Lincoln

Im Herbste des Jahres 1857 schickten mich die Republikaner von Watertown als ihren Vertreter in den republikanischen Staatskonvent, welcher die Kandidaten für die Staatsämter aufstellen sollte. Dort erwartete mich eine große Überraschung. Ich fand, daß die tonangebenden Parteileiter mich zum republikanischen Kandidaten für das Amt des Vizegouverneurs ausersehen hatten. Das war ohne Zweifel das Werk meines Freundes, des Senators Harvey. Ich war nicht ohne Ehrgeiz und die Nomination zum Vizegouverneur war eine ehrenvolle Auszeichnung, die ich hochschätzen mußte. Sie schmeichelte mir sehr. Es war mir aber nicht ganz behaglich dabei. Ich hatte um diese Zeit wirklich nicht den Wunsch nach einer amtlichen Stellung und ich bezweifelte ernstlich meine Fähigkeit, die Pflichten des Amtes erfüllen zu können. Überdies war ich noch nicht Bürger der Vereinigten Staaten, da noch einige Wochen an den fünf Jahren fehlten, die mir einen Anspruch auf volle Bürgerrechte gewährten. Es wurde mir aber gesagt, daß ich mich nicht über meine Tauglichkeit für das Amt zu beunruhigen brauche, daß die damit verbundenen Pflichten keine großen Ansprüche an mich stellen würden, und daß ich sehr leicht die Kenntnis parlamentarischer Regeln erlangen könne, um bei den Sitzungen des Senats des Staates Wisconsin zu präsidieren. Was die Frage des Bürgerrechts beträfe, so sei in der Verfassung und in den Gesetzen nicht vorgeschrieben, daß der Kandidat für ein solches Amt ein voller Bürger sein müsse; ich werde meine Bürgerpapiere besitzen, wenn ich erwählt sei, und das sei genug. Ich erkannte bald, daß meine Nomination als Lockvogel gelten solle, um die »deutsche Stimme« für die republikanische Partei zu sichern, und da dies, wenn es gelänge, der Anti-Sklavereisache dienen würde, nahm ich an.

Ich hatte aber meine großen Bedenken, würde nicht die Nomination eines jungen und verhältnismäßig unbekannten neuen Ankömmlings zu einer so hervorragenden und ehrenhaften Stellung, während sie einige deutsche Stimmen anzog, vielen amerikanischen Stimmgebern mißfallen? Außerdem behagte mir der Gedanke nicht, für meine Prinzipien in einem Wahlkampf zu streiten, indem ich als Kandidat ein persönliches Interesse hatte. Mein Anteil am Wahlkampf war dieses Mal lange nicht so lebhaft wie in der Fremont-Kampagne von 1856. Doch war es für mich eine gute Übung, da ich dabei meine ersten englischen Reden hielt. Meine Bedenken wurden durch das Resultat gerechtfertigt. Während der republikanische Kandidat für das Amt des Gouverneurs einige Stimmen Majorität erlangte, wurde ich mit 107 Stimmen geschlagen. Meine Niederlage war mir natürlich eine Enttäuschung doch nahm ich sie mir nicht sehr zu Herzen. Ich faßte sie vielmehr wie eine Erleichterung auf, die mir ungestört mein harmlos erfreuliches Leben auf meiner Farm, in meiner Familie und unter meinen Freunden und meinen Büchern fortzusetzen erlaubte. Ich lernte aber dadurch eine Seite des politischen Lebens kennen, welche mir damals noch neu war. Ich lernte verstehen, was es heißt, ein »Mann von Einfluß« zu sein oder wenigstens als solcher betrachtet zu werden. Ich hielt es für eine Pflicht der Höflichkeit, in Madison, der Hauptstadt des Staates Wisconsin, während der Inauguration des neuen Gouverneurs und der Eröffnung der Legislatur, die eine republikanische Majorität hatte, zugegen zu sein. Kaum war ich dort angekommen, als ich von einer mir überraschend großen Anzahl von Menschen überfallen wurde, die Ämter suchten. Viele von ihnen sagten mir, daß ich von allen Männern derjenige sei, dessen Beistand gewiß den Erfolg ihres Gesuchs sichern würde. Ihnen zufolge hätte ich der republikanischen Partei wertvolle Dienste geleistet; nicht nur das, ich hätte auch für sie gelitten; die republikanische Partei sei in meiner Schuld und würde; mir deshalb nichts abschlagen, um das ich bäte, ich sollte daher ihre Gesuche mit warmen Empfehlungen befürworten, denn sie seien meine guten Freunde und sie würden mir auch zu Diensten sein. Ihr Schicksal liege also gänzlich in meinen Händen usw. usw. Ich wurde dadurch in große Verlegenheit versetzt. Die meisten meiner neuen »warmen Freunde« waren mir fremd, oder doch nur oberflächlich bekannt, und ich konnte mir unmöglich über ihre Fähigkeiten ein Urteil bilden; überdies waren für jede Stellung mehrere Bewerber da. Mit der Zahl der Bittsteller wuchs auch meine Verlegenheit, denn ich war es noch nicht gewohnt, ein »Mann von Einfluß« zu sein. Endlich verfiel ich auf einen Ausweg. Ich forderte jeden, der sich an mich gewandt hatte, auf, zu mir auf mein Zimmer im Hotel zu kommen. Ohne daß einer vom andern wußte, lud ich alle für dieselbe Stunde ein. Zur bestimmten Zeit war mein Zimmer gedrängt voll. Meine Besucher, die ohne Zweifel eine Zusammenkunft unter vier Augen gewünscht und erwartet hatten, waren augenscheinlich überrascht, eine so große Gesellschaft zu finden. Als sie alle versammelt waren, redete ich sie ungefähr folgendermaßen an: »Meine Herren, Sie haben mir die Ehre erwiesen, mich zu bitten, ich möge Sie für ein Amt empfehlen. Ich bin vollständig bereit, das zu tun. Es finden sich aber mehrere Bewerber für jedes Amt. Nun sind Sie alle gewiß sehr ehrenwerte Bürger, die unzweifelhaft verdienen, was sie erstreben. Sie müssen aber zugeben, daß ich mich auf Bevorzugungen unter Ihnen nicht einlassen kann. Das Einzige, was ich daher billiger- und gerechterweise tun kann, ist, Sie alle für die Stellen, die Sie begehren, auf dem Fuße voller Gleichberechtigung zu empfehlen«. Nach einem Augenblick schweigenden Staunens bemerkte der eine ernsthaft, daß solche Art der Fürsprache schwerlich viel helfen würde. Es erfolgte darauf allgemeines Gelächter, und die Versammlung löste sich in scheinbar bester Stimmung auf.

Ich fürchte aber, ich habe mir bei dieser Gelegenheit einige Feinde gemacht. Jedenfalls hoffte ich nie wieder als »Mann von Einfluß« betrachtet zu werden – diese Hoffnung hat sich jedoch als nichtig herausgestellt.

Das Jahr 1858 war eine Periode großer Entwicklungen. Es offenbarte dem amerikanischen Volke die Persönlichkeit von Abraham Lincoln. Das geschah durch Senator Douglas.

Es gibt in der amerikanischen Geschichte kaum ein auffallenderes Beispiel dafür, wie ein politischer Führer das Opfer seiner eigenen Anschläge werden kann. Es war eine Tragödie vom höchsten dramatischen Interesse, wie Douglas vergebens gegen die Schlingen des Schicksals oder vielmehr seiner eigenen Lehren ankämpfte. Von 1851 bis 1854 schien die Sklavereifrage einzuschlafen. Der ewige Widerstreit zwischen Freiheit und Sklaverei glomm allerdings unter der Oberfläche fort, aber während einer jener Ruhepausen des schlummernden Gewissens, wie sie manchmal zwischen Perioden aufgeregten Kampfes vorkommen, war wenigstens die Oberfläche verhältnismäßig still. Viele Leute, welche die Sache sehr ernst nahmen, empfanden eine Art Erleichterung, als sie sich mit der Sklavereifrage· nicht mehr zu beschäftigen brauchten. Da rüttelte Douglas das Volksgewissen aus seiner zeitweiligen Schläfrigkeit auf, indem er in seiner »Nebraska-Bill« vorschlug, alle gesetzlichen Hindernisse wegzuräumen, welche gewisse Territorien vor dem Eindringen der Sklaverei geschützt hatten. Er stützte sich dabei auf den bis dahin nie gehörten Grund, daß solches gesetzliche Sklavereiverbot dem Geiste der Verfassung zuwider sei, und daß nach den wahren Prinzipien der »Volkssouveränität« die Bewohner aller Territorien das Recht haben müßten, die Sklaverei auszuschließen oder zuzulassen, selbst dort, wo sie bis dahin gesetzlich ausgeschlossen war. Es war damals kein ausgesprochenes Bedürfnis für eine so eingreifende Maßregel vorhanden. Das amerikanische Volk hatte ruhig den gesetzlichen Ausschluß der Sklaverei aus gewissen Territorien hingenommen. Sogar der Süden hatte sich, mit Ausnahme einiger plänereicher Sklavereiagitatoren, damit abgefunden. Warum hatte nun Douglas diese aufrührerische Maßregel vorgeschlagen? Tat er es, wie seine Freunde behaupteten, weil er wirklich glaubte, dadurch die Sklavereifrage zur Ruhe zu bringen? Dann hatte er den Charakter und die Gesinnung des amerikanischen Volkes ausnehmend falsch beurteilt, denn nichts war mehr dazu angetan, die glimmenden Funken zu einer neuen, rasenden Flamme anzufachen. Tat er es, weil er glaubte, daß ein so dreister Köder für die Gunst des Südens – wie es die Eröffnung der Territorien für die Zulassung der Sklaverei war – ihm eine freie Bahn zur Präsidentschaft eröffnen würde? Dann hatte er sich entsetzlich verrechnet, denn niemals konnte er die Machtgier der Sklavenhalter befriedigen, ohne gleichzeitig die Gunst des Nordens unrettbar zu verscherzen.

Die »Dred-Scott-Entscheidung« mußte es ihm klar machen, daß die beiden Rosse, die er gleichzeitig zu reiten versuchte, nach genau entgegengesetzten Richtungen strebten. Diese Entscheidung des Oberbundesgerichts erklärte, daß der Kongreß keine verfassungsmäßige Macht habe, die Sklaverei in den Territorien zu verbieten, und daß der Sklavenhalter daher das Recht habe, seine Sklaven in irgendein Territorium mitzubringen und sie· dort zu halten. Die Sklavereipartei zog daraus den Schluß, daß der Sklavenhalter dann auch einen verfassungsmäßigen Anspruch darauf habe, in diesem Recht geschützt zu werden, ganz gleichgültig, ob die Bewohner des Territoriums die Sklaverei liebten oder nicht. Was wurde aber dann aus Douglas berühmter »Volkssouveränität«, welche, wie seine Anhänger im Norden dem Volke einzureden versuchten, die Wirkung haben würde, die Sklaverei aus den Territorien fernzuhalten?

Diese theoretische Diskussion war aber nicht das Einzige, das den »kleinen Riesen« quälte. Die Sklavereivertreter versuchten den Staat Kansas als Sklavereistaat in die Union einzuschmuggeln unter der berüchtigten Lecompton-Verfassung. Diese Verfassung war von der sklavereifreundlichen Minorität in Kansas entworfen und betrügerischerweise nicht einer regelrechten Abstimmung des Volks unterbreitet worden; sie wurde aber von der die Sklaverei begünstigenden Clique, welche die Verwaltung des Präsidenten Buchanan beherrschte, mit Freuden begrüßt und dem Kongreß als rechtmäßige Verfassung von Kansas zur Annahme empfohlen. Dieser Versuch stellte Douglas vor die Alternative, entweder sein Prinzip der »Volkssouveränität« aufzugeben, den Staat Kansas der Sklavenpartei zu überliefern und sich damit im Norden unrettbar zugrunde zu richten, oder gegen den Betrug, durch welchen Kansas ein Sklavenstaat werden sollte, aufzutreten und sich damit ebenso unwiederbringlich die Gunst des Südens zu verwirken, von der er gehofft hatte, daß sie ihn auf den Präsidentenstuhl erheben werde. Es traf sich, daß gerade um diese Zeit seine Amtsperiode im Senat abgelaufen war und er für seine Wiederwahl an das Volk von Illinois appellieren mußte. Dort begegnete er einem Racheengel in Gestalt von Abraham Lincoln.

Lincoln und Douglas waren schon früher in öffentlicher Debatte zusammengetroffen, d. h. die Whigs und später die Republikaner von Illinois hatten in Lincoln den tauglichsten Mann erkannt, der Douglas-Rede und Antwort stehen könnte, und so war er als ihr Wortführer aufgetreten. Schon im vorhergehenden Jahre – 1857 –, als Douglas in einer in Springfield, Illinois gehaltenen Rede, einen Versuch gemacht hatte, sich aus dem Dilemma, in welches ihn die Dred-Scott-Entscheidung verstrickt hatte, herauszuwinden, hatte Lincoln eine Woche später, vor einer im selben Ort abgehaltenen Versammlung mit dem Schwerte seiner Logik Douglas’ verschlagene Sophistik durchbohrt.

Diese Diskussionen hatten jedoch kaum über die Grenzen des Staates Illinois hinaus die verdiente Aufmerksamkeit gefunden. Erst als der republikanische Staatskonvent von Illinois am 16. Juni 1858 begeistert und einstimmig Abraham Lincoln als »ersten und einzigen« Kandidaten der Republikaner von Illinois für den Bundessenat an Stelle von Stephen A. Douglas aufstellte, wandten sich die Blicke des ganzen amerikanischen Volks auf den Kampf zwischen den zwei Männern, ein Ereignis, dessen Bedeutung alle fühlten.

Es war jedoch bekannt, daß Lincoln zu dieser Zeit noch nicht auf die Sympathie und Unterstützung der ganzen republikanischen Partei und nicht einmal auf die Republikaner in seinem eigenen Staate rechnen konnte. Einige, und darunter Männer von Ruf und Einfluß, glaubten, daß ihre Partei mehr durch geschicktes politisches Manövrieren, als durch das offene, unumwundene Eintreten für ihre Prinzipien gewinnen würde. Im Laufe meiner politischen Karriere habe ich nicht selten bedeutende Männer getroffen, die auf ihre politische Verschlagenheit so stolz waren, daß sie die Erfolge am meisten schätzten, die sie durch schlaue Kriegslist errungen hatten, und darum stets die Taktik listiger Kombinationen, verdeckter Seitenangriffe und des Kriegs aus dem Hinterhalt dem offenen Appell an das öffentliche Gewissen und den Volksverstand vorzogen. Ich will gewiß nicht sagen, daß alle Republikaner, welche die Nomination von Lincoln gegen Douglas mißbilligten, zu dieser Klasse gehörten. Viele von ihnen, wie zum Beispiel Horace Greeley, glaubten ohne Zweifel, daß der Sache der Antisklaverei am besten gedient sei, wenn Douglas ohne Opposition wieder in den Senat gewählt würde, da er sich geweigert hatte, einer so extremen, der Sklaverei freundlichen Politik zu folgen, wie Buchanan sie betrieb, und da seine Wiederwahl eine Spaltung in der demokratischen Partei verursachen würde, die sie auseinanderreißen mußte. Es schien aber den Unbefangeneren unter den Abolitionisten, als ob die Republikaner Douglas unmöglich bei seiner Wiederwahl unterstützen könnten, ohne gewissermaßen seine Handlungsweise gutzuheißen, seine Prinzipien zu bekräftigen und die Antisklaverei-Bewegung gefährlich zu demoralisieren. Es wäre eine unheilige Allianz gewesen mit dem Manne, der erst kürzlich als der Erzfeind betrachtet wurde, und die Jungfräulichkeit der republikanischen Partei wäre für immer dadurch entweiht worden. Das war für die Klasse von Männern, der ich instinktiv angehörte, eine abstoßende Vorstellung, und wir begrüßten es daher mit Begeisterung, als Lincoln vor dem Konvent, der ihn nominierte, erklärte: »Unsere Sache muß denen anvertraut und von denen geführt werden, die ihre unbedingten Freunde sind, deren Hände frei, deren Herzen bei der Arbeit sind und die dem Resultat größte Bedeutung beimessen«. Wir jauchzten ihm zu, als er Douglas zu einer Reihe öffentlicher Debatten in verschiedenen Orten von Illinois vor dem versammelten Volk herausforderte. Douglas nahm die Herausforderung an, und es war wirklich das ganze Amerika, das diesen Debatten lauschte. Dieses Schauspiel erinnerte an die alten Sagen, in denen erzählt wird, wie vor zwei in Schlachtordnung aufgestellten Heeren die wackersten Kämpen zwischen den Reihen der stillzuschauenden Krieger im Zweikampf den Streit ausfochten. Ich schätzte es als die höchste Ehre, einem dieser Kämpen, wenn auch in noch so bescheidenem Maße, zur Seite zu stehen, und diese Ehre widerfuhr mir ganz unerwarteter Weise. Das republikanische Staatskomitee von Illinois bat mich, in seiner Kampagne einige Reden zu halten, und diesem Rufe folgend, fand ich mich zum erstenmal auf einem hervorragenden Felde der Tätigkeit. Ich sollte zuerst bei einer Massenversammlung in Chicago erscheinen und Englisch sprechen. Die Sache war mir sehr ernst, und ich nahm mir vor, mein Bestes zu leisten. Ich appellierte nicht an die sentimentalen Sympathien der Zuhörer, indem ich mich über die Ungerechtigkeit und Grausamkeit des Sklavensystems und die Leiden der Geknechteten verbreitete, sondern ich suchte in gemessener Sprache die naturgemäße Unverträglichkeit der Sklaverei mit freien Regierungsformen darzulegen, die unausbleiblichen und weittragenden Kämpfe, welche die Existenz der Sklaverei notgedrungen hervorrufen mußte, und die Notwendigkeit, die politische Macht der Sklaverei in unserer Republik zu zerstören, wenn der demokratische Charakter ihrer Regierungsform Bestand haben sollte. Die Rede war in ihren Grundideen nicht originell, aber meine Art und Weise, die Frage zu behandeln, wurde als neu aufgefaßt, und sie wurde nicht nur von der Chicagoer Presse, sondern auch von mehreren östlichen Blättern veröffentlicht – eine Auszeichnung auf die ich sehr stolz war. Ich sprach noch, in ähnlicher Tonart und meistens in deutscher Sprache, vor mehreren Versammlungen im Innern des Staats. Eine von meinen Verpflichtungen dem Komitee gegenüber rief mich an dem Tage nach Quincy, an welchem dort gerade eine von den großen Debatten zwischen Lincoln und Douglas stattfinden sollte, und bei dieser Gelegenheit war es mir beschieden, Lincoln persönlich kennen zu lernen. Am Vorabend der Debatte war ich in dem Zuge, der nach Quincy fuhr. Der Wagen, worin ich saß, war angefüllt mit Männern, die mit großer Lebhaftigkeit die Fragen diskutierten, welche sie alle bewegten. Ein Mitglied des republikanischen Staatskomitees begleitete mich und saß mir zur Seite.

Plötzlich, nachdem der Zug von einer kleinen Station abgefahren war, bemerkte ich unter meinen Mitreisenden eine große Bewegung. Einige von ihnen sprangen von ihren Sitzen auf und drängten sich eifrig um einen großen Mann, der soeben in den Waggon eingestiegen war. Sie riefen ihm auf die vertraulichste Art zu: »Halloh, Abe! Wie geht es?« Er antwortete auf dieselbe Weise:

»Guten. Abend, Ben! Wie geht es, Joe? Ich freue mich, dich zu sehen, Dick!« Und man lachte über etwas, das er gesagt und das ich in dem Stimmengewirr nicht verstanden hatte. »Ei, wirklich,« rief mein Begleiter, »da ist ja Lincoln selbst!« Er drängte sich durch die Menge und stellte mich Abraham Lincoln vor, den ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Male sah.

Ich muß gestehen, daß ich von seiner Erscheinung etwas überrascht war. Da stand er, alle, die ihn umringten um mehrere Zoll überragend. Obgleich ich selbst etwas über sechs Fuß Messe, mußte ich doch, um ihm ins Gesicht zu sehen, meinen Kopf zurückwerfen. Das dunkle Gesicht mit seinen kräftigen Zügen, seinen tiefen Falten und seinen wohlwollenden, melancholischen Augen ist jetzt jedem Amerikaner durch zahllose Bilder vertraut geworden. Man kann sagen, daß die ganze zivilisierte Welt es kennt und liebt. Zu dieser Zeit war es noch bartlos und sah sogar noch hagerer, eingefallener und gramvoller aus als später, da es vom Bart umrahmt war.

Er trug auf seinem Kopfe einen etwas zerknitterten Zylinderhut. Sein langer, sehniger Hals ragte aus einem Hemdkragen empor, der über eine schmale, schwarze Halsbinde zurückgeklappt war. Seine hagere, ungeschlachte Gestalt war von einem schwarzen, schon etwas schäbigen Frack bekleidet, mit Ärmeln, die länger hätten sein sollen. Seine schwarzen Beinkleider gestatteten den vollen Anblick seiner großen Füße. Auf seinem linken Arm trug er ein graues Plaid, welches augenscheinlich bei frostigem Wetter als Überzieher diente. Seine linke Hand hielt einen baumwollenen Regenschirm mit bauschigen Auswüchsen und auch eine Handtasche welche die Spuren langen Gebrauchs zeigte. Seine Rechte hatte er freigehalten zum Händeschütteln, das nicht aufhörte, bis jeder in dem Waggon befriedigt zu sein schien. Ich war in Washington und im Westen Männern im öffentlichen Leben begegnet, deren Äußeres ungeschliffen war, doch keinem, dessen Erscheinung ganz so ungeschickt, um nicht zu sagen grotesk war, wie Lincolns. Er begrüßte mich wie einen alten Bekannten, mit einer zwanglosen Herzlichkeit, da man ihm mitgeteilt hatte, daß ich an der Kampagne teilnehme, und wir setzten uns nebeneinander. Mit einer Stimme von hoher Tonlage, aber von angenehmer Klangfarbe fing er an, mit mir zu sprechen und erzählte mir viel von den Streitpunkten, die er und Douglas in ihren Debatten bei verschiedenen Versammlungen erörtert hatten, und die er in Quincy am nächsten Tage zu diskutieren gedenke. Als er mich, den Anfänger in der Politik, dann mit vollkommener Unbefangenheit befragte, was ich über dieses und jenes dächte, hätte ich mich durch sein Vertrauen sehr geehrt fühlen können, wenn mir sein Wesen erlaubt hätte, ihn als großen Mann zu betrachten. Aber er sprach in so einfacher, vertraulicher Weise, und sein Auftreten und seine schlichte Ausdrucksweise waren so gänzlich frei von jedem Schein anspruchsvollen Selbstbewußtseins, daß mir bald zumute war, als habe ich ihn mein ganzes Leben gekannt, und als wären wir schon lange gute Freunde gewesen. Er würzte seine Unterhaltung mit allerhand drolligen Geschichten, alle mit einer witzigen Pointe, welche sich auf unseren Gesprächsgegenstand bezog, und nicht selten wurde das Argument dadurch so abgeschlossen, daß nichts mehr zu sagen übrig blieb. Er schien seine eigenen Scherze auf kindliche Weise zu genießen, denn seine gewöhnlich so traurig blickenden Augen blitzten dann mit einem lustigen Aufleuchten, er selbst führte das Gelächter an, und sein Lachen war so echt, herzlich und ansteckend, daß alles darin einstimmen mußte.

Als wir in Quincy ankamen, fanden wir, daß eine große Anzahl seiner Freunde versammelt war, um ihn zu erwarten, und es gab wieder viel Händeschütteln und herzliche Begrüßungen. Dann zwangen sie ihn, sehr gegen seinen Wunsch, einen Wagen zu besteigen, denn er wäre lieber zu Fuß nach dem Hause eines alten Freundes gegangen, wo er sein Abendessen und seine Nachtruhe finden sollte. Die Nacht war allerdings auf den Straßen keineswegs ruhig. Das Blasen von Blechinstrumenten und das Geschrei der enthusiastischen und nicht immer ganz nüchternen Demokraten und Republikaner, die beide ihren Bannerträgern mit Jauchzen und Hurrarufen zujubelten, dauerte bis in die frühen Morgenstunden hinein.

Am nächsten Morgen fingen die Landleute an, zu der großen Versammlung in die Stadt hereinzuströmen, viele einzeln, zu Fuß oder zu Pferde; manche auch in kleinen Gesellschaften von Männern und Frauen, einige sogar mit ihren Kindern in leichten Wagen oder im schweren Farmgefährt, andere wieder marschierten in feierlicher Prozession von auswärts liegenden Städtchen oder Bezirken herein, mit Fahnen und Trommeln; oft zogen ihnen weißgekleidete Jungfrauen voraus, mit dreifarbigen Schärpen geschmückt, diese sollten die Göttin der Freiheit und die verschiedenen Staaten der Union darstellen, und ihre Schönheit wurde von allen pflichtschuldigst bewundert – nicht zum wenigsten vielleicht von ihnen selbst. Im allgemeinen war der demokratische Aufwand viel prächtiger und großartiger als der republikanische und man erzählte sich, daß Douglas für solche Dinge viel Geld zur Verfügung stehe. Er selbst reiste, nach damaligen Begriffen, im »großen Stil«, mit einem Sekretär und Bedienung und einer zahlreichen Gefolgschaft ziemlich lauter Begleiter, in einem Sonderzug mit eigens für die Gelegenheit dekorierten Eisenbahnwagen von Ort zu Ort. Das alles bildete einen starken Gegensatz zu Lincolns äußerst bescheidener Einfachheit. Das Hurrarufen, Geschrei und Drängen auf den Straßen von Quincy nahm an dem Tage kein Ende. Aber trotz der von dem politischen Kampf entfachten Aufregung blieb die Menge sehr gutmütig, und die gelegentlichen Spottreden, die von einer Seite zur andern flogen, erregten durchgehend nur Gelächter. Die große Debatte fand nachmittags auf einem freien Platze statt, wo ein großes hölzernes Podium für die Veranstalter, für die Redner und andere bevorzugte Personen errichtet worden war. Mir wurde auch ein Sitz auf dem Podium angewiesen. Auf dem Platze vor uns hatten sich Tausende von Menschen versammelt; Republikaner und Demokraten standen friedlich nebeneinander, dann und wann gutmütige Neckereien miteinander austauschend.

Als die beiden Führer eintrafen, wurden sie von ihren Anhängern mit lautem Jubelgeschrei begrüßt. Der Vorsitzende, auf den sich beide Parteien geeinigt hatten, rief die Versammlung zur Ordnung und kündigte das Programm für die Verhandlungen an. Lincoln sollte mit einer Rede von einer Stunde die Tagesordnung eröffnen, darauf Senator Douglas mit einer Rede von anderthalb Stunden folgen, und Lincoln wiederum mit einer Ansprache von einer halben Stunde die Verhandlungen schließen. Der erste Teil von Lincolns Eröffnungsrede war der Widerlegung einiger Behauptungen gewidmet, die Douglas bei vorhergehenden Versammlungen aufgestellt hatte. Diese Widerlegung mag zur Richtigstellung der streitigen Punkte erforderlich gewesen sein, doch sie machte mir keinen besonderen Eindruck, weder was den Inhalt noch was die Form betraf. Lincoln besaß keine von den äußeren Vorzügen, welche bei einem Redner für wünschenswert, ja fast für notwendig gehalten werden. Seine Stimme war nicht melodisch, sie war vielmehr hoch und geneigt, in Augenblicken der Erregung in einen scharfen Diskant umzuschlagen, aber sie wirkte dennoch nicht unangenehm. Ihr Klang war außerordentlich durchdringend und weitreichend. Das Verhalten des Publikums überzeugte mich, daß jedes seiner Worte bis an den äußersten Rand der ungeheuren Menschenversammlung verstanden wurde. Seine Gesten waren ungeschickt. Er schwang seine langen Arme zuweilen auf sehr ungraziöse Weise hin und her. Dann und wann, wenn er etwas besonders emphatisch herausheben wollte, bog er seine Knie und seinen Körper mit einem plötzlichen Ruck nach unten, um dann wieder mit einer Heftigkeit in die Höhe zu schnellen, die ihn auf die Fußspitzen hob und viel größer erscheinen ließ, als er wirklich war. Diese Art und Weise, seine Reden zu beleben, war um jene Zeit im Westen nicht ungewöhnlich und ist vielleicht jetzt dort noch gebräuchlich; es gelang ihm aber später, sie ganz zu vermeiden.

Ein Ton ernster Wahrhaftigkeit, erhobener, edler Gesinnung und wohlwollenden Verständnisses trug bei allem was er sagte, unendlich viel zur Kraft seiner Beweisführung bei, und wenn er im Laufe seiner Rede die moralische Seite der Frage berührte, wirkte er gewaltig und eindrucksvoll. Sogar wenn er seinen Gegner mit schneidender Satire und scharfer Rüge angriff, welche bei andern Rednern bitter und grausam geklungen hätte, lag in seiner Ausdrucksweise etwas, das seinen Zuhörern das Gefühl aufdrängte, als kämen diese Schwerthiebe aus einem widerstrebenden Herzen und als wäre es ihm lieber gewesen, hätte er seine Feinde wie Freunde behandeln können.

Als Lincoln sich unter dem enthusiastischen Applaus seiner Anhänger gesetzt hatte, fragte ich mich mit einiger Bestürzung, »Was wird Douglas jetzt sagen?« Lincolns Rede war mir sehr klar, logisch, überredend, sogar überzeugend und sympathisch erschienen, doch nicht überwältigend. Douglas, dachte ich, würde vielleicht nicht fähig sein, sie zu widerlegen, doch, mit der schlauen Sophistik, die ihm zu Gebote stand, werde es ihm vielleicht gelingen, die Wirkung zu entkräften durch einen starken Appell an die Vorurteile seiner Zuhörer. Man konnte sich keinen auffallenderen Gegensatz, vorstellen, als den zwischen diesen beiden Männern, wie sie so nebeneinander auf dem Podium standen. Neben Lincolns großer, hagerer, unschöner Figur stand Douglas fast wie ein Zwerg, sehr klein von Gestalt, aber breit in den Schultern und in der Brust, mit einem massiven Kopf auf einem kräftigen Nacken, wie die Verkörperung der Gewalt, der Streitlust und der Zähigkeit. Ich habe sein Bild gezeichnet, als ich meine ersten Eindrücke der Stadt Washington beschrieb und ich befürchte, es war kein schmeichelhaftes. Auf dieser Bühne in Quincy sah er geschniegelt und wohlgepflegt aus in seinem seinen, gut passenden schwarzen Anzug und seiner blendenden Wäsche. Sein Gesicht war jedoch ein wenig aufgedunsen, und man erzählte sich, daß er ziemlich scharf mit einigen seiner Kumpane getrunken hätte, auf der Reise, oder seit seiner Ankunft. Die tiefe, horizontale Furche zwischen seinen scharfen Augen war außergewöhnlich finster und mürrisch. Während er der Rede Lincolns zuhörte, huschte dann und wann ein verächtliches Lächeln über seine Lippen, und als er sich erhob, der zähe parlamentarische Gladiator, schüttelte er seine Mähne mit einer Gebärde anmaßender Überlegenheit, drohender Herausforderung, als wollte er sagen: »Wie kann einer wagen, sich gegen mich zu erheben?« Als ich ihn so ansah, verabscheute ich ihn gründlich, doch mein Abscheu war nicht frei von sorgenvoller Furcht, was nun kommen werde. Seine Stimme, von Natur ein starker Bariton, hatte einen heiseren, rauhen, zuweilen fast bellenden Klang. Sein Ton war gleich von Anfang an im äußersten Grade gereizt, diktatorisch und unverschämt. In einem seiner ersten Sätze klagte er Lincoln »niedriger Verdächtigungen« an und fuhr dann in derselben Art fort, mit einem zornigen Stirnrunzeln, mit trotzigem Kopfschütteln seine Fäuste zu ballen und mit den Füßen zu stampfen. Keine Sprache schien ihm zu ehrenrührig zu sein, und sogar harmlose Dinge stieß er auf solche Weise hervor, daß sie klangen, als sei eine Beleidigung beabsichtigt. So weckte er gelegentlich statt Applaus von seinen Freunden nur Kundgebungen der Mißbilligung bei der Opposition. Seine Sätze waren jedoch gut gefügt, er brachte seine Pointen mit starkem Nachdruck heraus; seine Beweisführung war scheinbar klar und plausibel, seine Sophismen sehr geschickt eingeflochten, um den Gegenstand, in die gewünschte Wolke von Dunkelheit zu hüllen und so den unbefangenen Sinn zu bestricken. Er appellierte auf gewissenlose, unverantwortliche, doch schlau gezielte Weise an die schlimmsten Vorurteile, und seine schmähende Art des Angriffs wirkte besonders aufreizend auf die beleidigte Partei. Im ganzen waren seine Freunde sehr zufrieden mit seiner Leistung und belohnten ihn mit geräuschvollen Hochrufen.

Dann kam aber Lincolns Schlußrede von einer halben Stunde, welche die ganze Stimmung zu verändern schien. Er beantwortete Douglas’ Argumente und Angriffe mit so raschen, so geschickten und durchdringenden Hieben, mit so humoristischen, so schlagfertigen Entgegnungen und mit so witzigen Bildern und er bewahrte dabei so ganz seine gute Laune, daß sich die Versammlung immer wieder zu Ausbrüchen ihrer Freude hinreißen ließ und sogar die Gegner mitgezogen wurden, während das Grollen auf Douglas’ Gesicht finsterer und finsterer wurde.

Diejenigen, welche jetzt zum historischen Studium den gedruckten Bericht jener Rede lesen, mit ihren zugespitzten Anspielungen auf Personen, die zu jener Zeit vor der Öffentlichkeit standen, werden kaum die Wirkung schätzen, die sie damals hervorbrachte. Das ist jedoch das Schicksal noch weit berühmterer oratorischer Leistungen, denen nie im kalten Druck Gerechtigkeit widerfahren kann.

Damals hatte Abraham Lincoln sich allerdings noch nicht zu der wunderbaren Höhe der Empfindung aufgeschwungen, er hatte noch nicht die großartige Schönheit des Ausdrucks erreicht, welche die ganze Welt einige Jahre später in seiner Gettysburg-Rede und in noch höherem Maße in seiner zweiten Inaugurationsrede zur Bewunderung hinriß. Es, leuchtete jedoch in seinen Debatten mit Douglas, die in ihrer Form wenigstens zum großen Teil aus dem Stegreif gehalten wurden, gelegentlich ein Blitz derselben erhabenen moralischen Eingebung hervor, und alles, was er sagte, kam mit der sympathischen Überredungskraft einer so durch und durch ehrlichen Natur zum Ausdruck, daß dem Zuhörer oft zumute war, als wenn der Redner ihm gerade ins Auge blicke und zu ihm sage: »Mein Freund, was ich dir sage, ist meine ernsthafte Überzeugung, und ich habe keinen Zweifel, daß du im Grunde des Herzens ebenso denkst wie ich.«

Als die Debatte in Quincy vorüber war, die beiden Führer stürmisch von ihren Parteigängern angejubelt wurden, löste sich die Versammlung friedlich auf, mehrere Musikbanden fingen gleichzeitig an zu spielen, so daß die Luft von Mißtönen erfüllt war, und die Landbewohner setzten sich mit ihren Fahnen und ihren weißgekleideten Jungfrauen wieder in Bewegung, um nach Hause zurückzukehren. Jede Partei war, wie gewöhnlich in solchen Fällen, fest überzeugt, daß das Ergebnis des Tages zu ihren Gunsten ausgefallen sei. Ich verabschiedete mich von Lincoln und sollte ihn erst zwanzig Monate später bei einer noch denkwürdigeren Gelegenheit wiedersehen. Das Resultat der Wahlen in Illinois war für Lincolns Kandidatur zum Senator ungünstig. Douglas erhielt allerdings keine Majorität der Volksabstimmung, doch gewann er infolge der Verteilung der legislativen Bezirke eine Majorität in der neuen Legislatur. Seine Rückkehr in den Senat war somit gesichert. Lincoln blieb jedoch in einem andern Sinne der wirkliche Sieger. Sein scharfer politischer Blick und seine mutige Führerschaft hatten der Antisklavereipartei einen Vorschub geleistet, der ihren Triumph in der Präsidentschaftswahl beinahe sicherstellte. In der berühmten Freeport-Debatte – bei einer Gelegenheit, die so allgemeine Aufmerksamkeit erregte, daß jedes Wort vom ganzen Volk gehört werden mußte – hatte er Douglas eine autoritative Erklärung abgezwungen, welche einen Riß in seiner Partei unvermeidlich machte. Diese Erklärung besagte, daß, wenn auch das Oberbundesgericht in der Dred-Scott-Entscheidung dem Sklavenhalter das verfassungsmäßige Recht zuerkannt hätte, Sklaven in einem Territorium der Vereinigten Staaten zu halten, die Bevölkerung des Territoriums doch die gesetzliche Macht besäße, dieses Recht zu annullieren, indem es der Sklaverei den nötigen Polizeischutz versagte. Mit andern Worten: die Territorien könnten in Wirklichkeit die Sklaverei durch »unfreundliche Gesetzgebung« ausschließen. Das war nun allerdings ein Taschenspielerkunststück, das die Sklavereifanatiker, welche das streitsüchtige Element der demokratischen Partei im Süden bildeten, nicht nur niemals annehmen, sondern auch niemals verzeihen würden. Mit unerbittlicher Logik zogen sie die Schlußfolgerung, daß, wenn die Verfassung das Recht gäbe, Sklaven als Eigentum in den Territorien der Vereinigten Staaten zu halten, die territorialen Legislaturen verpflichtet seien, sich nicht nur aller Beschlüße zu enthalten, welche die praktische Ausübung dieses Rechts unwirksam machen könnten, sondern auch die nötigen Gesetze zu schaffen, die den Sklavenhalter in der vollen Ausübung dieses Rechts schützten. Wer sich weigern würde, diese Lehre zu unterschreiben, sei in ihren Augen ein Feind des Südens, und solchen Mann zum Präsidenten zu machen, daran sei nicht zu denken. So war Douglas’ Schicksal als Präsidentschaftskandidat besiegelt. Da er diese Doktrin nicht annehmen konnte, ohne sich gänzlich im Norden zugrunde zu richten, und daher gezwungen war, sich energisch ihr zu widersetzen, so war damit auch das Schicksal der demokratischen Partei besiegelt.

Lincoln hatte dieses deutlich vorausgesehen, und als am Abend vor der Freeport-Versammlung die republikanischen Parteileiter versucht hatten, ihm auszureden, Douglas zu dieser entscheidenden Erklärung zu zwingen, weil Douglas durch eine plausible Antwort die Wahl in Illinois und damit die Senatswürde erringen könne, antwortete Lincoln, er habe edleres Wild auf dem Korn als die Senatorstelle; denn Douglas werde, wenn er jene Antwort gebe, niemals Präsident werden können, und die Schlacht von 1860 wiege mehr als hundert dieser kleinen Kämpfe auf. Die Sicherheit seines Blickes und die beherzte Festigkeit seiner Haltung in dieser Krisis bewiesen, daß Lincoln nicht der Mann war, der sich von den Meinungen anderer leiten ließ, daß er kein bloßer Anwalt und Aufwiegler war, sondern ein wirklicher Führer – ein Führer im wahrsten Sinne des Wortes. Hierüber werde ich später noch mehr zu sagen haben.

Mir hatte der demokratische Charakter des Schauspiels, dessen Zeuge ich in Illinois gewesen war, einen tiefen Eindruck gemacht. Im ganzen hatte es meinen Glauben an die Kraft demokratischer Grundsätze bestärkt, wenn mir auch einige der Gefahren, die mit ihrer praktischen Ausübung zusammenhängen, fühlbarer geworden waren. Hier waren zwei Männer, von denen weder der eine noch der andere die Vorzüge einer höheren Erziehung oder Ausbildung genossen hatte. Lincoln entstammte so armseligen häuslichen Verhältnissen, daß eine wahrheitsgetreue Beschreibung unseren Glauben schwer auf die Probe stellt, Verhältnissen, die gewöhnlich den Geist abstumpfen und die Entwicklung alles feineren moralischen Gefühls hindern. Keiner von diesen beiden Männern hatte eine regelmäßige Schulbildung genossen, die auf irgendwelche Weise dazu geeignet war, ihn für die Laufbahn eines Staatsmannes vorzubereiten. Keiner von beiden war im geringsten Maße vom Schicksal begünstigt worden. Keinem von beiden standen während er sich aus niedrigem Stande emporarbeitete, irgendwelche andere Hilfsmittel zu Gebote, als seine angeborenen Fähigkeiten und sein Verstand. Hier sah man sie nun, in so hoher Stellung vor dem ganzen Volke, daß ihr Ehrgeiz, ohne sich selbst zu überschätzen, sich die höchsten Ehren der Republik zum Ziele stecken durfte. Douglas war von Stufe zu Stufe durch schnelles und regelmäßiges politisches Vorrücken zur Stellung eines Bundessenators gelangt und hatte durch seinen Verkehr mit der großen Welt wenigstens den äußeren Schliff, wenn auch nicht die echte Vornehmheit der »guten Gesellschaft« angenommen. Sein Emporkommen war vielleicht nicht immer durch ganz lautere Mittel, aber doch hauptsächlich durch die Kraft seines Verstandes und seiner Energie bewerkstelligt worden. Lincoln war in seiner äußeren Laufbahn nicht ganz so erfolgreich gewesen, aber er hatte durch die Macht seines Geistes und die Vorzüge seines Charakters einen außergewöhnlichen Einfluß über die Gemüter einer großen Anzahl von Menschen gewonnen. Die äußerliche ländliche Einfachheit seiner früheren Jugend war bei alledem an ihm haften und in gewissem Sinne ein Teil seines Wesens geblieben.

Jeder von diesen Männern war ein echtes Kind des Volkes, jeder hatte sich seine ungewöhnlich hohe Stellung errungen, weil er sie auf seine Art, durch seine eigene Anstrengung verdiente. Und nun kämpften die beiden um die Herrschaft, indem sie die Intelligenz und den Patriotismus des Volkes anriefen. Der eine vielleicht hauptsächlich mit den Künsten des Demagogen, wodurch er versuchte, den Verstand des Volkes zu umnebeln, da er ihn nicht zu seinem Vorteil ehrlich aufklären konnte; der andere hingegen durch offenes Aussprechen der Wahrheit und ernsthafte Gewissensfragen, aber beide, indem sie sich an den Volksgeist wandten, dessen Urteil, gesetzlich ausgedrückt, von beiden als die einzig rechtmäßige Quelle der Macht anerkannt wurde.

Was mich in meiner bewundernden, ehrerbietigen Betrachtung dieses Schauspiels etwas beunruhigte, war nicht so sehr der Gedanke, daß in diesen Bestrebungen, die öffentliche Meinung zu gestalten, die Künste des Demagogen und der Appell an die Vorurteile und die Selbstsucht sich unter Umständen als wirksamer erweisen konnten als die Stimme der Wahrheit und der Appell an das Gewissen, es war vielmehr die Beobachtung, daß bei vielen Menschen der bloße Parteigeist, der Einfluß parteilicher Kameradschaft, die Furcht vor der Kritik der Parteianhänger und vor der Parteityrannei jeden andern Einfluß und jede andere Rücksicht bei ihrem politischen Verhalten überwog. Ich schloß dies daraus, daß verschiedene Personen mir offenherzig anvertrauten, daß sie allerdings nicht leugnen könnten, daß Lincoln und viele seiner Parteigenossen in manchen Dingen recht haben möchten, daß sie aber der demokratischen Partei angehörten und sich verpflichtet fühlten, ihr zu folgen. Wenn sie gegen ihre Partei stimmten, würden sie sich der Gefahr aussetzen, mit ihren Nachbarn in Streitigkeiten zu geraten, die ihnen gesellschaftlich oder geschäftlich schaden könnten. Ich hörte dasselbe so oft, daß es mich als ein Zeichen größter Gefahr für unser politisches Leben beängstigte. Daß ein gewissenhafter Bürger willens sei, der Parteizugehörigkeit eine abweichende Meinung in unbedeutenden Dingen zu opfern, konnte ich verstehen. Daß aber bei einer so wesentlichen Frage, bei der es sich um Sklaverei oder Emanzipation handelte, einer Frage, die so bedeutungsvoll die Zukunft der Republik berührte, ein freier Mann sein Ohr der Stimme der Vernunft verschließen und die besten Regungen seiner moralischen Natur unterdrücken könne, begriff ich nicht. Es schien mir ungeheuerlich, schrecklich, ja, beinahe verbrecherisch, daß der Gehorsam gegen die Parteiparole oder die Furcht vor dem Unwillen der Partei das Gefühl für die feierliche Pflicht ersticken könnte, die jedem freien Mann oblag, die Pflicht, durch seine Stimme zur Entscheidung des gemeinsamen Geschicks beizutragen. Ich widmete daher einen Teil fast jeder meiner Reden einer kräftigen Verurteilung dieser Parteisklaverei und einer ernsten Ermahnung an meine Zuhörer, daß sie sich ihre eigene politische Meinung bilden und dann mit mutiger Selbständigkeit nach dieser gewissenhaft gebildeten, ehrlichen Überzeugung handeln sollten.

Was ich damals zuerst ausdrückte, ist mir in meinem politischen Verhalten, während meines langen Lebens stets eine Richtschnur geblieben. Spätere Erfahrungen haben sogar die Überzeugung in mir bestärkt, daß der Despotismus der Parteiorganisation eine der größten und tückischsten Gefahren ist, welche die Lebensfähigkeit freier Institutionen bedrohen. Hierüber werde ich in Verbindung mit späteren Ereignissen mehr zu sagen haben.

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