Sie auch mit mir Schluss machen müssen. Ich werde nicht länger allein in diesem gottverdammten Land bleiben. In einer Woche, vielleicht auch weniger, wird sich John Bull nämlich auf die Hinterbeine stellen und ziemlich zu wüten anfangen. Und das würde ich mir lieber von jenseits des Großen Teichs ansehen.«

»Aber Sie sind doch amerikanischer Staatsbürger.«

»Das war Jack James auch, und trotzdem sitzt er jetzt in Portland. Es bricht nicht gerade das Eis zu einem Bullen, wenn Sie ihm sagen, dass Sie amerikanischer Staatsbürger sind. Er wird dann nur antworten: ’Hier gilt britisches Recht‘. Übrigens, da wir gerade von Jack James reden, es scheint mir, dass Sie nicht gerade viel tun, um Ihre Männer zu decken, Mister.«

»Wie meinen Sie das?« fragte von Bork scharf.

»Sie sind doch ihr Arbeitgeber, oder? Dann müssen Sie auch dafür sorgen, dass sie nicht auffliegen. Aber sie fliegen auf. Und wann haben Sie schon jemals einen wieder herausgehauen? Da hätten wir James –«

»Es war James‘ eigener Fehler. Das wissen Sie selbst. Er war einfach viel zu eigensinnig für den Job.«

»James war ein Holzkopf – das muss ich zugeben. Aber dann war da noch Hollis.«

»Der Mann war verrückt.«

»Schön, zum Schluss war er ein bisschen verwirrt. Doch es ist ja auch wirklich genug, um einen Mann irre zu machen, wenn er von früh bis spät eine Rolle spielen muss und hundert Kerle ihn liebend gerne bei den Bullen verpfeifen würden. Aber dann ist da ja auch noch Steiner –«

Von Bork fuhr heftig zusammen und sein gerötetes Gesicht erblasste.

»Was wissen Sie über Steiner?«

»Sie haben ihn geschnappt, das ist alles. Sie durchsuchten seinen Laden gestern Abend, und jetzt sind er und seine ganzen Papiere in Portsmouth im Gewahrsam. Sie machen sich davon, und er, der arme Teufel, kann jetzt den ganzen Schwindel ausbaden, und er kann von Glück sagen, wenn er dafür nicht die Todesstrafe kriegt. Das ist der Grund warum ich von dieser Insel wegkommen will, sobald Sie es tun.«

Von Bork war ein starker, beherrschter Mann, aber es war deutlich zu erkennen, dass ihn diese Nachricht erschüttert hatte.

»Wie konnten sie auf Steiner kommen?« murmelte er. »Das ist wirklich der übelste Schlag.«

»Fast hätte es noch einen schlimmeren gegeben, denn ich glaube, dass sie mir schon dicht auf den Fersen sind.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Aber sicher doch. Meine Vermieterin unten in Fratton hatte Besuch von der Polizei, und als ich davon hörte, dachte ich mir, dass es Zeit ist, mich ranzuhalten. Aber was ich noch gerne wissen möchte, Mister, ist, wie die Bullen überhaupt darauf gekommen sind. Steiner ist der fünfte Mann, den Sie verloren haben, seit ich bei Ihnen angeheuert habe, und ich kenne auch schon den Namen des sechsten, wenn ich mich nicht ganz schnell aus dem Staube mache. Wie erklären Sie sich das, und schämt es Sie denn gar nicht, Ihre Männer so untergehen zu sehen?«

Von Bork lief puterrot an.

»Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden?«

»Wenn ich nichts wagen würde, Mister, stünde ich nicht in Ihren Diensten. Aber ich will Ihnen geradeheraus sagen, was ich denke. Ich habe gehört, dass ihr deutschen Politiker, wenn ein Spion seine Aufgabe erledigt hat, ohne Bedauern dabei zuseht, wie er weggesperrt wird.«

Von Bork sprang auf.

»Sie wagen wirklich zu behaupten, dass ich meine eigenen Spione verraten habe?!«

»Nein, Mister, aber irgendwo gibt es da einen Spitzel oder einen Doppelagenten, und es ist Ihre Aufgabe herauszufinden wo. Ich will jedenfalls mein Glück nicht länger strapazieren. Ich werde in das kleine Holland fahren, und zwar je eher je besser.«

Von Bork hatte seinen Ärger hinuntergeschluckt und sagte: »Wir sind viel zu lange Verbündete gewesen, um gerade jetzt in der Stunde des Sieges herumzustreiten. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet und sind hohe Risiken eingegangen, und das kann ich nicht vergessen. Gehen Sie unter allen Umständen nach Holland, dort können Sie in Rotterdam ein Schiff nach New York nehmen. Keine andere Linie wird in der nächsten Woche mehr sicher sein. Ich werde dieses Signalbuch nehmen und mit dem Rest zusammenpacken.«

Der Amerikaner hielt das kleines Päckchen in der Hand, machte aber keine Anstalten, es zu übergeben.

»Was ist mit dem Zaster?« fragte er.

»Mit was?«

»Na, mit der Pinke. Mit der Belohnung. Mit den 500 Pfund. Der Kanonier wurde verdammt garstig zum Schluss, und ich musste ihn nochmal mit hundert Dollar schmieren, oder es wäre für Sie und für mich nichts geworden. ‚Nichts zu machen,‘ sagte er und meinte es auch so, aber mit dem letzten Hunderter habe ich ihn dann doch rumgekriegt. Insgesamt hat mich das Ganze zweihundert Pfund gekostet, und die werde ich kaum abschreiben, ohne meine Kohle gekriegt zu haben.«

Von Bork zeigte ein bitteres Lächeln. »Sie scheinen keine sehr hohe Meinung von meiner Ehre zu haben,« sagte er. »Sie wollen also das Geld, bevor Sie mir das Buch gegeben haben.«

»Sehen Sie Mister, das ist ein ganz normaler geschäftlicher Vorschlag.«

»In Ordnung. Sie sollen Ihren Willen haben.« Er setzte sich an den Tisch, schrieb einen Scheck aus und riss ihn vom Block ab, aber er zögerte, ihn an seinen Kompagnon auszuhändigen. »So wie die Dinge jetzt zwischen uns stehen, Mr. Altamont,« sagte er, »sehe ich nicht ein, wieso ich Ihnen mehr vertrauen sollte als Sie mir. Verstehen Sie?« Und den Amerikaner über die Schulter anblickend fügte er hinzu: »Ihr Scheck liegt hier auf dem Tisch. Und ich möchte den Inhalt dieses Päckchens in Augenschein nehmen, bevor Sie das Geld einstecken.«

Wortlos überreichte der Amerikaner es ihm.

Von Bork entfernte den Bindfaden und zwei Lagen Packpapier. Dann saß er wie betäubt einen Moment lang in sprachlosem Erstaunen da vor einem kleinen blauen Buch, das vor ihm lag. Auf dem Einband stand in goldenen Lettern gedruckt ‚Parktisches Handbuch der Bienenzucht.‘ Nur für einen kurzen Augenblick starrte der Meisterspion auf die seltsam belanglose Aufschrift. Im nächsten Moment wurde er im Genick von einem eisernen Griff gepackt und ein chloroformierter Schwamm ihm in sein widerstrebendes Gesicht gedrückt.

»Nehmen Sie noch einen Schluck, Watson!« sagte Sherlock Holmes und hielt die Flasche des kaiserlichen Tokajers hoch.

Der gedrungene Chauffeur, der sich am Tisch niedergelassen hatte, schob ihm sein Glas begierig hin.

»Wirklich ein guter Tropfen, Holmes.«

»In der Tat ein bemerkenswerter Wein, Watson. Unser Freund da drüben auf dem Sofa hat mir versichert, er stamme aus Franz Josefs persönlichem Weinkeller in Schloss Schönbrunn. Würden Sie wohl bitte das Fenster öffnen, denn dieser Chloroformgeruch ist nicht gerade gut für den Gaumen.«

Der Safe war halb geöffnet, Holmes stand davor und nahm ein Dossier nach dem anderen heraus, inspizierte es kurz und verstaute es dann in von Borks Koffer. Der Deutsche lag auf dem Sofa und schlief schnarchend, an Armen und Beinen gefesselt.

»Wir haben keinen Grund zur Eile, Watson. Niemand wird uns stören. Würden Sie wohl bitte einmal die Klingel betätigen? Abgesehen von der alten Martha, die ihre Rolle wirklich bewundernswert gespielt hat, ist niemand mehr im Haus. Ich habe ihr die Stelle hier besorgt, gleich nachdem ich den Fall übernommen hatte. – Ah, Martha, es wird Sie freuen zu hören, dass alles glatt gelaufen ist.«

Die sympathische alte Dame war in der Tür erschienen. Sie begrüßte Holmes mit einem Lächeln und blickte dann besorgt zu der Gestalt auf dem Sofa hin.

»Keine Sorge, Martha. Er ist überhaupt nicht verletzt.«

»Das freut mich aber, Mr. Holmes. Für seine Verhältnisse war er ein sehr netter Arbeitgeber. Gestern sagte er mir, dass er wünsche, dass ich mit seiner Frau zusammen nach Deutschland fahre, aber das würde wohl kaum Ihren Plänen entsprochen haben, oder, Sir?«

»Keineswegs, Martha. Solange Sie hier waren, war ich völlig beruhigt. Wir haben nur noch auf Ihr Signal heute Abend gewartet.«

»Es war der Sekretär, Sir.«

»Ich weiß. Wir sind ihm begegnet.«

»Ich habe schon geglaubt, er würde nie mehr gehen. Ich wusste, dass es nicht in Ihren Plan passen würde, ihn hier noch anzutreffen, Sir.«

»Ganz recht. Nun, wir mussten ja nur nur ungefähr eine halbe Stunde warten, bis ich sah, dass Ihre Lampe ausging und wusste, das die Luft rein war. Den Rest können Sie mir morgen in London im Claridge‘s Hotel erzählen, Martha.«

»Ganz, wie Sie wünschen, Sir.«

»Ich nehme doch an, Sie haben schon alles für Ihre Abreise vorbereitet.«

»Ja, Sir. Er hat heute noch sieben Briefe zur Post gegeben. Ich habe mir die Adressen wie immer notiert.«

»Sehr gut, Martha. Ich werde sie mir morgen ansehen. Gute Nacht. – Diese Papiere,« fuhr er fort, als die alte Dame wieder verschwunden war,« sind nicht von besonderer Bedeutung, da ihr Inhalt schon längst an die deutsche Regierung gekabelt worden ist. Das hier sind die Originale, die nicht so ohne Weiteres außer Landes geschafft werden konnten.«

»Dann sind sie also nutzlos.«

»So weit würde ich nicht gehen, Watson. Sie werden unserem Volk zumindest die Augen darüber öffnen, was die Deutschen wissen und was nicht. Ich kann wohl behaupten, dass ein Gutteil dieser Papiere von mir stammt, und ich muss wohl nicht hinzufügen, dass es sich dabei um sehr sorgfältig unbrauchbar gemachte Informationen handelt. Es würde meine schwindenden Jahre doch sehr erhellen, wenn ein Deutscher Kreuzer in den Solent einlaufen und sich dabei nach den Minenverlegeplänen richten würde, die ich beigesteuert habe.

Aber Sie, Watson« – er hielt mit seiner Arbeit inne und ergriff seinen alten Freund an den Schultern – »ich habe Sie noch kaum bei Lichte betrachtet. Wie ist es Ihnen denn in den ganzen Jahren ergangen? Sie sehen immer noch aus wie der vergnügte Junge von ehedem.«

»Ich fühle mich um zwanzig Jahre jünger, Holmes. Ich habe mich selten so glücklich gefühlt wie an dem Tag, als ich Ihr Telegramm erhielt, in dem Sie mich baten, Sie in Harwich mit dem Auto abzuholen. Und Sie, Holmes – Sie haben sich auch nur sehr wenig verändert – abgesehen von diesem fürchterlichen Ziegenbart.«

»Das sind so die Opfer, die man für sein Land bringen muss,« lächelte Holmes und zupfte an dem Haarbüschel. »Morgen wird es nur noch eine furchtbare Erinnerung sein. Nach einem ordentlichen Haarschnitt und ein paar anderen oberflächlichen Veränderungen, werde ich im Claridge‘s zweifellos so wieder auftauchen, wie ich vor dieser amerikanischen Nummer war – Pardon, Watson, mein gutes Englisch scheint doch etwas gelitten zu haben – bevor mir dieser amerikanische Job vor die Füße fiel.«

»Aber Sie hatten sich doch schon zur Ruhe gesetzt, Holmes. Wie man hörte, führten Sie auf einer kleinen Farm in den South Downs inmitten Ihrer Bienen und Bücher das Leben eines Einsiedlers.«

»Ganz recht, Watson. Und das hier ist die Frucht meines ruhigen Landlebens, das Magnum Opus meiner späten Jahre!« Er nahm das Bändchen vom Tisch und las den ganzen Titel vor: ‚Praktisches Handbuch der Bienenzucht unter besonderer Berücksichtigung der Absonderung der Bienenkönigin.‘ Nun, das ist von mir. Es ist das Ergebnis nachdenklicher Nächte und arbeitsreicher Tage, in denen ich diese kleinen emsigen Banden beobachtet habe wie einst die Unterwelt von London.«

»Aber wie sind Sie denn wieder in Ihr altes Geschäft gekommen«

»Darüber habe ich mich mehr als einmal selbst gewundert. Dem Außenminister hätte ich ja noch widerstehen können, aber als dann auch noch der Premierminister mein bescheidenes Heim mit seinem Besuch beehrte – ! Es ist nun mal so, Watson, dass dieser Gentleman dort auf dem Sofa ein bisschen zu gut für uns Engländer war. Er war eine Klasse für sich. Eine Menge ist schief gelaufen, und niemand konnte sich erklären warum. Spione wurden verdächtigt und auch verhaftet, aber es gab Hinweise auf irgendein geheimes Zentrum, in dem die Fäden zusammenliefen. Es war unbedingt nötig, es aufzudecken. Man übte großen Druck auf mich aus, mich dieser Sache anzunehmen. Es hat mich zwei Jahre gekostet, Watson, und sie waren gewiss nicht frei von Aufregungen. Wenn ich Ihnen sage, dass ich meine Wanderschaft in Chikago begann, bei einer irischen Geheimgesellschaft in Buffalo einen Grad erwarb, dem Polizeiposten in Skibbareen ernste Sorgen bereitete und so schließlich die Aufmerksamkeit eines Agenten von von Bork erregte, der mich als zuverlässigen Mann empfahl, werden Sie sicher erkennen, wie komplex die Angelegenheit war. Von da an würdigte er mich seines Vertrauens, was nicht verhinderte, dass seine meisten Pläne auf unerklärliche Weise scheiterten und fünf seiner besten Spione im Gefängnis landeten. Ich habe sie im Auge behalten, und als sie reif waren, habe ich sie gepflückt. – Nun, Sir, ich hoffe, Sie haben es unbeschadet überstanden!«

Die letzten Worte waren an von Bork gerichtet, der nach Luft schnappenden und blinzelnd da gelegen und still Holmes‘ Ausführungen zugehört hatte. Nun stieß er mit leidenschaftlich verzerrtem Gesicht eine wütende Flut von deutschen Verwünschungen aus. Holmes fuhr in seiner raschen Untersuchung der Dokumente fort, begleitet von den Flüchen und Beleidigungen seines Gefangenen.

»Obwohl es ziemlich unmelodiös ist, ist das Deutsche doch die ausdrucksstärkste Sprache überhaupt,« stellte er fest, als von Bork erschöpft verstummt war.

»Hallo! Hallo!« fuhr er fort und starrte auf den Rand eines Durchschlags, bevor er ihn in den Koffer legte. »Da haben wir ja noch einen Vogel im Netz. Ich wusste ja gar nicht, dass dieser Zahlmeister so ein Schlingel ist, obwohl ich schon lange ein Auge auf ihn gehabt habe. Herr von Bork, Sie werden uns eine Menge zu erzählen haben.«

Der Gefangene hatte sich mit einiger Mühe auf dem Sofa aufgerichtet und starrte den Mann, der ihn gefangen hatte, mit einer seltsamen Mischung aus Verblüffung und Hass an.

»Mit Ihnen bin ich noch nicht fertig, Altamont,« sagte er langsam und bedächtig. »Und wenn es mich mein ganzes Leben kostet, ich kriege Sie noch!«

»Immer das alte Lied,« entgegnete Holmes. »Wie oft habe ich es schon gehört in den alten Tagen. Es war das Lieblingsliedchen des vielbeklagten verstorbenen Professors Moriarty. Oberst Sebastian Moran pflegte es ebenfalls zu trällern. Und trotzdem lebe ich immer noch und züchte Bienen in den South Downs.«

»Seien Sie verflucht, Sie doppelter Verräter!« schrie der Deutsche und kämpfte gegen seine Fesseln an und funkelte Holmes voller Mordlust an.

»Nein, nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht,« lächelte Holmes. »Wie Sie meinen Worten sicherlich entnommen haben, hat ein Mr. Altamont aus Chikago nie existiert. Ich habe seinen Namen nur benutzt, und jetzt gibt es ihn nicht mehr.«

»Und wer sind Sie dann?«

»Eigentlich ist es ziemlich unbwichtig für Sie, wer ich bin, aber da es Sie nun mal zu interessieren scheint, Herr von Bork, kann ich Ihnen sagen, dass dies nicht meine erste Bekanntschaft mit Mitgliedern Ihrer Familie ist. In der Vergangenheit hatte ich schon so einiges in Deutschland zu erledigen, und möglicherweise kennen Sie meinen Namen.«

»Den wüsste ich wirklich zu gern,« sagte der Preuße grimmig.

»Ich war es, der die Trennung von Irene Adler und dem verstorbenen König von Böhmen bewirkt hat, als Ihr Cousin Heinrich kaiserlicher Gesandter war. Und ich war es auch, der die Ermordung von Graf von und zu Grafenstein, dem älteren Bruder Ihrer Mutter, durch den Nihilisten Klopmann verhindert hat. Und ich war es auch – «

Von Bork setzte sich verblüfft auf.

»Da gibt es nur einen Mann,« rief er.

»Genau,« sagte Holmes.

Aufstöhnend sank von Bork auf das Sofa zurück. »Und fast alle Informationen habe ich von Ihnen!« rief er aus. »Was sind sie wert? Was habe ich getan? Das wird mich für immer ruinieren!«

»Sie sind sicherlich ein bisschen unzuverlässig,« sagte Holmes. »Man wird sie überprüfen müssen, aber dazu ist nur noch wenig Zeit. Ihre Admiräle werden wohl Kanonen von größerem Kaliber vorfinden, als sie erwartet haben, und Kreuzer, die möglicherweise ein bisschen schneller sind.«

Verzweifelt griff von Bork sich an die Kehle.

»Es gibt da noch eine ganz Reihe von Details, die zu gegebener Zeit zweifellos ans Licht kommen werden. Aber Sie haben eine Eigenschaft, Herr von Bork, die in Deutschland sehr selten ist: Sie sind ein Sportsmann, und Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn Sie erkennen, dass Sie, der so viele Menschen ausgetrickst hat, zum Schluss selber ausgetrickst worden ist.

Nun, Sie haben Ihr Bestes für Ihr Land gegeben, und ich habe das Beste für meines getan, was könnte natürlicher sein? – Und übrigens,« fügte er noch nicht unfreundlich hinzu und legte die Hand auf die Schulter des auf dem Bauch liegenden Mannes, »ist das immer noch besser, als vor einem unwürdigen Feind zu fallen. – Watson, ich bin jetzt fertig mit diesen Papieren. Wenn Sie mir mit unserem Gefangenen helfen, könnten wir sofort nach London aufbrechen.«

Es war nicht ganz einfach, von von Bork hinauszuschaffen, denn er war ein starker, sich heftig sträubender Mann. Schließlich führten ihn die beiden Freunde seine Arme festhaltend sehr langsam über die Terrasse, die er noch mit stolzem Selbstvertrauen entlang gegangen war, als er nur wenige Stunden zuvor die Glückwünsche des berühmten Diplomaten entgegen genommen hatte. Nach einem kurzen letzten Gerangel wurde er, immer noch an Händen und Füßen gefesselt, auf den Notsitz des kleinen Wagens gehievt. Und sein wertvoller Koffer wurde neben ihn gezwängt.

»Ich hoffe, Sie haben es so bequem, wie die Umstände es zulassen,« sagte Holmes, als alles an seinem Platz war. »Darf ich wohl so frei sein, eine Zigarre anzuzünden und Sie Ihnen zwischen die Lippen zu stecken?«

Aber alle angebotenen Annehmlichkeiten stießen bei dem wütenden Deutschen nur auf taube Ohren.

»Ich nehme an, Ihnen ist klar, Mr. Sherlock Holmes,« sagte er, »dass, falls Ihre Regierung diese Behandlung gutheißen sollte, dies als Kriegshandlung gewertet werden wird.«

»Und was ist mit Ihrer Regierung und all diesen Sachen hier?« fragte Holmes und klopfte auf den Koffer.

»Sie sind nur eine Privatperson. Sie sind gar nicht berechtigt, mich festzunehmen. Ihr ganzes Vorgehen ist vollkommen gesetzwidrig und empörend.«

»Absolut,« stimmte Holmes zu.

»Entführung eines deutschen Staatsbürgers.«

»Und Diebstahl seiner privaten Papiere.«

»Gut, dann ist Ihnen und Ihrem Komplizen Ihre Lage also klar. Und wenn ich um Hilfe rufen würde, wenn wir unten durchs Dorf fahren –«

»Mein lieber Herr, wenn Sie so etwas Dummes tun würden, dann würden Sie sehr wahrscheinlich doch nur die sehr beschränkte Namenswahl unserer Dorfgasthäuser um den ‚Zum baumelnden Preußen‘ erweitern. Der Engländer an sich ist ein geduldiges Wesen, aber zur Zeit ist sein Gemüt ein wenig erhitzt, und deshalb wäre es sicher besser, ihn nicht noch mehr zu reizen. Nein, Herr von Bork, Sie werden mit uns hübsch ruhig und vernünftig zu Scotland Yard fahren, wo Sie Ihren Freund Baron von Herling rufen und treffen können, auch wenn Sie nun den Platz nicht mehr einnehmen können, den er für Sie in seinen Räumen reserviert hat. Und Sie, Watson, werden uns mit Ihrer altbewährten Unterstützung begleiten, wie ich mir denken kann, wenn London auf Ihrem Weg liegt. Bleiben Sie mit mir noch ein wenig hier auf der Terrasse, es ist vielleicht das letzte ungestörte Gespräch, das wir jemals haben werden.«

Die beiden Freunde unterhielten sich einige Minuten lang und erinnerten sich noch einmal der alten Tage, während ihr Gefangener vergeblich versuchte, sich von seinen Fesseln freizumachen. Als sie zum Wagen zurückkehrten, deutete Holmes auf die See im Mondlicht und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Wir werden Ostwind kriegen, Watson.«

»Das glaube ich nicht, Holmes. Es ist doch sehr warm.«

»Guter alter Watson! Sie sind wirklich der einzige ruhende Pol in dieser wechselvollen Zeit. Es kommt trotzdem ein Ostwind, und zwar ein solcher Wind, wie England ihn noch nicht erlebt hat. Er wird kalt sein und grimmig, Watson, und nicht wenige von uns werden wohl unter seinem Ansturm zugrunde gehen. Nichtsdestotrotz es ist Gottes Wind, und wenn sich der Sturm verzogen haben wird, wird ein reineres, besseres, stärkeres Land im Sonnenschein vor uns liegen. Auf geht‘s Watson, es ist höchste Zeit, uns auf den Weg zu machen. Ich habe hier einen Scheck über 500 Pfund, den ich sobald wie möglich einlösen sollte, denn dem Aussteller ist zuzutrauen, dass er ihn sperren lässt, wenn er kann.«

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