Köpfe: Otto v. Bismarck

Seit neun Monaten war es gewiß, wars bei jeder Frage nach dem geliebten Fürsten im bangen Blick des Arztes zu lesen, dessen sorgendes Auge an einem dunklen Oktobermorgen die erste Spur des neuen Leidens erkannt und nicht eine Sekunde sich scheu der schrecklichen Gewißheit verschlossen hatte, die Tage Otto Bismarcks seien gezählt. Im Fuß der Rieseneiche, deren unverwelklich grüne Greisenkrone kein Sturm zu brechen vermochte, nagte und bohrte geschäftig der leise Wurm; und die Liebe mußte der lange genährten Hoffnung entsagen, den Ragenden werde eines Tages ein Streich aus der Fülle der Lebenskraft reißen, ein dem Blitz jäh folgender Donnerschlag mit gewaltigem Wurf entwurzelt zu Boden schmettern. So hatten wirs uns erhofft, hatten wirs ihm gewünscht; und der Gedanke an ein langsames Absterben, ein leidvolles Verwittern so starker Herrlichkeit war fast furchtbarer noch als die Gewißheit des nahen Scheidens. Auch in diesen Gedanken mußten wir uns nun schicken. Wochen konnten, Monate vielleicht vergehen, bis die stille Tücke des unüberwindlichen Nagers an der Reckengestalt ihr Zerstörungswerk vollbracht, den letzten Lebenssaft ihr vergiftet hatte. Noch stand der Stamm aufrecht in alter Pracht, der so oft Gewittern getrotzt, in Stürmen so oft, im Innersten unbewegt, sacht nur die hohen Wipfel geschüttelt hatte, und staunend sah der Betrachter das stolze, junge Prometheuslächeln, das kein Blitz und kein Donner je verscheuchen konnte. Nur Wenige wußten, daß es zu Ende ging, und des treuen Arztes Freundessorge war bemüht, dem Leidenden und den ihm Nächsten so lange wie möglich das Schreckbild der Wahrheit zu verhüllen und ein Sterben bei offenen Türen zu hindern, – das Sterben vor den Augen einer lauernden, nach Sensationen langenden Menge, die jede Phase des Todeskampfes neugierig verfolgt, jedes Sinken der Kraft emsig notirt hätte. Mancher helle Tag brach noch an und erfüllte die Wissenden selbst wieder mit neuer Hoffnung. Wer den großartigen Ausbrüchen der politischen Leidenschaft des in den Rollstuhl Gebannten lauschte, wer auch von fern nur vernahm, mit welchem Eifer der Leidende den Tagesvorgängen folgte, wie glänzend abends namentlich noch seine Rede war, wie unangetastet die prachtvolle Plastik seiner Darstellung, wie die Sicherheit des Diplomatenblickes und die unbeirrbare Erkenntnis des in jeder Stunde Notwendigen ihm geblieben war, Der konnte, konnte nicht glauben, so schnell schon werde für immer die schwarze Nacht hereinbrechen. Wenn dieses Auge im alten Feuer aufflammte, diese feine, in der Gedankenfülle stockende Stimme von den Entwickelungmöglichkeiten der deutschen Geschichte, von den bis zum Unheilsjahr 1890 ungeahnten Erfolgen der russischen Politik und von den weiter vielleicht, als die Kurzsichtigkeit sichs jetzt träumt, reichenden Wirkungen des häßlichen lippischen Handels sprach, das Kleinste in historische Zusammenhänge einreihte und die winzigste Alltagserscheinung mit dem schlanken Finger in die richtige Perspektive rückte, dann wich die Vorstellung, hier rede ein nahem Tode Geweihter. Man glaubt so leicht, was man gern glauben möchte. Und wer sollte sich vermessen, zu sagen, wann diese über der Menschheit Grenzen hinausgereckte Natur völlig erschöpft, ihre letzte Kraftquelle versickert sein würde? Der Gott, der im märkischen Sande den Genius weckte, konnte auch an dem Greis noch ein Wunder wirken. Doch immer wieder brachte ein leise nur andeutendes Wort des Arztes die aufglimmende Hoffnung zum Verlöschen. Die letzte Leidenswoche kam, die Verfallszeichen mehrten sich und die bebend der Qual Zuschauenden fürchteten, hofften, die nächste Stunde müsse Erlösung bringen. Wie das erwartete Wunder wurde es begrüßt, als der schon verloren Geglaubte am Abend des achtundzwanzigsten Julitages plötzlich auf dem gewohnten Platz am Familientisch saß, mit dem Behagen des Gesundenden zum ersten Mal wieder seinen Lieblingchampagner, den mit der weißen Kapsel, trank, leichte Speisen aß, fünf Pfeifen rauchte und, nachdem er Stunden lang in alter Anmut geplaudert hatte, auf Schweningers Mahnung, nun wieder ins Bett zu gehen, die heitere Antwort fand: »Schon? Das ist aber grausam!« In den Mienen seiner Kinder las er das Glück froher Hoffnung, die sich ihm selbst um so sicherer mitteilen mußte, als der Arzt, der ihn in keiner kritischen Stunde je verließ, jetzt, um den durch seine kluge Kunst erreichten psychischen Eindruck zu vertiefen, für anderthalb Tage von Friedrichsruh schied. Der Erfolg dieses Abends war der letzte Lohn eines fast zwei Jahrzehnte währenden, zu jedem Opfer bereiten Mühens, das kein Dank, keine amtliche Ehrung bezahlen kann, das nur hingebende Liebe zu leisten vermag… Ich sah Schweninger, wie er am dreißigsten Juli nachmittags totenblaß dem Eisenbahnwagen entstieg, die Depeschen in der Hand, die ihn an das Lager seines Fürsten riefen. Er war neun Tage und Nächte nicht aus den Kleidern gekommen und hatte in der Erschöpfung den Frühzug versäumt. Ohne des strömenden Regens zu achten, jagten wir auf den Bahnhof, – umsonst: auch mit einem Extrazug war das Ziel seines Sehnens nicht um eine Sekunde früher zu erreichen. Wir saßen im leeren Wartesaal und sprachen von ihm. Vielleicht hatte die nervöse Sorge der Angehörigen die Gefahr übertrieben, vielleicht war es wieder nur ein Anfall der Krankenbettschwäche, war Rettung noch einmal möglich. Im Auge des Anderen las der Sprecher, daß er kein Wort davon glaubte. Die Minuten schlichen dahin, als wolle der müde Chronos gerade jetzt, gerade hier säumig werden. Endlich war es so weit. Ein Händedruck, – und Beide wußten: es ist aus … Und dennoch, trotz aller Vorbereitung in Wochen und Monaten: als nachts dann die Trauerkunde kam, der Weckruf schrill durch das Sturmgebraus klang, da war es wie ein unerwartet aus heiterer Höhe niederfahrender Streich, da schien es undenkbar und war doch wehe Gewißheit: der Großes groß empfindenden Menschheit war der Fürst für immer geraubt.

»Trost gibt es nicht,« hatte Schweninger geschrieben. Aber die letzten Nachtstunden mußten überstanden werden. So griff ich nach dem größten Beruhiger und schrieb auf das Kalenderblatt des entwichenen Tages aus Goethes Epilog zu Schillers Glocke die Strophe:

Da hör’ ich schreckhaft mitternächtiges Läuten,
Das dumpf und schwer die Trauertöne schwellt.
Ist’s möglich? Soll es unsern Freund bedeuten,
An den sich jeder Wunsch geklammert hält?
Den Liebenswürdigen soll der Tod erbeuten?
Ach! Wie verwirrt solch ein Verlust die Welt!
Ach! Was zerstört ein solcher Riß den Seinen!
Nun weint die Welt. Und sollten wir nicht weinen?
Und, in Erinnerung an den Freund, dessen Arm den Leidenden so lange gehalten hatte, in dessen Arm er nun verschieden war:
Ihr kanntet ihn, wie er mit Riesenschritte
Den Kreis des Wollens, des Vollbringens maß,
Durch Zeit und Land, der Völker Sinn und Sitte,
Das dunkle Buch mit heiterm Blicke las;
Doch wie er, atemlos, in unsrer Mitte
In Leiden bangte, kümmerlich genas,
Das haben wir in traurig schönen Jahren,
Denn er war unser, leidend miterfahren.

Und endlich die letzte, tröstende Strophe:

So bleibt er uns, der vor so manchen Jahren –
Schon zehn sind’s fast! – von uns sich weggekehrt!
Wir haben Alle segenreich erfahren,
Die Welt verdank’ ihm, was er sie gelehrt;
Schon längst verbreitet sich’s in ganze Scharen,
Das Eigenste, was ihm allein gehört.
Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend,
Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend.

Der Arzt, der nur die letzten Minuten des Geliebten noch erleichtern konnte, war im ersten Schmerz ungerecht: es gibt einen Trost. Der Fürst – es gab für uns stets nur den einen – hat viel gelitten, aber er hat einen guten Tod gehabt, den Tod, den er selbst sich wünschte. Wenn das Licht dieser Seele, wie über einem nicht mehr getränktem Docht ein müdes Flämmchen, sacht erloschen wäre, dieses gewaltsame Herz von Woche zu Woche kraftloser gepocht und dem entsetzten Blick sich das Bild eines geistig verfallenden Bismarck geboten hätte!.. Das hatten die Freunde gefürchtet; und dieses Furchtbarste blieb ihnen, blieb ihm durch die Gnade des Schicksals erspart. Er hatte seit Jahren davon gesprochen. Ihm lag nichts mehr am Leben, er fühlte sich in der erzwungenen Untätigkeit überflüssig, einen Gefangenen, wehrte jeden Widerspruch ab und pflegte schon vor Jahren zu sagen, nur die Rücksicht auf seine Frau, der er nicht wegsterben möchte, fessele ihn noch an das Dasein, das ihm keine freundliche Gewohnheit mehr war. Als im Herbst 1894 auch die äußerlich stille, im Innersten aber leidenschaftliche, nur mit ihm und für ihn empfindende Hausfrau von seiner Seite gerissen war, kamen die trüben Stimmungen, die Sehnsuchtseufzer nach dem Tode noch öfter; er murrte, leise manchmal und manchmal auch laut, gegen die ärztliche Mahnung, die ihn erhalten wollte, und meinte, er habe »hier unten ja nichts mehr zu suchen und zu finden«. »Ich bin alt und verbraucht: Das ist meine Krankheit; und dagegen gibts nur ein Mittel, das ich mir täglich wünsche.« Jedes Versagen der Gedächtniskraft, das selbst an dem Jüngsten nicht auffällig gewesen wäre, stimmte ihn zu solchen Sentenzen; und immer kehrte die Angst wieder, elendiglich zum »Jammermann« zu vergreisen. Wenn beim Aufstehen aus dem Lehnstuhl einmal die Beine »nicht wollten« oder die quälenden Gesichtsschmerzen ihn zwangen, eine seidene oder wollene Mütze über den mächtigen Schädel zu ziehen, bis über die weißen, buschigen Brauen, hart an die mädchenhaft zarte Haut der feinen, wachsbleichen Ohren, dann sagte er lächelnd: »Ja, – auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen weiß«. Und die Hörer konnten noch so lebhaft protestiren, konnten, aus ehrlicher Überzeugung, versichern, in seinem Wesen sei keine Greisenspur sichtbar: es half nicht. Er litt am Leben, litt unsäglich unter dem Bewußtsein, daß seinem rastlos arbeitenden Geist die Körperkräfte entglitten, seinem stürmischen Temperament die Ausdrucksmittel zu welken begannen. Wie hätte er, der sich so genau beobachtete und kontrolirte, erst gelitten, wenn er geistig hilflos geworden und verdammt gewesen wäre, das Absterben der Sinne immer deutlicher zu spüren! Ist es nicht ein Trost, daß er bis in die letzten Lebensstunden gut sah und hörte, die ganze Macht seiner unvergleichlichen Intuition sich bewahrte und in ungetrübter Klarheit des Geistes den oft gerufenen Erlöser heranschleichen fühlte? … Und ein zweiter Trost ists, daß er scheidend nur die Treusten um sich sah, nur gute Gesichter, nur echte Tränen. Keine Heuchlerzähre, kein Klageruf eines schlechten Gewissens, keine Komoediantengrimasse hat, so lange er atmete, das Sterbezimmer des Mannes entweiht, dem nichts so widrig war wie die Tünche der Heuchelei, der aus seinem Hörbereich nichts so entschieden verbannte wie das leere Pathos lärmender Prologe und Nekrologe. Der Lebende konnte sich solchen »Huldigungen« nicht immer entziehen; dem Sterbenden wurden sie fern gehalten. Und Die gerade, die am Besten um ihn trauerten, atmeten erleichtert auf, da, ohne Feiertagskomoedie, der Sarg geschlossen und verlötet war. Nun mochte das Unvermeidliche Ereignis werden, mochten Alle, die ihn gekränkt, geschmäht und im Lebensnerv verwundet hatten, ihre Trauerchoräle und Patriotenhymnen anstimmen: er sah sie, sie sahen ihn nicht mehr. Einfach lag der stets Einfache in den letzten Kissen; und einfach wird die Feier sein, wenn der Leib in den geliebten Boden des Sachsenwaldes versenkt wird.

Es war im Jahr 1894, nach dem Januartag, der Bismarck im berliner Schloß gesehen und, wie Gläubige lange behaupteten, den Abschluß einer »Versöhnung« gebracht hatte. Der Fürst durfte damals selbst bei kühlem Wetter noch im Freien Gespräche führen und lud Gäste, deren Art ihm nicht unbehaglich war, gern in den Wagen, in dem Patzke, der sichere, in Wald und Feld heimische Kutscher, ihn vor der Hauptmahlzeit täglich ein paar Stunden herumfuhr. Allerlei Geschichtenträgereien, allerlei Versuche, die Beziehungen des wieder Begnadeten zu Hof und Regirung zu entstellen, hatten ihn erst geärgert und später zu ironischer Heiterkeit gestimmt. Auf dem Heimweg wurde er still und ließ dicht vor dem Herrenhaus halten. Er wies mit der Krücke des Stockes auf einen Hügel gegenüber dem Hause, das man töricht ein Schloß genannt hat, und sagte: »Da, denke ich, werde ich mich einmal mit meiner Frau begraben lassen. Ich hatte auch an Schönhausen gedacht; aber hier ists wohl paßlicher, denn in Schönhausen bin ich doch eigentlich schon lange ein Fremder«. Der Gast hatte zu schweigen. Abends, als die altfränkische Öllampe freundlich brannte und die kränkelnde Fürstin auf ihrem Sofa, neben Lenbachs Meisterbild des alten Kaisers, eingenickt war, schlug der Sinnende wieder das Thema an, verarbeitete es nach seiner Weise und schien sich in humoristischer Ausmalung des feierlichen Lärmes, der nach seinem Tode losbrechen würde, nicht genug tun zu können. Frau Johanna schrak auf und rief ganz ärgerlich: »Aber, Ottochen, wie kannst Du nur so traurige Sachen reden!« »Liebes Kind«, war die Antwort, »gestorben muß einmal sein, trotz Schweninger, und ich will wenigstens rechtzeitig dafür sorgen, daß mit meinem Leichnam kein Unfug getrieben wird. Ich möchte nicht, wie die Berliner sagen, eine schöne Leiche sein; und eine von der bekannten Aufrichtigkeit, die heimlich ›Uff!‹ macht, inszenirte Trauerkomoedie, so zwischen Vogelwiese und Prozession, wäre so ziemlich das Einzige, was mich noch schrecken könnte.« Die Freunde des Hauses wissen, wie oft der Große dann später noch diesen Gedanken ausgesprochen und mit der ihm allein eigenen graziösen Laune beleuchtet hat.

Er war noch aufrecht, als ich zum ersten Mal seines Lebens Linie nachzuzeichnen versuchte. Hier ist, was ich damals schrieb.

Vier Wochen nach Napoleons Rückkehr von Elba wird in Schönhausen an der Elbe dem Rittmeister a. D. Ferdinand von Bismarck von seiner klugen und schönen Frau, der schlicht bürgerlich geborenen Wilhelmine Luise Mencken, ein gesunder Knabe geschenkt. Der kleine Otto lernt, was ein Junkerlein damals eben zu lernen pflegte; und da eine frühe Neigung ihn bald zur Geographie treibt, entsteht auch frühzeitig das erste Erstaunen in dem Kindergehirn; neununddreißig verschiedene Landesgrenzen zeigt ihm die Karte von Deutschland, die er mit hitzigem Knabeneifer immer wieder studirt. Die bunten Farben verwischen sich, als der Siebenzehnjährige vom berliner Grauen Kloster nach Göttingen kommt, aus der Beschränktheit des Pennälertumes in die schrankenlose Freiheit der Universitas literarum, vom engen Gymnasialzwang altberlinischen Stils in die helle und luftige Welt blanker Schläger und bunter Mützen. Junker Otto wird ein fideler Bursche, raucht, rauft, zecht und randalirt und vergißt darüber doch das Arbeiten nicht völlig; die Historie lockt ihn jetzt, deren Wunderland ihm der alte Heeren erschließt, und bei Hugo und später in Berlin bei Savigny lernt er, wie das Recht in die Welt kam und wie es im Wechsel der Zeiten sich wandeln mußte. Weil er niemals nur ein Corpsbursche war, kann er nachher auch nicht, als er in den Verwaltungdienst tritt, ins seichte Philistertum versinken. Er arbeitet in Berlin, Aachen, Potsdam, aber er fühlt in der dumpfen Luft der Schreibstube sich nicht lange heimisch, er merkt rasch, daß zum Bureaukraten, der die Persönlichkeit abtun und, selbst eine Nummer, schematisch die Aktennummern erledigen muß, nicht das Zeug in ihm steckt, und kehrt zu den väterlichen Gefilden zurück. Die Epoche beginnt, die er mit leisem Spott einst die Zeit seiner agrarischen Unwissenheit genannt und die doch vielleicht seiner im goethischen Sinne natürlichen Weltanschauung die feste Grundmauer errichtet hat; in der pommerschen Monotonie fand der tolle Junker vom Kniephof das innige Verhältnis zu einer weislich waltenden Vorsehung und das sichere Gefühl für die Bedürfnisse des in den einfachsten Lebensbedingungen sich regenden Menschen. Ein guter Wirt, ein getreuer Haushalter und bei aller wilden Vergnüglichkeit doch eine ernste und Ernstes inbrünstig suchende Natur: so steht er, namentlich in den Briefen an die Schwester Malwine, vor unserem Blick. Diese Natur blieb still und stumm, so lange sie im selbstgeschaffenen Pflichtenkreis frei sich ausleben durfte; sie mußte in dem Augenblick vulkanisch losbrechen, wo eine fremde und feindliche Weltanschauung sich in ihr Gesichtsfeld drängte. Ohne das Erstarken des liberalen Ideals wäre Bismarck vielleicht nur einer von vielen Vertretern des alten und befestigten Grundbesitzes im preußischen Herrenhause geworden, obwohl er, wie Sybel (leider erst spät) erkannt hat, der geborene Staatsmann und Politiker ist; er bedurfte immer der Reibung, des Anstoßes von außen, um sich »tanti« zu fühlen, um ganz er selbst sein zu können, mit den flackernden Funken einer genialischen Persönlichkeit. Erst der revolutionäre Sturm stöberte den Landjunker aus seiner Verschollenheit auf, erst das instinktive Gefühl, dem organischen Wachsen und Werden des geliebten Preußenlandes könnten ernste Gefahren drohen, trieb ihn in die Öffentlichkeit. Er hätte sich ohne großen Gegenstand gewiß niemals geregt; jetzt schien der große Gegenstand ihm gegeben und die Aufgabe gestellt: Preußen vor weither geholten und in der Mark nicht erprobten Erziehungrezepten zu schützen, – und nun gab es für ihn kein Halten mehr. Der unruhig nach Stützen umhertastende Schwarmgeist Friedrich Wilhelms des Vierten wittert in dem Manne, der von den Gerlach, Manteuffel, Brandenburg, Radowitz und Genossen so grundverschieden geartet ist, den möglichen Retter; er sieht, wie Bismarck später gern sagte, in ihm ein Ei, aus dem die Hitze des königlichen Willens einen Minister ausbrüten könnte. Aber die Zeit ist noch nicht erfüllt. Der ganz und gar nicht ehrgeizige Märker entkommt ungefährdet nach Frankfurt, nach Petersburg und Paris; er übt, wie der junge General Bonaparte, ohne die Absicht merken zu lassen, auf die Entschließungen der Vorgesetzten den entscheidenden Einfluß, aber er bleibt hinter den Coulissen und tritt erst ins grelle Rampenlicht, als in Preußen das Militärdrama zum gefährlichen Abschluß neigt und die Furcht wach werden läßt, der Machtkonflikt könne die Monarchie an ihrer Wurzel bedrohen. Hier setzt der wild aufgewachsene Autodidakt ein, – mit dem ganz bestimmten Programm: unbeirrt von anderer Rücksicht den besonderen Zweck des preußischen Staates zu fördern und erbarmungslos jeden Trieb auszujäten, der diesem besonderen Zweck schädlich werden könnte, und von dem ganz bestimmten Empfinden geleitet, daß die politische Kunst im Wesentlichen nur richtig angewandte Kenntnis der Geschichte ist und daß den großen Politiker die Fähigkeit macht, in jedem Augenblick die Grenzen des Erreichbaren deutlich zu erkennen. Er gewinnt das waghalsige Spiel. Und da er die Grenzen des Erreichbaren weiter gerückt sieht, kehrt ihm auch das erste Staunen des über die Landkarte gebeugten Knaben zurück, der Kindertraum von der deutschen Einheit dämmert wieder auf, – und der stockpreußische Junker aus dem Vereinigten Landtag wird zum Exponenten der liberalen Jugendbegeisterung. Der Schüler Heerens schafft als Praktiker eine neue Geographie von Europa, der Hörer Savignys bereitet einer neuen Rechtsgeschichte den Boden. Den Starken, der so lange gegen den Strom schwamm, faßt und trägt nun die Woge, den erst Verlachten und dann Verlästerten umheult ein vielhunderttausendstimmiger Jubel. So ist es geblieben bis auf diesen Tag, trotz Ungnade, Ächtung und »Versöhnung«, avant et après la bouteille. Wenn man zurückblickt auf das im letzten Lustrum Erlebte, auf die fast ununterbrochene Reihe beinahe schon allzu geräuschvoller Huldigungen, dann muß man, um in der deutschen Geschichte dafür ein Beispiel zu finden, des Meisters Martin gedenken, von dem Wilhelm Scherer sagen durfte: »So lange Luther lebte, war er der Mittelpunkt Deutschlands; nach Wittenberg strömten die Schüler von allen Gegenden her, in denen man Deutsch sprach, und erfüllten die Welt mit dem reformatorischen Geiste«. Aber Luthers Werk war noch nicht vollendet, er war noch ein Kämpfender; und dem Kämpfer für neue Wahrheit drängt immer die Jugend zu. Die nationale Politik Bismarcks ist zum Abschluß gelangt; seit einem Vierteljahrhundert hat er sein saturirtes Volk stets zur Ruhe gemahnt; seit fünf Jahren war auf fast allen Gebieten sein Leitwort: Quieta non movere; er selbst ist, nach Goethes weisem Greisenrat, in einem gewissen Lebensalter mit Bewußtsein auf einer bestimmten Anschauungstufe stehen geblieben und hält neue Wünsche und Forderungen sich vorsichtig vom Leibe; reformatorische Verkündungen werden die Wallfahrer in Friedrichsruh von ihm nicht vernehmen und den Mann, der den grauen Mantel, den blinkenden Küraß und den goldenen Pallasch des Kaisers trägt, kann auch die Böswilligkeit nicht mehr für einen grimmen Frondeur halten. Und dennoch hat er nicht nur, wie Luther, die Sprudeljugend: er hat sie Alle. Junge und Alte, Männer und Frauen, Freunde und Feinde; Keiner kommt an dem achtzigjährigen, machtlosen Manne vorbei, ohne in Liebe oder in Haß ihm den Tribut zu bezahlen. Wodurch hat er dieses größte unter allen von ihm gewirkten Wundern erreicht? Wie kommt es, daß eine von neuen Gedanken und neuem Sehnen erfüllte Welt für eine Weile still zu stehen scheint, um dem Wort des in der napoleonischen Zeit Gezeugten zu lauschen, dessen Vollbringen doch der Vergangenheit angehört und dessen Rede mit dem Anspruch dieser gewandelten Welt so oft hart zusammenstößt?

… Wenn ich zurückdenke, wie ich selbst ihn lieben lernte, erst von fern und später in der Nähe, dann scheint die Antwort mir nicht gar so schwer. Er ist einfach, – und die kleinen Menschen von heute sind fast sämmtlich ganz abscheulich komplizirt; er ist organisch aus einer gesunden Wurzel erwachsen, in gerader Linie, – und heute herrscht das Gewimmel der künstlich Gepfropften und der Deklassirten; er gibt nie Etwas von sich, das er vorher nicht wirklich besessen hat, keinen Gedanken, den er nicht bis ans Ende gedacht, kein Wort, das er nicht empfunden oder als für das Empfinden der Hörer nötig erkannt hat, – und heute zahlen die Vielzuvielen mit fettiger Scheidemünze und abgegriffenen Kassenscheinen aus aller Herren Ländern; er ist stark und doch fein, – und ringsum sieht der Blick heute nur schneidige Brutalität oder zimperliche Neurasthenie. Und weil er einfach ist, organisch geworden, geradlinig, geistig immer solvent wie nur je ein echter Prinz aus Genieland, weil er nie den festen Boden unter den Füßen verliert und weil der merkwürdigen Mischung eines heißen Temperamentes und einer fast verzärtelt empfindlichen Seele doch nie unheimlich brodelnde Blasen entsteigen: deshalb gewährt er einer gährenden Zeit das Gefühl wohliger Sicherheit, deshalb ist er ein in seinem Wert deutlich bestimmter Faktor und deshalb wünscht Mancher sogar, der öffentlich mit ihm hadert, insgeheim ihm doch noch ein langes Leben. Sein bloßes Dasein schon wirkt beruhigend, wie den Mut der Schiffsmannschaft und die Zuversicht der Passagiere die Gewißheit stählt, daß für den Notfall der alte Kapitän in der Kajüte sitzt, der mit Wind und Wetter Bescheid weiß und bei dem es keine Kursschwankungen und keine gefährlich raschen Impulse zu fürchten gibt. Braucht man noch ausdrücklich daran zu erinnern, daß das Ansehen eines solchen Kapitäns und das Vertrauen in seine untrügliche Weisheit dann gerade am Höchsten steigt, wenn er das »Fehlermachen« Anderen überlassen durfte und vom eigenen Können lange schon keine Probe mehr abzulegen brauchte? Otto Bismarck ist ein viel zu nüchterner Rechner, um nicht ganz genau zu wissen, daß die reine – auch durch den unklugen, aber für den zu Kränkenden ehrenvollen Beschluß einer Reichstagsmehrheit kaum ernstlich getrübte – Polyphonie der Geburtstagschöre nur möglich wurde, weil sie einem Entamteten angestimmt werden, an den die Hoffnung jeden, die Furcht keinen Anspruch mehr hat. Er hat immer das Talent besessen, Glück zu haben, immer zu den geliebten Gotteskindern gehört, denen alle Dinge zum Guten gedeihen. Nie warb er vergebens um Liebe, nie starb oder verdarb ihm ein Kind; und als die herzensgütige und bei aller Derbheit der Formen tiefinnerlich adelige Frau, mit der ihm die schwere Eheprobe so herrlich gelungen war, endlich, nach langem Siechtum, zur Rüste ging, da war es kein wehes Sterben, kein jäher Riß eines schmerzlich umklammerten Bandes, sondern ein stiller, mählich auf leisen Sohlen einherschlürfender Tod, dessen Nahen die friedsam in frohe Hoffnung Gebettete gar nicht ahnte. Dem Günstling des Glückes, den ein hohes geistiges Sehnen doch selten nur zu behaglichem Glücksgefühl kommen ließ, ist auch die Entlassung zum Guten gediehen; den nationalen Politiker traf sie hart, aber dem Menschen wurde sie nützlich; er sah Manches in anderer Beleuchtung, als er von der Bühne in die Proszeniumsloge gestiegen war, und er selbst wurde anders gesehen, seit der Kreis seines Verkehres sich weitete und die Boetticher, Rottenburg, Holstein und Genossen nicht mehr seine Schwelle sperrten. Napoleon hat die Wandlung in anderer Folge erlebt; aber wie der in Malmaison für jeden Landsmann erreichbare Erste Konsul uns menschlich näher ist als der fette Imperator im Prunkpalast, so wird auch kommenden Geschlechtern der Gutsherr von Friedrichsruh und Varzin den »eisernen« Kanzler der Wilhelmstraße verdrängen. Unsere demokratische Zeit erträgt große Männer nicht gern; sie erträgt sie eben, spürt aber stets nach den kleinlichen Malen der Menschlichkeit und ist entzückt, wenn sie an den unbequem Großen Etwas von der gemeinen Art des zweizinkigen Gabeltieres entdecken kann. Daher die unersättliche Gier nach Kammerdiener-Indiskretionen, daher die Verweichlichung und Verzimperlichung der ragenden Reckengestalt Bismarcks, die rührsamen Tränen, die immer wieder aus einer alten Schwäche seiner Augen herausdestillirt werden; daher der rasche Massenerfolg der allerliebsten Philisterbilder des munteren Zeichners Allers, daher der Wunsch, den grausen Oger von früher nun in den behaglich schmatzenden Wolf aus dem Kindermärchen umzufälschen.

Wo ich nur konnte, habe ich nachgeforscht, ob Bismarck sich als Privatmann verändert habe. Kurd von Schloezer, der sein Lob ganze Stunden hindurch singen konnte, sagte mir immer wieder: »Nein, er ist noch heute genau so, wie ich ihn in Petersburg kannte, im Verkehr mit Kaisern und Königen ganz der selbe Mann wie in der Unterhaltung mit einem Spazirgänger, dessen Namen und Stand er nicht kennt«. Dieses Urteil hat Ernst Schweninger, der ihn ganz sicher am Besten liebt, mir oft bestätigt; und Franz von Lenbach hat dann mit funkelnden Blick hinzugefügt: »Der? Der lebt ja in einer ganz anderen Welt. Den beirrt gar nichts und wir Alle zusammen kribbeln nur so durch seine Visionen hin«. Ich glaube, sie haben Recht; nur in schlechten Theaterstücken habe ichs, ungläubig, erlebt, daß nach dem Szenenwechsel auch die Charaktere sich wandelten; der Schreiber der Briefe an »die Arnimen«, an Polte Gerlach und John Lothrop Motley, der Tischnachbar der schönen Eugenie, der Zauberer der Wilhelmstraße, der Verbannte und der vom Winter ungnädigen Mißvergnügens scheinbar Befreite: sie Alle dünken mich eine Person, eine in ihrer Einheitlichkeit starke Individualität, die im Erleben reifte, deren Prägung aber stets unverändert blieb.

Man muß in Berlin, in der säuerlich scharfen Atmosphäre verspäteter Achtundvierziger, aufgewachsen sein, um ganz begreifen zu können, was wir Jungen, noch lange nach dem großen Krieg, uns unter diesem Bismarck so ungefähr vorstellten. Ein Wärwolf ist dagegen ein zierliches, liebenswürdiges Geschöpf. Alles Unglück, so lehrte man uns Tag vor Tag und so stand es ja auch in den Zeitungen, die altkluge Neugier beschnüffelte, kommt eigentlich von Bismarck, dessen ganzes Lebenswerk auf schnöde Gewalttat, auf frivole Rechtsverletzung und frechen Eidbruch gegründet ist, der das arme Volk aussaugt und schindet, an neuen Steuern ein Hundert-Millionen-Projekt nach dem anderen entwirft, nur zu seinem Privatvergnügen und um den fürchterlichen Moloch des Militarismus zu füttern. Er selbst wurde von den freundlichsten Beurteilern etwa so geschildert, wie er im Börsenepos Zolas abgemalt ist: »Un colosse, vêtu d’un uniforme blanc, éclatant et superbe, riant d’un rire large, les yeux gros, le nez fort, avec une mâchoire puissante que barraient des moustaches de conquérant barbare«. Auch der an einer anderen Stelle von Zola gewählte Vergleich mit einer treuen Dogge fehlte schon damals nicht; nur pflegten die berliner Epiker die Bissigkeit mit viel härterem Nachdruck als die Treue des Tieres zu betonen. Keine Spur von klug nachspähender Psychologie; man folgerte nach übel apriorischer Sitte: So ist er und so mußte er deshalb handeln, aus solchen Beweggründen; statt zu fragen: »Wie ist er, der so gehandelt hat?« und aus seinem Handeln und Unterlassen ihn dann zu erklären und zu beurteilen. Dahinter kam man ja allgemach, als man älter wurde; aber das Innerlichste der Persönlichkeit blieb Einem doch fern und fremd. Der Mann war zu weit, zu groß, und da in der Nähe Alles ihn nur bäuchlings bestaunte, war auch von den in die Intimität Zugelassenen nichts Rechtes zu erfahren. Er hatte unzählige détracteurs und manchen Béranger gefunden, aber noch keinen Taine, der den Riesen uns klinisch erklärte.

Als wärs gestern gewesen, so genau weiß ich noch, wie mir zu Mut war, als ich zum ersten Male nach Friedrichsruh fuhr. Die Befangenheit war natürlich; ihr gesellte sich aber noch ein banges Zittern vor dem möglichen Verlust einer Illusion; es gibt gar so viele berühmte Männer, die bei näherer Bekanntschaft enttäuschen. Und nun – zu meinem Entsetzen war ich von der Bahn direkt ins Eßzimmer geleitet worden –, nun erhob sich im hellen Schneelicht schwer eine mächtige Gestalt und eine hohe und höfliche Stimme bot gütigen Gruß. Alles an dem Manne ist schön: das gewaltige Auge, die fast mädchenhafte Zartheit der Haut, die den mächtigen Schädel umspannt, die schlanke und frische Hand, die nicht einem Greis, sondern einem soignirten Diplomaten von fünfzig Jahren anzugehören scheint. Er wirkt in dem langen schwarzen Rock, mit dem altväterischen Halstuch, wie ein aus der Goethezeit Zurückgebliebener, der in heiterer Ruhe auf das wirre Treiben ringsum schaut. In der Uniform erscheint er massiger, mythischer, möchte ich sagen; aber von seiner feinen Besonderheit nimmt sie doch Einiges hinweg. Er ist kein Kavallerist wie andere Kavalleristen, ist, trotz Küraß und Ehrenpallasch, im Grunde gar kein Soldat; er erzählte selbst einmal, daß er es nie dahin gebracht habe, bei wichtigen Anlässen nach der Vorschrift adjustirt zu sein, und als der Oberste Kriegsherr im Schloss seinen Generalobersten empfing, da merkte Der viel zu spät, daß er die Achselstücke vergessen habe. Das künstlerische, das tief poetische Element in Bismarcks Natur, das Lenbachs rastlos erneuter Eifer so meisterhaft nachgefühlt hat, ist durch die Uniform vielleicht dem Blick der Betrachter verhüllt worden. Mir trat es bei der ersten Begegnung gleich plastisch entgegen und ich begriff sofort, warum diese Erscheinung oft so falsch und so töricht beurteilt worden ist. Die Synthese fehlte, die Einsicht in das Wesen des Genies, das immer naiv ist und niemals aus komplizirter Berechnung heraus seine Pläne spinnt. Man hat Bismarck zu einem Fabelwesen von ungeheuerlicher Intelligenz und nahezu zarathustrischer Moralinlosigkeit gemacht, zu einem Manne, der Alles weiß und schlau Alles erwägt, der in der Wahl der Mittel aber niemals bedenklich ist. So sieht der Genius durch die Brille der Mittelmäßigkeit aus, der temperamentlosen, kurzsichtigen, spekulativen; so sieht auch der einseitig nach der Verstandesschärfe Gebildete den genialen Menschen: so sah Börne einst Goethe. Ein Stückchen, und wärs nur das winzigste, von einem Künstler muß in Jedem lebendig sein, der menschliche Größe ermessen will. Wenn man Bismarck in seinem Treffen und Fehlen nicht als eine naiv aus dem Instinkt heraus schaffende Persönlichkeit gelten läßt, wird man zu den abenteuerlichsten Irrtümern gelangen. Sybel hat ihn dem Themistokles verglichen, an dem Thukydides die Fähigkeit rühmt, durch die Macht seiner Natur in kurzem Nachdenken sofort das für den Augenblick Erforderliche zu finden. Vielleicht kann man ihn noch besser einem Jäger vergleichen, dem die Witterung das Überlegen und Nachdenken ersetzt. Er hat in seinem langen Leben auf allerlei Hasen und Hirsche und Keiler gezielt, wohl auch oft auf bösartigeres Getier; immer wartete er die Witterung ab, und stieg ihm die unangenehm in die Nase, dann gab es für ihn keine Schonzeit und keine Rücksicht auf noch nicht jagdbares Wild, dann knallten die Büchsen, – und mitunter sah der Jäger erst beim Beschreiten der Strecke, was er da eigentlich niedergeschossen hatte. Nachher kamen dann die Ganzklugen und erfanden ex post einen umständlich schlauen Plan, dessen Einzelheiten der rüstige Waidmann selbst wohl oft genug in heiterem Staunen vernahm.

Otto Bismarck kann so, wie er wirklich ist, in der silbernen Vornehmheit seines Wesens, ohne Retouche bestehen. Narren nur oder Lakaien können leugnen, daß er recht oft gefehlt hat wie ein ganz sterblicher Mensch und daß er von altpreußisch begrenzten Vorurteilen ein reichliches Vätererbe im Blute trägt. Das höchste Glück der Erdenkinder aber hat er erreicht und gewährt: die Persönlichkeit. Er denkt, er spricht, er schreibt wie kein Anderer. Nie hab ich von ihm ein banales Alltagswort gehört, ob er nun von Politik oder von Küchenfragen, von landwirtschaftlichen Sorgen oder von weltgeschichtlichen Ereignissen sprach. Er hat viel gelernt, Mancherlei gelesen und am Meisten erlebt; auf keinem Gebiet ist er fremd und ein wunderbar zähes Gedächtnis gibt ihm die Möglichkeit, bei der leisesten Berührung die angeschlagene Saite gleich fortklingen zu lassen. Und im Lernen, Lesen, Erleben hat er doch die Ursprünglichkeit des Empfindens nicht verloren, die ihn über alle Fährlichkeiten hinwegführt; als ihn im Herbst 1894 der schwerste Verlust traf, hat er sich an das schmale Bett seiner Johanna gesetzt und sich wie ein Kind ausgeschluchzt; er war im Schlafrock, ohne Strümpfe, und saß und weinte still vor sich hin … Wo ist der Heros von achtzig Jahren, der selbst vor den Allernächsten sich so sehen lassen dürfte? Freilich: Goethe hat Recht, wenn er seine Ottilie in ihr Tagebuch schreiben läßt, der Held könne eigentlich nur vom Helden anerkannt werden, während der Kammerdiener nur Seinesgleichen zu schätzen wisse. Aber hier ist der Held, den auch die Kammerdiener bewundern, der große Mann, auf den auch das Gehudel der Kleinen aus stolzer Einbildung blickt. Ein Bezwingendes ist in diesem stärksten Charmeur, eine geschlossene Einheitlichkeit, der selbst der stumpfe Sinn sich nicht entzieht, und ein kindhafter Adel, den Alles kleidet. Man braucht die schwerfälligen Verstandeskrücken nicht, braucht nicht durch die Erinnerung daran, daß man neben dem Schöpfer und Zerstörer von Reichen sitzt, künstlich die Autosuggestion zu schaffen, um den Mann zu bewundern und herzlich zu lieben, der 1815 geboren wurde und aus dessen Wesen 1895 dennoch kein einziger falscher Ton hervorklingt. Er wird von den Besten geliebt und verdient ihre Liebe, weil, in der sich selbst höchlich bewundernden, schwachgemuten Epoche des Mitleidens mit dem unendlich Kleinen, es Trost und stolze Freude gewährt, zu sehen, wie durch das Walten eines mächtigen Menschen die Grenzen der Menschheit sich weiten können.

Nun ist das hohe Bild uns genommen.

Der alte Herr Moritz Busch, Bismarcks Büschchen, hat am Morgen nach dem Tode des Fürsten im Berliner Lokalanzeiger das Entlassungsgesuch veröffentlicht, das der erste Kanzler des Deutschen Reiches auf den zweimal an einem Tage ihm überbrachten Befehl des Kaisers am neunzehnten März 1890 ins Schloß schickte. Seit dem Kronrat vom vierundzwanzigsten Januar, nach dessen Schluß dem Kaiser hinterbracht wurde, der Kanzler habe die preußischen Minister »vorher festgelegt«, und mehr noch seit dem sechzehnten Märzmorgen, wo, als der Kaiser die private Unterredung des Fürsten mit Windthorst hart getadelt und sich die Fortsetzung solchen von ihm nicht kontrolirten Verkehrs mit Abgeordneten entschieden verbeten hatte, das Wort fiel: »Die Macht meines Herrn endet am Salon meiner Frau«, – seit diesen Vorgängen war das Verhältnis zwischen Kaiser und Kanzler unhaltbar geworden. Andere Differenzen – über den Wert der Kabinetsordre vom achten September 1852, die dem Präsidenten des preußischen Staatsministeriums die seiner Verantwortlichkeit entsprechende Einflußsphäre sicherte, über die Nützlichkeit einer schnellen Erwiderung des Zarenbesuches, eine zweite Reise nach Rom, die Behandlung der Sozialdemokratie und die Stellung zu Rußland – waren früher schon aufgetaucht, Fürst Bismarck hatte den Eindruck, »daß seine Dienste nicht mehr beansprucht werden«, und nur seine Gewissenhaftigkeit, nur das Gefühl, in der Stunde ernster Gefahr und unheilvoller Verwirrung nicht, wie ein empfindlicher Zärtling, von der Fahne desertiren zu dürfen, hielt ihn noch im Amt. Zum Neujahrstag hatte ihm Wilhelm der Zweite geschrieben, er hoffe, den »treuen und erprobten Rat« des Kanzlers sich noch lange erhalten zu sehen. Diese Stimmung schien nun geschwunden; der Kanzler konnte über »kränkendes, unverdientes Mißtrauen« klagen, im Staatsministerium bröckelte es, auch in der Leitung der Reichsgeschäfte stieß der früher Allmächtige auf stille, aber unüberwindliche Widerstände: er mußte merken, daß die Zeit froher, ungehemmter Arbeit für ihn vorüber war. »Wie eine Erleichterung«, sagt Professor Horst Kohl im Nachtrag zu seiner Gesamtausgabe der Reden Bismarcks, »begrüßte er daher die Aufforderung zum Rücktritt, die am siebenzehnten März morgens in amtlicher Form und ohne Klausel ihm zuging. Am Nachmittag des selben Tages versammelte er die Minister um sich zu einer letzten Beratung, in der er sie von den Vorgängen der letzten Tage unterrichtete. Der Kaiser, dem von einem der Minister alsbald berichtet ward, was im Ministerrat geschehen war, nahm daraus die Veranlassung, am Abend des siebenzehnten März in einem amtlichen Excitatorium erneut die Einreichung des Rücktrittsgesuches zu verlangen.« Hier ist Bismarcks »Gesuch«:

Berlin, am achtzehnten März 1890.

Bei meinem ehrfurchtvollen Vortrage vom fünfzehnten d. Mts. haben Eure Majestät mir befohlen, den Ordre-Entwurf vorzulegen, durch welchen die Allerhöchste Ordre vom achten September 1852, welche die Stellung eines Ministerpräsidenten seinen Kollegen gegenüber seither regelte, außer Geltung gesetzt werden soll. Ich gestatte mir, über die Genesis und Bedeutung dieser Ordre nachstehende allerunterthänigste Darlegung.

Für die Stellung eines »Präsidenten des Staatsministeriums« war zur Zeit des absoluten Königthumes kein Bedürfniß vorhanden und es wurde zuerst auf dem Vereinigten Landtage von 1847 durch die damaligen liberalen Abgeordneten (Mevissen) auf das Bedürfniß hingewiesen, verfassungmäßige Zustände durch Ernennung eines »Premier-Ministers« anzubahnen, dessen Aufgabe es sein würde, die Einheitlichkeit der Politik des verantwortlichen Gesammtministeriums zu übernehmen. Mit dem Jahre 1848 trat diese konstitutionelle Gepflogenheit bei uns ins Leben und wurden »Präsidenten des Staatsministeriums« ernannt in Graf Arnim, Camphausen, Graf Brandenburg, Freiherr von Manteuffel, Fürst von Hohenzollern, nicht für ein Ressort, sondern für die Gesammtpolitik des Kabinets, also der Gesammtheit der Ressorts. Die meisten dieser Herren hatten kein eigenes Ressort, sondern nur das Präsidium, so zuletzt vor meinem Eintritt der Fürst von Hohenzollern, der Minister von Auerswald, der Prinz von Hohenlohe. Aber es lag ihm ob, in dem Staatsministerium und dessen Beziehungen zum Monarchen diejenige Einigkeit und Stetigkeit zu erhalten, ohne welche eine ministerielle Verantwortlichkeit, wie sie das Wesen des Verfassunglebens bildet, nicht durchführbar ist. Das Verhältniß des Staatsministeriums und seiner einzelnen Mitglieder zu der neuen Institution des Ministerpräsidenten bedurfte sehr bald einer näheren, der Verfassung entsprechenden Regelung, wie sie im Einverständniß mit dem damaligen Staatsministerium durch die Ordre vom achten September 1852 erfolgt ist. Diese Ordre ist seitdem entscheidend für die Stellung des Ministerpräsidenten zum Staatsministerium geblieben und sie allein gab dem Ministerpräsidenten die Autorität, welche es ihm ermöglicht, dasjenige Maß von Verantwortlichkeit für die Gesammtpolitik des Kabinets zu übernehmen, welches ihm im Landtag und in der Oeffentlichen Meinung zugemuthet wird. Wenn jeder einzelne Minister Allerhöchste Anordnungen extrahiren kann, ohne vorherige Verständigung mit seinen Kollegen, so ist eine einheitliche Politik, für welche Jemand verantwortlich sein kann, nicht möglich. Keinem Minister, und namentlich nicht dem Ministerpräsidenten, bleibt die Möglichkeit, für die Gesammtpolitik des Kabinets die verfassungmäßige Verantwortlichkeit zu tragen. In der absoluten Monarchie war eine Bestimmung, wie sie die Ordre von 1852 enthält, entbehrlich und würde es noch heute sein, wenn wir zum Absolutismus, ohne ministerielle Verantwortlichkeit, zurückkehrten. Nach den zu Recht bestehenden verfassungmäßigen Einrichtungen aber ist eine präsidiale Leitung des Ministerkollegiums auf der Basis der Ordre von 1852 unentbehrlich. Hierüber sind, wie in der gestrigen Staatsministerialsitzung festgestellt wurde, meine sämmtlichen Kollegen mit mir einverstanden und auch darüber, daß auch jeder meiner Nachfolger im Ministerpräsidium die Verantwortlichkeit nicht würde tragen können, wenn ihm die Autorität, welche die Ordre von 1852 verleiht, mangelte. Bei jedem meiner Nachfolger wird dieses Bedürfniß noch stärker hervortreten als bei mir, weil ihm nicht sofort die Autorität zur Seite stehen wird, die mir ein langjähriges Präsidium und das Vertrauen der beiden hochseligen Kaiser bisher verliehen hat. Ich habe bisher niemals das Bedürfniß gehabt, mich einem Kollegen gegenüber auf die Ordre von 1852 ausdrücklich zu beziehen. Die Existenz derselben und die Gewißheit, daß ich das Vertrauen der beiden hochseligen Kaiser Wilhelm und Friedrich besaß, genügten, um meine Autorität im Kollegium sicher zu stellen. Diese Gewißheit ist heute aber weder für meine Kollegen noch für mich selbst vorhanden. Ich habe daher auf die Ordre vom Jahre 1852 zurückgreifen müssen, um die nöthige Einheit im Dienst Eurer Majestät sicher zu stellen.

Aus vorstehenden Gründen bin ich außer Stande, Eurer Majestät Befehl auszuführen, laut dessen ich die Aufhebung der vor Kurzem von mir in Erinnerung gebrachten Ordre von 1852 selbst herbeiführen und kontrasigniren, trotzdem aber das Präsidium des Staatsministeriums weiterführen soll.

Nach den Mittheilungen, welche mir der General von Hahnke und der Geheime Kabinetsrath Lucanus gestern gemacht haben, kann ich nicht im Zweifel sein, daß Eure Majestät wissen und glauben, daß es für mich nicht möglich ist, die Ordre aufzuheben und doch Minister zu bleiben. Dennoch haben Eure Majestät den mir am Fünfzehnten ertheilten Befehl aufrecht erhalten und in Aussicht gestellt, mein dadurch nothwendig werdendes Abschiedsgesuch zu genehmigen. Nach früheren Besprechungen, die ich mit Eurer Majestät über die Frage hatte, ob Allerhöchstdenselben mein Verbleiben im Dienst unerwünscht sein würde, durfte ich annehmen, daß es Allerhöchstdenselben genehm sein würde, wenn ich auf meine Stellungen in Allerhöchstdero preußischen Diensten verzichtete, im Reichsdienst aber bliebe. Ich habe mir bei näherer Prüfung dieser Frage erlaubt, auf einige bedenkliche Konsequenzen dieser Theilung meiner Ämter, namentlich hinsichtlich des kräftigen Auftretens des Kanzlers im Reichstage, in Ehrfurcht aufmerksam zu machen, und enthalte mich, alle Folgen, welche eine solche Scheidung zwischen Preußen und dem Reichskanzler haben würde, hier zu wiederholen. Eure Majestät geruhten darauf, zu genehmigen, daß einstweilen Alles beim Alten bliebe. Wie ich aber die Ehre hatte, auseinanderzusetzen, ist es für mich nicht möglich, die Stellung eines Ministerpräsidenten beizubehalten, nachdem Eure Majestät für dieselbe die capitis diminutio wiederholt befohlen haben, welche in der Aufhebung der Ordre von 1852 liegt. Eure Majestät geruhten außerdem, bei meinem ehrfurchtvollen Vortrage vom Fünfzehnten d. Mts. mir bezüglich der Ausdehnung meiner dienstlichen Berechtigung Grenzen zu ziehen, welche mir nicht das Maß der Betheiligung an den Staatsgeschäften, der Übersicht über letztere und der freien Bewegung in meinen ministeriellen Entschließungen und in meinem Verkehr mit dem Reichstage und seinen Mitgliedern lassen, deren ich zur Übernahme der verfassungmäßigen Verantwortlichkeit für meine amtliche Thätigkeit bedarf. Aber auch, wenn es thunlich wäre, unsere auswärtige Politik unabhängig von der inneren und die äußere Reichspolitik so unabhängig von der preußischen zu betreiben, wie es der Fall sein würde, wenn der Reichskanzler der preußischen Politik eben so unbetheiligt gegenüberstände wie der bayerischen oder sächsischen und an der Herstellung des preußischen Votums im Bundesrathe dem Reichstage gegenüber keinen Theil hätte, so würde ich doch nach den jüngsten Entscheidungen Eurer Majestät über die Richtung unserer auswärtigen Politik, wie sie in dem Allerhöchsten Handschreiben zusammengefaßt sind, mit dem Eure Majestät die Berichte des Konsuls in Kiew gestern begleiteten, in der Unmöglichkeit sein, die Ausführung der darin vorgeschriebenen Anordnungen bezüglich der auswärtigen Politik zu übernehmen. Ich würde damit alle für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten im Sinne der beiden hochseligen Vorgänger Eurer Majestät in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigen Verhältnissen erlangt hat und deren über Erwarten große Bedeutung mir …. nach seiner Rückkehr aus Petersburg bestätigt hat.

Es ist mir bei meiner Anhänglichkeit an den Dienst des Königlichen Hauses und an Eure Majestät und bei der langjährigen Einlebung in Verhältnisse, welche ich bisher für dauernd gehalten hatte, sehr schmerzlich, aus der gewohnten Beziehung zu Allerhöchstdenselben und zu der Gesammtpolitik des Reiches und Preußens auszuscheiden; aber nach gewissenhafter Erwägung der Allerhöchsten Intentionen, zu deren Ausführung ich bereit sein müßte, wenn ich im Dienst bliebe, kann ich nicht anders, als Eure Majestät allerunterthänigst bitten, mich aus dem Amte des Reichskanzlers, des Ministerpräsidenten und des preußischen Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten in Gnade und mit der gesetzlichen Pension entlassen zu wollen. Nach meinen Eindrücken in den letzten Wochen und nach den Eröffnungen, die ich gestern den Mittheilungen aus Eurer Majestät Civil- und Militärkabinet entnommen habe, darf ich in Ehrfurcht annehmen, daß ich mit diesem meinem Entlassungsgesuch den Wünschen Eurer Majestät entgegenkomme und also auf eine huldreiche Bewilligung mit Sicherheit rechnen darf. Ich würde die Bitte um Entlassung aus meinen Ämtern schon vor Jahr und Tag Eurer Majestät unterbreitet haben, wenn ich nicht den Eindruck gehabt hätte, daß es Eurer Majestät erwünscht wäre, die Erfahrungen und die Fähigkeiten eines treuen Dieners Ihrer Vorfahren zu benutzen. Nachdem ich sicher bin, daß Eure Majestät derselben nicht bedürfen, darf ich aus dem politischen Leben zurücktreten, ohne zu befürchten, daß mein Entschluß von der Oeffentlichen Meinung als unzeitig verurtheilt wird.

von Bismarck.

Der Fürst mußte erstaunt sein, als er sechsunddreißig Stunden später das folgende Handschreiben des Kaisers erhielt:

Mein lieber Fürst!

Mit tiefer Bewegung habe ich aus Ihrem Gesuche vom achtzehnten d. Mts. ersehen, daß Sie entschlossen sind, von den Ämtern zurückzutreten, welche Sie seit langen Jahren mit unvergleichlichem Erfolge geführt haben. Ich hatte gehofft, dem Gedanken, Mich von Ihnen zu trennen, bei unseren Lebzeiten nicht näher treten zu müssen; wenn Ich gleichwohl im vollen Bewußtsein der folgenschweren Tragweite Ihres Rücktrittes jetzt genöthigt bin, Mich mit diesem Gedanken vertraut zu machen, so thue Ich Dies zwar betrübten Herzens, aber in der festen Zuversicht, daß die Gewährung Ihres Gesuches dazu beitragen werde, Ihr für das Vaterland unersetzliches Leben und Ihre Kräfte so lange wie möglich zu schonen und zu erhalten. Die von Ihnen für Ihren Entschluß angeführten Gründe überzeugen Mich, daß weitere Versuche, Sie zur Zurücknahme Ihres Antrages zu bestimmen, keine Aussicht auf Erfolg haben. Ich entspreche daher Ihrem Wunsche, indem Ich Ihnen hierneben den erbetenen Abschied aus Ihren Aemtern als Reichskanzler, Präsident Meines Staatsministeriums und Minister der Auswärtigen Angelegenheiten in Gnaden und in der Zuversicht ertheile, daß Ihr Rath und Ihre Thatkraft, Ihre Treue und Hingebung auch in Zukunft Mir und dem Vaterlande nicht fehlen werde. Ich habe es als eine der gnädigsten Fügungen in Meinem Leben betrachtet, daß Ich Sie bei Meinem Regirungantritt als Meinen ersten Berather zur Seite hatte. Was Sie für Preußen und Deutschland gewirkt und erreicht haben, was Sie Meinem Hause, Meinen Vorfahren und Mir gewesen sind, wird Mir und dem deutschen Volke in dankbarer, unvergänglicher Erinnerung bleiben. Aber auch im Auslande wird ihrer weisen und thatkräftigen Friedenspolitik, die Ich auch künftig aus voller Ueberzeugung zur Richtschnur Meines Handelns zu machen entschlossen bin, allezeit mit ruhmvoller Anerkennung gedacht werden. Ihre Verdienste vollwerthig zu belohnen, steht nicht in Meiner Macht. Ich muß Mir daran genügen lassen, Sie Meines und des Vaterlandes unauslöschlichen Dankes zu versichern. Als ein Zeichen dieses Dankes verleihe Ich Ihnen die Würde eines Herzogs von Lauenburg. Auch werde Ich Ihnen mein lebensgroßes Bildniß zugehen lassen. Gott segne Sie, Mein lieber Fürst, und schenke Ihnen noch viele Jahre eines ungetrübten und durch das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht verklärten Alters. In diesen Gesinnungen bleibe Ich Ihr Ihnen auch in Zukunft treu verbundener, dankbarer Kaiser und König

Berlin, den zwanzigsten März 1890.

Wilhelm, I. R.

Zwei Tage später telegraphirte der Kaiser nach Weimar: »Mir ist so weh ums Herz, als hätte Ich Meinen Großvater noch einmal verloren! Es ist Mir aber von Gott einmal bestimmt; also habe Ich es zu tragen, wenn Ich auch darüber zu Grunde gehen sollte. Das Amt des wachthabenden Offiziers auf dem Staatsschiff ist Mir zugefallen. Der Kurs bleibt der alte; und nun ›Volldampf voraus!‹«

Die Antwort auf das Entlassungsgesuch mußte den Empfänger überraschen, weil sie, eben so wie die nach Weimar gerichtete Depesche, zu verrathen schien, daß es den Kaiser einen unendlich schweren seelischen Kampf gekostet habe, ehe er den Muth fand, dem ihn unsagbar schmerzenden Entschluß seines Kanzlers zuzustimmen, und weil sie von der Aussichtlosigkeit »weiterer Versuche« sprach, den Fürsten zur Zurücknahme seines Antrages zu bewegen. Irgend ein Versuch war nach dieser Richtung niemals gemacht worden, auch nicht der leiseste, indirekteste; es hatte sogar zweier kaiserlichen Excitatorien bedurft, um Bismarck zu dem über die nächste Zukunft der deutschen Geschicke entscheidenden Schritt zu drängen, und die aus den Worten »weitere Versuche« hörbare Andeutung des Bedauerns ist bis auf diesen Tag unverständlich geblieben. Schon deshalb ist es gut, daß der Wortlaut des Schreibens vom achtzehnten März jetzt allgemein bekannt geworden ist. Vielleicht wird das Volk, das von diesen Dingen bisher nichts Authentisches wußte, nun bald unzweideutig darüber aufgeklärt, ob damals etwa in hohen Regionen Zettelungen bestanden, die zwischen dem jungen Herrn und dem alten Diener Zwietracht zu stiften versuchten, und ob dem Kaiser, dem Bismarck als ein körperlich und geistig verfallender Morphinist geschildert wurde, am Ende auch über die Absichten des Kanzlers und über bei ihm vergeblich gethane Schritte falsche Nachrichten zugingen. Der Fürst hat die Veröffentlichung seines Entlassungsgesuches – er nannte es »eins in Anführungstrichen« – oft dringend gewünscht, er hat bedauert, daß es ihm, mit Rücksicht auf die darin berührten Staatsinteressen, nicht möglich sei, das Schreiben bei Lebzeiten selbst zu publiziren, aber bestimmt gehofft, es werde nach seinem Tode ans Tageslicht kommen. Herrn Busch ist vorgeworfen worden, er habe mit unanständiger Hast gehandelt; es wäre, sagten die Tadler, passender gewesen, wenigstens zu warten, bis der Leib des Großen die letzte Ruhstatt gefunden hat. Solche Sentimentalitäten hätte Bismarck höchstens mitleidig belächelt. Wenn die Kenntniß des Schreibens für die Beurtheilung eines noch dunklen Abschnittes unserer Geschichte wichtig ist, dann durfte sie nicht zimperlich verzögert werden. Ein Volk, das solchen Helden erst geschminkt und offiziell hergerichtet sehen möchte, ehe es ihm im Pantheon einen Platz anweist, wäre des Helden wahrlich nicht werth … Bismarck wollte seine politische Lebensarbeit als mit dem Tode des alten Kaisers abgeschlossen betrachtet sehen und für die bald darauf folgende Entwickelung nicht verantwortlich gemacht werden; deshalb wünschte er, auf seinem Leichenstein solle die schlichte, fast allzu demüthige Inschrift stehen: »Fürst Bismarck, ein treuer deutscher Diener Kaiser Wilhelms des Ersten.« An diese Dienstzeit dachte wohl Herr Busch, als er seiner nützlichen Enthüllung das Motto aus dem Buch Jesus Sirach gab: »Es stehet in Gottes Händen, daß es einem Regenten gerathe; Derselbige giebt ihm einen löblichen Kanzler. Einem weisen Knecht muß der Herr dienen; und ein vernünftiger Herr murret nicht darum.« Das deutsche Volk hat jetzt die Gründe kennen gelernt, die den löblichen Kanzler aus dem Dienst des dritten Kaisers trieben und ihn zwangen, acht Jahre thatenlos zu verseufzen; sie harrt der Ergänzung, die nur der gekrönte Vertrauensmann der Nation ihr gewähren oder versagen kann. Wird er gewähren?

Goethe läßt die in die irdische Hülle des Nestorssohnes Antilochos gekleidete Pallas Athene also zu Achilles sprechen, der ein kurzes, rühmliches Leben einer langen, ermattenden Laufbahn vorzog:

Stirbt mein Vater dereinst, der graue, reisige Nestor,

Wer beklagt ihn alsdann? Und selbst von dem Auge des Sohnes

Wälzet die Thräne sich kaum, die gelinde. Völlig vollendet

Liegt der ruhende Greis, der Sterblichen herrliches Muster.

Aber der Jüngling, fallend, erregt unendliche Sehnsucht

Allen Künftigen auf und Jedem stirbt er aufs Neue,

Der die rühmliche That mit rühmlichen Thaten gekrönt wünscht.

Völlig vollendet, wie Nestor, ist Bismarck gestorben. Dennoch erregt er, fallend, unendliche Sehnsucht und dem Dreiundachtzigjährigen folgt in die Familiengruft der Seufzer, der Goethes Göttin beim Tode des Achilles von der Lippe glitt: »Ach, daß schon so frühe das schöne Bildniß der Erde fehlen soll, die weit und breit am Gemeinen sich freuet!« Ist es nicht seltsam, ists nicht ein nie vorher noch gesehenes Schauspiel, daß um einen an der Grenze des Daseins angelangten, fast ein Jahrzehnt nun schon machtlosen Greis in der Germanenwelt getrauert wird, als wäre ein heldisch ins Leben blickender Jüngling gestorben, dessen lockiges Haupt die Hoffnung mit der Strahlenkrone des Retters schmücken zu dürfen wähnte? Das seltsame Räthsel wird nicht gelöst, wenn man den Staunenden sagt, die Trauer gelte nicht dem Manne, sondern der Zeit, als deren letzter, größter Repräsentant er ins Grab gesunken sei; die Heroenzeit der deutschen Geschichte ist seit dem März 1888 entschwunden, seit dem März 1890 eingeurnt, das Gewimmel der stets Vergnügten fühlt sich an den immer gedeckten Prunktafeln der neuen Aera einstweilen sehr wohl, und wer an vergangene Herrlichkeit zu erinnern wagte, Der wurde, während man lärmend weit und breit am Gemeinen sich freute, als ein Festspielverderber barsch in den Winkel gewiesen. Nein: die Totenklage des lebenden Geschlechtes, das zu neuen Ufern ein neuer Kahn lockt, gilt nicht der entschwundenen Zeit, gilt auch nicht dem Politiker, dem Reichsgründer, dessen Tagewerk nach der Ansicht der Mehrheit gethan war und der in Lebensfragen der sozialen Rechtsordnung das moderne Empfinden oft zu entschiedenem, mitunter sogar zu empörtem Widerspruch zwang. Den Verlust eines unersetzbaren Menschen bejammert die Menschheit, Eines, den selbst der erbittertste Feind im harten Kampf der Meinungen nicht missen mochte, und unendliche Sehnsucht wird durch die Gewißheit geweckt, daß dem leidenschaftlichen Menschenbedürfniß, verehrend zu lieben, für lange, vielleicht für immer, der große Gegenstand fehlen wird. Keine ärgere Thorheit läßt sich denken als die der guten Leute, die den Fürsten Bismarck anderen Staatsmännern vergleichen, ihn etwa gar, wie es nach seinem Tode der fleckige Herr Crispi that, zu ehren glauben, wenn sie ihn neben Gladstone stellen. Die Frage ist müßig, ob es stärkere, in der Einheit ihrer Weltanschauung besser zum Anspruch der Zeit gestimmte, mit hellerer Einsicht in nahende Nothwendigkeiten begabte Politiker gab, geben wird, geben kann: was den starken Wandler deutscher Geschicke aus der Reihe der politischen Meister hebt, ist, daß er mehr war als ein Politiker. Auch Gladstone wollte mehr sein; er schwitzte, als Polyhistor und Dilettant in allen schwierig scheinenden Wissenschaften, über Büchern und Papier und kam über eine kümmerliche Kärrnerarbeit doch nicht hinaus. Bismarck war kein Buchmensch; er hatte nach heutigem Begriff nicht besonders viel, das Wenige aber gut gelesen und das einmal Aufgenommene nicht mit dem Ballast des Bildungphilisteriums überbürdet; wohl das Meiste von Dem, was Naturerkenntniß und Oekonomik in den letzten Jahrzehnten geleistet haben, war dem Alternden fremd geblieben und er sprach über die Eroberungen der Wissenschaft von je her gern mit der Geringschätzung des Naturburschen, der von grauer Theorie nichts hält und über den Werth der gepriesenen Systeme die Nase rümpft. Er gehörte mit Haut und Haar von Jugend auf zum horazischen genus irritabile vatum: er hatte die leidenschaftliche Subjektivität, die empfindsamen Nerven, die musische Grundstimmung und das heiße Temperament des genial geborenen Künstlers. Deshalb sah er stets Menschen, wo Andere nur Sachen, nur theoretische Fragen sahen; deshalb konnte er sich von einem Vorurtheil, einer Sympathie oder Antipathie, die eine Persönlichkeit ihm erregt hatte, nur schwer wieder befreien; und deshalb lebte in seinem Sinn plastisch nur, was sein Auge erblickt hatte, und von der Lage des Industriearbeiters, der, bis er stirbt, in einer Riesenmaschine ein in ewigem, monotonem Gleichmaß bewegtes Rädchen ist, entstand ihm kaum eine klare Vorstellung. Ist es Zufall, daß den Politiker der Pfad so oft an ein Ziel führte, das er gar nicht gesucht hatte, – bis er eines Tages ironisch sagte, man komme am Weitesten, wenn man nicht wisse, wohin man gehe? Des alten Preußenstaates Art gegen alldeutsche Zuchtlosigkeit und Nationalitätenschwindel zu bewahren, war der eigensinnige Borusse ausgezogen: er fand eine Kaiserkrone und bereitete rüstig noch die Zeit, da Preußen in Deutschland aufgehen muß. Für junkerliche Ideale wollte der feudale Genosse der Stahl und Gerlach, der Hasser bürgerlicher Anmaßung, kämpfen: er wurde der Exponent der großbourgeoisen Entwickelung und führte das früher befehdete Bürgerthum auf den Gipfel industrieller und händlerischer Macht. Nur die Leidenschaft, deren Wirbelwind die Sehweite kürzt, kann solche Irrsal erklären. Und es ist keine Uebertreibung, zu sagen, daß Bismarck in Leidenschaften lebte und starb; sie glühten, wie Lava aus dünner Schneeschicht, noch aus den Gebieterzügen des Greisenhauptes hervor. Hier wurzelte seine Kraft, wurzelten auch seine wundervollen Tragoedienfehler, – wenn durchaus denn moralisirend von Fehlern des Genius gesprochen werden muß. Man liebt im neuen Deutschland das stürmische Temperament nicht; man hat es selbst dem Sieger Bismarck nur gnädig verziehen. Aber die Leidenschaftlichen bleiben bis zum letzten Wank jung und wecken im Scheiden noch, wie der schöne Pelide, unendliche Sehnsucht.

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