Köpfe – Holstein

Großbeerenstraße 40, Dicht am Kreuzberg. Kleinbürgerhäuser, Kleinbürgerläden. Fünf Minuten davon, schon in der Yorkstraße, poltert, kreischt, protzt das neue Berlin im Stuckpomp. Hier, zwischen der Hagelberger- und der Kreuzbergstraße, ists still. Altberlin. Kein Bierpalazzo, kein Prunkladen. Enge Kutscherkneipen; der Bäckermeister, der für drei, vier Gäste Sitzgelegenheit bietet, Napfkuchen, Windbeutel, Sahnenbaisers bereit hält, auch, wenns verlangt wird, Kaffee kochen läßt, nennt sich nur schüchtern Konditor. Sogar Grünkramkeller giebts da noch, vor denen, auf dem Pflaster, Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Äpfel stehen. Die Strähne der Telephondrähte ist dünn und das Surren des Straßenbahndrahtes dringt nur sacht in die graue Stille; wird im Sommer vom Rauschen des Wasserfalles übertönt, der schäumend durch den Viktoriapark stürzt. Wer vor Nummer 40 steht, sieht die weißen Gischtkämmchen. Das vornehmste Haus in der Runde. Altfränkisch vornehm; wie man vor fünfzig Jahren baute. Nach der Gewöhnung von heute eng und düster. Auf den Steinfliesen, die zur Haustür hinaufführen, purzelt dem Einlaß Heischenden ein Pförtnerskind entgegen; und der Zusammenstoß weckt die Lachlust der Spielkameraden. Ein paar Holzstufen. Links den Klingelstrang ziehen. Eine schmächtige Frau mit weißem Haar und freundlich schweigsamem Gesichtsausdruck öffnet. Frau Röber, die treuste, zuverlässigste Schaffnerin. Die läßt keinen Unwillkommenen hinein; ist durch die pfiffigste Reporterkunst nicht ins Schwatzen zu bringen. Ein schmaler Korridor, der kaum zum Umdrehen Raum gewährt. Drei Zimmerchen. Alte, ganz schlichte Möbel, die auf den Westberliner wie Urväter-Hausrat wirken. Nur das Allernötigste. Im Arbeit- und Wohnzimmer ein Schreibtisch, eine winzige Bibliothek, Photographien und andere Erinnerungzeichen. Im Schlafzimmer das Bett eines Försters oder Landlehrers; daneben, auf dem Nachttischchen, ein Leuchter mit Kerze. Nirgends die leiseste Ahnung von Luxus und Üppigkeit. Kachelöfen. Petroleumlampen. Kein Gas. Kein Telephon. Und doch wars in dieser Parterrewohnung behaglich. An Winterabenden besonders, wenn dichte Vorhänge vergessen ließen, daß draußen, hinter der nächsten Ecke, das Leben der Proles brande. Wie in einer Provinzstadt wars dann; bei einem feinen Beamten, dem des Dienstes immer gleichgestellte Uhr ein Junggesellenleben lang ins Ohr getickt hat und der sich nach den Bureaustunden in reinlicher Einsamkeit an dem Bewußtsein röstet, dem Weltgetriebe, den Welthändeln meilenfern bleiben zu dürfen. Gern aber den Besucher, dessen Wesensart ihm paßt, davon erzählen hört; wie von Wichtigem, Bedeutendem, das weit hinter dem Pflichtenkreis des Hausherrn liegt. Doch just hier, in diesem südwestlichen Winkel der Reichshauptstadt, war der Puls deutscher Politik hörbarer als sonst irgendwo. Hohe und höchste Würdenträger kamen ins altfränkisch vornehme Haus. Der Kanzler, Staatssekretäre, Botschafter, Geheimräte; Fürsten und Grafen; alte Edelfrauen und Großfinanzherren; auch aus der Schicht der Subalternen ward manchmal ein Bewährter zugelassen. In diese Parterrewohnung lieferte das Postamt SW 47 gewiß die interessantesten Briefe. »Seiner Excellenz dem Herrn Wirklichen Geheimen Rat Baron Fritz von Holstein.«

Der wohnte hier; hatte sich aus dem neuberlinischen Getos hierher gerettet, als auch in der anhalt-dessauischen Enklave zwischen den Westbahnhöfen, die so lange, dicht neben den Brennpunkten des Straßenlebens, kleinstädtisch blieb, der Menschenspülicht ihm lästig wurde. Zu viele Kanzleiräte, Souterrainschreiber, Krämerkinder, Spazirmädchen (in diesem merkwürdigen Revier hält mancher Hausbesitzer, manche ehrsame Familie sich nur durch den hohen Mietzins, den eine vom Ertrag der Prostitution sich redlich Nährende zahlt). Was brauchte er? Luft, Ruhe, Sauberkeit. Noch in seiner Krankenstube wars niemals dumpf oder muffig, ärgerte nie ein Stäubchen das Auge; fast lautlos kam und ging die Schaffnerin; und von den unbebauten Flächen des Kreuzbergbezirkes weht selbst an schwülen Tagen erträgliche Luft in die Nachbarschaft. Bis ins Auswärtige Amt war der Weg freilich weit. Um so besser: die Rat Suchenden fielen ihm nicht allzu oft ins Haus und er mußte schon morgens die Beine rühren. Gehen war ihm die beste Freude. Er konnte, mußte Stunden lang allein laufen, hatte auf solchem Marsch die brauchbarsten Einfälle und kam noch als Siebenziger aus der Großbeerenstraße gar nicht selten zu Fuß in die Grunewaldkolonie. Zum Stubenhocker taugte er nicht. Wäre am Liebsten Soldat geworden und stöhnte, da die Eltern den jungen Friedrich August Karl Ferdinand Julius, der rasch in die Oberklassen des Köllenischen Gymnasiums geklettert war, zum Juristen bestimmten. Fünfziger Jahre. Die Armee hat noch nicht das Ansehen, das Wilhelm und Roon, Bismarck und Moltke ihr später warben; die Erinnerung an 1806 ist nicht verblaßt, die Achtundvierziger haben die »Soldateska« verschrien und der güterlose Adel ersehnt seinen Söhnen einen lohnenderen Beruf als des Offiziers. Holstein wäre sicher ein guter Regimentskommandeur (kein ganz bequemer wohl, doch einer von ernstem Pflichtbewußtsein) geworden, hätte auch eine Generalstabsabteilung mit weiser Umsicht geleitet und es am Ende zum Generalquartiermeister, vielleicht gar zur Nachfolge Moltkes gebracht. (Auf dem versailler Bild, das die Beamten der Reichskanzlei in der Felduniform zeigt, sieht der bärtige junge Herr Diplomat gar nicht militärisch aus.) Im Feuer zu führen: Das war seiner Wünsche höchstes Ziel. Den Verzicht fühlte er immer wie eine alte Wunde, die bei schlechtem Wetter brennt. Der Auskultator am Kammergericht mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu ächzen. Dann aber gings, schon im zweiundzwanzigsten Lebensjahr, auf den umdunsteten Olympos der Diplomatie. Da gabs zu sehen, zu erleben, zu fechten. Fürs Vaterland; auch ohne Degen und bunten Rock. Daß er für den Zwang zu blinder Subordination nicht geboren sei, gestand der Alternde selbst schmunzelnd in den Stunden ruhiger Rückschau. Der Vater hatte wohl doch den richtigen Weg gewählt. Im engen Gelaß der Großbeerenstraße war die Excellenz ein großmächtiger Herr, der vor Keinem je den Rücken zum Katzenbuckel krümmte; wars, trotz den drei Vorgesetzten, auch im Amtszimmer; am Königsplatz wäre der Chef noch untergeben gewesen. Und zu oft genannt worden. Viel zu oft für Holsteins Geschmack. Dessen Mann war Blumenthal, von dem Bismarck gesagt hat: »Die Zeitungen nennen seinen Namen nie, trotzdem er in der kronprinzlichen Armee Stabschef ist und um die Leitung des Krieges sich fast eben so große Verdienste erworben hat wie Moltke«. So hätte Holstein es gern gehabt. Nur von den Kennern wollte er beachtet und richtig geschätzt sein. Vor den Anderen im tiefsten Dunkel geborgen. Die Mahnung, im Schatten zu leben, war ihm gewiß der liebste Schluß epikurischer Weisheit. Seiner Wünsche höchstes Ziel: im Feuer zu fuhren und den Blicken doch unerreichbar zu bleiben. Eigensinniger Wille zur Macht in der Seele eines Empfindsamen, der grelles Licht nicht verträgt und unter öffentlicher Kritik wie unter frecher Entschleierung seiner Scham erschauert: ein politisch und psychologisch schwieriger Fall. In der Arbeitstube war dem Wanderlustigen schließlich doch am Wohlsten; blieb seine wahre Heimat. In den Glanz höfischen Lebens zog es ihn nicht. Allzu rasch verdorrt da die innere Freiheit. Den Rat, die persönliche Gunst des Allerhöchsten Herrn zu suchen, hätte er wohl mit dem Wort abgelehnt, das Schillers Kürassier in Wallensteins Lager spricht:

Mögen Die sich sein Joch aufladen,

Die mitessen von seinen Gnaden,

Die mit ihm tafeln im goldnen Zimmer.

Wir, wir haben von seinem Glanz und Schimmer

Nichts als die Müh’ und als die Schmerzen

Und wofür wir uns halten in unserm Herzen.

Wir: die Beamten. »Wer anders macht ihn als seine Soldaten zu dem großmächtigen Potentaten?« Die Civilsoldaten in der Schreibstube. Der Mann, der so gern den Rock des Königs getragen hätte, fühlte sich stolz als Beamten. Wurde noch mit weißem Haar wild, wenn Parlament oder Presse die Leistung der Beamtenschaft herabsetzte oder gar empfahl, den Ersatz hinter der Bureauschranke zu suchen. »Das fehlte noch, daß man uns die Leute kopfscheu macht, um ihr Ansehen, den Hauptteil ihrer Löhnung, bringt und irgendeinem Bankier Ehren zukommen läßt, die unsere Besten kaum in einem langen Leben erreichen.« Nicht einmal das Auswärtige Amt, an dem er selbst doch viel zu rügen fand und von dessen Vertretern er nur drei noch zu sich ließ, durfte man draußen tadeln. Und der Staatssekretär, der ihm vorher mindestens das kleinste der möglichen Übel schien, hatte (wie Graf Posadowsky seit der Opferung Woedtkes) bei ihm verspielt, seit er nicht mit der erhofften Entschlossenheit für sein Amt eingetreten war. »An den Beamten liegts nicht; die Leute sollen erst mal nachsehen, ob anderswo so anständig gearbeitet wird.« Ein dem Leben und dessen vielfach einander schneidenden Kreisen im Grunde doch Ferner, Fremder spricht so. Holstein hatte viel erlebt. Die stärksten Staatsmänner und Diplomaten zweier Menschenalter im Hausrock gesehen: Gortschakow und Thiers, D’Israeli und Cavour; das Gewimmel der Mittelwüchsigen; und in Deutschland von Schleinitz, Robert Goltz und Harry Arnim bis zu den Gesandten von übermorgen Jeden, der irgendwo als Rad oder Rädchen der Maschine eingefügt war. Als Dreiundzwanzigjähriger ist er Bismarcks Jüngster in Petersburg (schon dort, unter Schloezer, Arbeiter, nicht nobel bummelnder Attaché) und erhorcht die ersten Vorbereitungen zum Kampf um die deutsche Vormacht. London, Washington; während einer Pause, die ein dienstlicher Konflikt bewirkt, Jagdfahrten durch Nordamerika. Stille Arbeit in Preußens Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Im großen Jahr ruft der Bundeskanzler ihn nach Versailles und läßt ihn die Feder führen, als es, nach den Verhandlungen mit Thiers und Favre, zum Abschluß kommt. (Das Tintenfaß und die Feder, die für die Urkunde des Präliminarfriedens vom sechsundzwanzigsten Februar 1871 benutzt worden waren, hat Holstein Jahrzehnte lang aufbewahrt und erst, als er den Abend nahen fühlte, verschenkt.) Er bleibt in Paris, hilft Arnim stürzen und wird 1876 nach Berlin geholt. War er nicht reich genug, um an die Leitung einer Mission denken zu können, oder sah er schon früh ein, daß er ins abgesperrte Dunkel der Centrale besser passe als auf ein weithin sichtbares Gipfelchen? Nur zu Ferienreisen hat er Berlin noch verlassen. 1876 bis 1906: dreißig Jahre im Auswärtigen Amt. Intimer Verkehr fast nur mit beamteter Menschheit (civiler und militärischer); und die Gewöhnung, mit den Besuchern beinahe nur über die in sein Fach gehörigen Dinge zu sprechen. Die Herren von Bleichröder, von Mendelssohn, von Schwabach bat er wohl kaum je, ihm von der Entwickelung des Finanzwesens zu erzählen. Wozu? Das war nicht seine Sache. Dafür mochten Andere sorgen. Jedes Hirn, dachte er, faßt nur eine bestimmte Menge Wissensstoffs; und wenn ich meins mit anderem Kram überlaste, bleibt für den politischen nicht der nötige Platz. Die Finanzhäupter sollten ihm berichten, was sie aus Petersburg, London, Paris gehört hatten; eine von der Amtsstube aus nicht wahrnehmbare Spiegelung der Ereignisse zeigen; und vernehmen, was an der Staatsspitze für heute und morgen gewünscht werde. Holstein wollte nicht veralten; mühte sich, in seinem Bereich die Evolution zu erkennen: und merkte doch nicht, wie die Welt (was wir so nennen) sich wandelte und mit welcher unheimlichen Schnelle ringsum die Grenzen der Macht verrückt wurden. Ich glaube nicht, daß er Japans Armut je als die, wie im alten Preußen, zur Expansion drängende Kraft in seinen Kalkul eingestellt hat; da stand nur: Starkes Heer, leistungfähige Flotte, vorsichtig tapfere Geschäftsleitung. Den Franzosen traute er, als Iswolskij in Paris war, den Entschluß zu einer Aktivität zu, die der Gläubiger der Russen, Türken, Serben, Bulgaren sich in Orientwirrnis unter allen Umständen versagen mußte. Hof, Regirung, Armee: andere Faktoren dünkten ihn für seine Rechnung nicht wichtig. Daß Diplomatenberichte nicht viel über Wirtschaft und Stimmung der Völker brachten, fand er nicht tadelnswert. »Wird anderswo etwa fleißiger gearbeitet?« Gewiß nicht; nur da und dort, wo die wirtschaftlich Kräftigsten den Tshin entthront und sich die Prokura verschafft haben, vielleicht praktischer und nach modernerer Methode. Solche Reden hätte Holstein höchstens von Einem hingenommen, den er »übern Durchschnitt« schätzte; und wäre auch vor Dessen Wort ungeduldig geworden (»kribbelig«, sagte er, dessen Sprache manchmal an Fontane erinnerte). Dann senkte sich das sonst aufwärts spähende Haupt und die Finger trommelten auf die Stuhllehne, krallten sich in den Handteller oder flatterten auf und nieder, wie in hastigem Wechselspiel der Streck- und Beugemuskeln. Und dann, wenn der Andere geendet hatte, kams wohl leise: »Sie mögen Recht haben; aber mir hülfe es nicht mehr, wenn ichs anders sehen lernte.« Eigensinnig war er; nicht eitel. Erpicht, seinen Willen durchzusetzen; niemals, bekannt werden zu lassen, daß er den Entschluß erwirkt habe. Darauf zu verzichten, hatte das lange Beamtenleben ihn gewöhnt. In seiner Stellung war er nur möglich, wenn er den Chefs allen Ruhm ließ. Ob ers immer leicht getragen hat? In den letzten drei Lustren gewiß: da wußten die Zünftigen doch, deutsche und fremde, wer die Sachen mache. Vorher? Bismarcks Gehilfen mußten sich mit dem Ruf brauchbarer Handlanger bescheiden. Daß Dem im Wesentlichen Einer helfen könne, wollte selbst die Zunftwelt nicht glauben. Dem gibts der Herr im Schlaf. Holstein hat ihn fanatisch bewundert; von der ersten Stunde an. Als Bismarck, nach der babelsberger Audienz, am zweiundzwanzigsten September 1862 zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, meinte noch Schloezer (später der Treuste der Treuen), die Führer der Landtagsopposition, die Vincke, Twesten, Sybel und Genossen, würden ihn klein kriegen. »Otto ist kein Charakter. Und Otto lügt zu gern.« Holstein glaubte an Bismarcks Stern. Bis in die letzte Stunde? In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre fand er ihn matter, seine Politik nicht einfach, seine Taktik nicht stetig genug und witterte in der mißtrauischen Abneigung von Österreich eine Gefahr. Der cauchemar des coalitions, der dem Kanzler die Nächte verdarb, quälte den Geheimen Rat nicht. Und die russische Rückversicherung schien ihm fast ein Verrat an dem Geist des austro-deutschen Bündnisses. »Etwas Greifbares ist davon nicht zu erwarten; und wenns herauskommt, sind wir als falsche Kerle blamirt.« Stets im Schatten des Riesen sich ducken: leicht ists nicht für einen Mann von stolzem Selbständigkeitsdrang. Der möchte manchmal doch sein eigenes Denken und Wollen Ereignis werden sehen. Hundertmal aber hat Holstein emphatisch beteuert, er habe nie Bismarcks Rücktritt gewünscht noch je gar zum Sturz des Titanen mitgewirkt. Als er merkte, wie ringsum Minen gelegt wurden, beschwor er Herbert, den Vater schnell nach Berlin zu rufen; sonst sei die Explosion unvermeidlich. Doch der Fürst kam zu spät aus dem Sachsenwald auf den Kampfplatz. Als der Kaiser über die »Lektionen« klagte, die der Alte ihm vor Zuhörern aufzwinge, schrieb Holstein im Krankenbett mit Bleistift einen langen Brief an Herbert. S. D. möge S. M. Alles, was er für nötig halte, schonunglos sagen; aber unter vier Augen; vor den Ministern vertrage es der Kaiser, bei seinem Temperament, nun einmal nicht. (In dem Kronrat, der sich mit dem Ausstande der westfälischen Bergarbeiter beschäftigte, hatte Bismarck sehr schroff gesprochen.) Ob dieser Brief dem Kanzler vorgelegt worden ist, hat der Absender nie erfahren. Herbert sprach nicht darüber; und für jeden neuen Schwichtigungversuch wars bald zu spät. Bismarck ging, Caprivi kam und Herbert wollte nicht bleiben. Trotz Holsteins drängendem Rat. »S. M. wird Sie wie ein rohes Ei behandeln. Schon um Ihren Vater nicht noch mehr zu reizen. Der wird Ihnen natürlich jede Frage beantworten; und am Ende kommt er wieder zurück. Ihre Stellung kann also nur besser werden. Sie werden hier wie ein Statthalter regiren.« Vergebens. Der Vater hatte, als Wilhelm ihn bat, Herbert zuzureden, mit Octavios Wort erwidert: »Mein Sohn ist mündig.« (Der Gedanke, den Ältesten als Geisel in Berlin zu lassen und dadurch zu ängstlicher Rücksicht gezwungen zu sein, lächelte ihm wohl nicht.) Der Sohn sprach: »Ich stehe und falle mit meinem Vater.« Und schied auch von Holstein in offener Feindschaft. Der hatte Caprivi bestimmt, im Schloß gegen die Verlängerung des russischen Assekuranzvertrages zu sprechen. (Schuwalow drängte: also durfte man nicht zaudern.) Der Kaiser ist rasch gewonnen. Nun sollen noch die Sachverständigen des Auswärtigen Amtes gehört werden. Wo ist der Vertrag? Holstein hat, weil er als Gegner des Planes bekannt war, nicht mitgearbeitet und gibt die Frage an den Kanzleidirektor weiter. Der bringt dem Kanzler das Dokument. Die Häuptlinge der Politischen Abteilung werden zusammengerufen, aufgefordert, ihr Votum schriftlich zu geben: und Alle (auch General von Schweinitz, der Botschafter) sind für die Ablehnung des Russenantrages. Als der Staatssekretär Graf Bismarck ins Amt kommt, ist die Sache erledigt. Johannens heftiger Sohn macht Herrn von Holstein (der auf Herberts Wunsch das dem Staatssekretär nächste Zimmer bezogen hat) eine Szene. »Sie konnten diese Dummheit doch verhindern. Aber Sie scheinen mich etwas früh für einen toten Mann zu halten.« Der Geheimrat antwortet, er habe nicht die Macht, dem Kanzler die Ausführung seiner Absichten zu wehren. (Als er dem kühleren Bill den Auftritt schildert, meint Der gleichmütig: »Ob der alte Esel den Vertrag zwei Tage früher oder später sah, ist doch ganz egal.« Holstein läßt sich seitdem den Glauben nicht ausreden, Herbert sei nur deshalb so wütend geworden, weil er, auf Befehl des Vaters, die letzten Tage seines Amtslebens zur Erneuerung des Vertrages benutzen wollte, von dem dann dem Grafen Schuwalow nichts mehr abzuhandeln war.) Keine Brücke führt über die Kluft. Herbert, der dem Älteren eng befreundet gewesen war, beschränkt sich fortan auf kühlen Gruß, diskutirt die Frage seines Bleibens nicht mehr und geht ohne Abschied von Holstein. Der im Hause Bismarcks von diesem Tag an als Verräter und Erzfeind verschrien wird.

War ers wirklich? Er hob die Schultern, sah blicklos über die Brille weg und sagte, wenns einmal nötig werde, könne er durch einen hohen Haufen intimer Briefe beweisen, was ihn der Familie und der Person des Kanzlers allmählich entfremdet und wie er in den Wochen der Krisis gehandelt habe. So lange ers vermeiden könne, wolle er diesen »weltgeschichtlichen Staub« nicht aufwühlen. Daß er im März 1890 nicht aus dem Amt schied, kann ihm kein Gerechter verargen; hat auch Bismarck ihm nie zugemutet. Blieb nicht Schloezer, nicht selbst Wilhelm Bismarck im Dienst? Ein Mann, der die Arbeit liebt und noch nützen zu können hofft. Ein Preuße, der sich dem König bis zur letzten Fleischfaser angelobt hat. Und wars denn nicht gut, wenn wenigstens Einer blieb, der das Geschäft bis in den hintersten Winkel kannte? Der nur der res publica nach bester Kraft dienen wollte und für sich nichts mehr erstrebte? Holstein fühlte die Gefahr; fühlte, daß man ihm den Wunsch nachsagen werde, über den Reckenleib des Gestürzten hinweg auf die Höhe zu klettern: und erklärte drum, daß er ein höheres Amt nicht annehmen werde. Dieser Verzicht, wähnte er, müsse Allen genügen. Für sich wollte er ja nichts; entzog sich sogar der nahen Möglichkeit, in den Kreis des Kaisers zu kommen (weil er die Psyche des »Vorgesetzten« kannte und sofort merkte, daß solcher Verkehr dem Staatssekretär Marschall nicht behagen würde). Wahn. Daß der Geheime Rat nicht nach Titeln und Würden lüstern sei, wußte Jeder. War er nun aber nicht am Ziel seines Sehnens? Vor ihm Dilettanten ohne Kenntnis und Erfahrung. Neben ihm nur Paul Hatzfeldt (der Freund) und Radowitz (der Feind) als Träger der Tradition. Endlich die Gelegenheit, de donner sa mesure; endlich, zu zeigen, was er aus Eigenem vermag. »So hat ers seit Jahren gewollt; konnte ers erst haben, wenn die beiden Bismarck tot oder geächtet waren.« Jubelstimmung des herrnlosen Zauberlehrlings:

Hat der alte Hexenmeister

Sich doch einmal wegbegeben!

Und nun sollen seine Geister

Auch nach meinem Willen leben.

Seine Wort’ und Werke

Merkt’ ich und den Brauch

Und mit Geistesstärke

Tu’ ich Wunder auch.

Der alte Meister ist nicht heimgekehrt; ob die Not auch noch größer ward als im Wogenschwall der Besendespotie. Und dem Meisterspieler ist kein Wunder gelungen. Weil er eben nur ein Lehrling war und zwar Worte und Brauch merken, den Genius aber, der die Geister befreit und bändigt, nicht herbeizwingen konnte? Oder weil er auch nach des Meisters Weggang in der Küche nicht nach seinem Willen schalten durfte? So sah ers; sollten Alle es sehen. »Für Diejenigen, welche das innere Getriebe unserer auswärtigen Politik kennen, bedarf die Behauptung, daß ich allemal die entscheidende Instanz war, keiner Widerlegung. Es ist, zum Beispiel, genugsam bekannt, auch über das Auswärtige Amt hinaus, daß ich keinerlei Anteil hatte an der Vorbereitung jener Gruppe von politischen Handlungen, welche von der Kritik vielfach als Ursachen des englisch-französischen Zusammenschlusses vom April 1904 angesehen worden sind: ich meine das Krügertelegramm, das Bagdadbahnprojekt und die antienglischen Reden im Deutschen Reichstag. In jedem einzelnen dieser Fälle sah ich mich vor einer vollendeten oder doch eingeleiteten Tatsache, vor einer bereits vollzogenen Weichenstellung. Ich spreche hiermit keine Ansicht aus, sondern konstatire nur, wie weit ich davon entfernt war, der deutschen Politik die Richtung zu weisen.« Das schrieb er mir vor drei Jahren; und hatte die Beispiele klug gewählt. Der an den Präsidenten Krüger gerichteten Depesche hätte er freilich nie zugestimmt. In dem Jameson Raid keinen Grund zu so jähem Kurswechsel gefunden. Sechs Monate vorher hat, an Bord des englischen Flaggschiffes »Royal Sovereign«, Wilhelm im Rock des Britenadmirals gesagt: »Ich kann Sie versichern, daß einer der schönsten Tage meines Lebens, den ich nicht vergessen werde, so lange ich lebe, jener Tag war, an dem ich die Mittelmeerflotte inspizirte, an Bord des »Dreadnought« stieg und meine Flagge zum ersten Mal aufgehißt wurde. Ich bin aber nicht nur Admiral Ihrer Flotte, sondern ich bin auch der Enkel der mächtigen Königin von England. Ich möchte meinen Gefühlen und den Gefühlen meiner Offiziere Ausdruck verleihen … und trinke auf das Wohl der britischen Flotte, ihrer Admirale und Offiziere.« Am dritten Januar 1896 kommt er, den die steife Haltung Salisburys verstimmt hat, mit militärischem Gefolge ins Kanzlerhaus und fordert, daß für die von der Übermacht bedrohten Buren sofort Etwas geschehe. Der ratlose Onkel Chlodwig ruft den Staatssekretär (der als Redner das Reich ja schon im burischen Südafrika engagirt hat). Herr von Marschall ruft den Kolonialdirektor Paul Kayser, der den nach langem Hin und Her vereinbarten Wortlaut der Depesche redigiren soll. Der zu solcher Arbeit Berufene wäre Holstein gewesen; der beste Stilist. Der wäre am Ende aber explodirt; spornstreichs, statt sich zu fügen, aus dem Amt gelaufen. Hebt, da ers hört, in hellem Zorn die Hände gen Himmel. »Ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appelliren: Das heißt doch deutlich, daß wir gegen England zu haben wären! Wie konnten Sie diesen Satz durchlassen?« Der Staatssekretär: »Sie würdens begreifen, wenn Sie wüßten, was geplant war und was wir mit dem Kompromiß verhindern mußten.« Als der Britenleu aufbrüllte, sprach Holstein: Da habt Ihrs nun. Mit seinem Willen wäre auch die Bagdadbahn (»der trockene Weg nach Indien«) nie als politische Angelegenheit, als Reichsgeschäft behandelt worden. Und er wußte nicht, daß Graf Bülow (der seine Reden über internationale Politik mit ihm zu entwerfen und in den Grundlinien festzulegen pflegte) im Reichstag einen Passus einfügen werde, der England und insbesondere dessen Kolonialminister verstimmen mußte. Alles richtig. Daß die »allemal entscheidende Instanz« nicht in der Wilhelmstraße zu suchen war, brauchte die Selbstverteidigung nicht zu erweisen. Dort aber wies Holstein die Richtung. Das hat kein deutscher, kein fremder Diplomat je bezweifelt. Die Herren Chefs verstanden von dem Geschäft nicht viel und waren auf Den angewiesen, der, rompu au métier, des Handelns Folgen errechnen konnte. Daß er seinen Willen nicht durchzusetzen vermöge, hat, noch unter dem alten Herrn, selbst Bismarck, der doch für allmächtig galt, oft bestöhnt. Die Kausalität ist in politischen Dingen fast immer schwer zu erkennen. »Die Politik«, sagt Lagarde, »webt sich langsam und aus sehr verschiedenen Fäden. Kein Bericht wird je darüber sprechen, ob ein Minister mit so oder so viel Mühe eine störrige Mähre von Fürsten zurechtgeritten hat, bevor er sie aus der Reitbahn auf die Straße ließ, ob ein Fürst gern so und so viele Nachkommen der Makkabäer in seiner Nähe duldete, warum der und jener Vertrag abgeschlossen wurde.« Wer will gar die Grenzen des Gebietes ermessen, auf dem ein mit greifbarer Verantwortung nicht Bebürdeter für den Gang der Ereignisse, für Geschehen und Unterlassen vor der Geschichte verantwortlich zu machen wäre?

Holstein hat oft geirrt; besonders schlimm, als er, in der Schicksalsstunde, da für eine Weile wenigstens der Schein der Kontinuität gewahrt werden mußte, zu brüsker Abkehr von Rußland riet. Oft aber sind ihm Fehler zugeschrieben worden, die keine waren oder die nicht in sein Schuldbuch gehörten. Daß er 1899» und 1901 vor flinker Annahme der Bündnisvorschläge Chamberlains, später vor den offiziösen Angeboten der Hansen und Betzoldt warnte, war vernünftig. »Wer mit dem Teufel aus einer Schüssel essen will, muß einen langen Löffel haben«: von diesem Gedanken ging Chamberlain aus, als er in Leicester den Dreibund empfahl, der Deutschland und »die beiden großen Zweige des Angelsachsenstammes« umfassen sollte. Der »devil« war ihm der Gossudar aller Reussen. Gegen das Zarenreich und die Französische Republik, wo während des Burenkrieges die Wut der bretonischen Wölfe mit lautem Gebell erwacht war und die alte Königin täglich wie eine Vettel gescholten wurde, sollte Deutschland die Waffe liefern. Die Bereitschaft schon hätte Britaniens strategische Stellung gebessert und die Möglichkeit profitabler Verhandlung mit Petersburg und Paris geboten. Das war der Hauptzweck des Planes; dessen Ersinner auf Wilhelms Wunsch baute, nach dem proburischen Telegramm die Britenliebe im Sturm zurückzuerobern. Für ein haltbares Bündnis mit der Leistung entsprechender Gegenleistung wäre weder Eduard noch Salisbury, der, wenn sichs um einen großen Gegenstand handelte, hinter der Greisenfassade noch recht lebhaft werden konnte, zu haben gewesen; auch in beiden Häusern des Parlaments kaum eine Mehrheit. Daß Holstein nicht in die Falle tappte, nicht damals schon den Bären dem Walfisch zutrieb, müßten Deutsche ihm danken. Nicht minder, daß er pariser Guirlanden zurückwies, seit Delcassé seinem (nicht aufdringlichen) Werben in Ostasien so unhöflich ausgewichen war. Und Marokko? Ist das Urteil gerecht, das ihn, in diesem traurigen Handel nur ihn, als Rädelsführer verdammt?

Wir konnten uns 1899 mit England (vielleicht) gegen Frankreich, 1901 mit Frankreich und Spanien sicher gegen England über Marokko verständigen. Daß beide Offerten abgelehnt wurden, war klug. Die deutsche Interessensphäre durfte nicht dicht ans Mittelmeer grenzen; und das Scherifenreich mußte als Zankapfel zwischen den Westmächten liegen bleiben. Unser hastiger Flottenbau und die ungestümen Versuche, den Islam zu gewinnen, wecken in London neues Mißtrauen. Eduard und Lansdowne, Delcassé und Cambon trachten, die Erinnerung an Faschoda und den Burenlärm aus dem Gedächtnis zu tilgen. Die Frucht dieses Mühens, das franko-britische Kolonialabkommen vom achten April 1904, wird in Berlin ohne Ärger betrachtet. Der glimmt erst auf, als im Reichstag dem Kanzler lässige Schwachheit und Mangel an Nationalgefühl vorgeworfen sind. Als Bülow auf Urlaub geht, schärft er, mit einem Fuß schon im Wagen, dem Begleiter noch ein: »Achten Sie mir, bitte, besonders auf Marokko! Das, lieber Holstein, ist mir jetzt die Hauptsache.« Jetzt; im Lenz hat er den Hofgeneralen widersprochen, die dem Kaiser eine Landung an der Berbernküste empfahlen. Nur von der spanischen Seite her ist der Aprilvertrag nun noch zu durchlöchern. Doch England ist in Madrid zu stark (oder Radowitz, wie Holstein behauptet, zu schwach): am dritten Oktober unterzeichnen Delcassé und Del Muni das arrangement franco-espagnol. Nichts mehr zu machen? Holstein will noch immer nicht glauben, daß England das Westsultanat, das ihm seit Nelsons Tagen stets so wichtig schien, im Ernst aufgegeben habe; lieber, daß Frankreich dupirt, um den Preis des Verzichtes auf Egypten geprellt werden solle. Aber für die Ausführung der neu auftauchenden Pläne und Plänchen ist er eben so wenig verantwortlich wie für die Initiative. »Bis Ende Februar 1906, wo meine Marokko-Tätigkeit aufhörte, trugen alle wichtigeren unter den von mir veranlaßten Direktiven nicht nur die Unterschrift des Reichskanzlers, sondern waren vorher auch meistens eingehend mit ihm erörtert worden … Dieser Sachverhalt berechtigt mich, die Behauptung, daß ich in irgendeiner Phase der Marokkofrage andere als die vom Reichskanzler bezeichneten Ziele verfolgt oder andere als die von ihm genehmigten Mittel angewandt habe, für freie Erfindung, für gänzlich unwahr zu erklären.« Das hat er am neunzehnten Oktober 1907 in der »Zukunft« gesagt. Er war für die Landung in Tanger, nicht für die Rede (und hatte einen Nervenchoc, als er las, was Wilhelm gesagt habe). War gegen den Verständigungvorschlag, den Rouvier in Karlsruhe und in Berlin durch Privatpersonen machen ließ. »Weil wir den Kaiser doch nicht desavouiren, ein paar Wochen nach der Rede, in der er erklärte, nur mit dem souverainen Sultan verhandeln zu wollen, nicht mit Frankreich verhandeln konnten.« War für die Konferenz, weil in seinem Hirn die Überzeugung lebte, daß wir mit tapferer Politik den Britenconcern zu besiegen vermochten. Gab das Dezernat ab, als auf solche Politik nicht mehr zu hoffen war. Und taumelte dennoch, wie ein Schwerverwundeter, als am zwölften März 1906 der Rückzug befohlen wurde. Das Alles ward hier oft erörtert, oft beseufzt. Nachher hat er mit dem Kanzler nie wieder über Marokko gesprochen. Die Behauptung, er habe in der Zeit der Casablancakrisis gehetzt und den Abschluß des Vertrages bekämpft, ist als unwahr erweislich. Einen Vertrag, den sein Freund Kiderlen entwarf und (in Gemeinschaft mit Herrn Jules Cambon) ausarbeitete, hätte er niemals bekämpft. War aber auch aus sachlichen Gründen für die Einigung: dieser Acker verhieß ja kein armes Hälmchen mehr. Die Ereignisse haben ihm Recht gegeben; von der Algesirasakte bis zum Schiedsspruch im Haag: eine schwarze Serie. Ich kann den Mann nicht tadeln, der dem Deutschen Reich die Kraft zutraute, sich allein durchs Dickicht zu schlagen.

(Marokko: dieses Kapitel hat er selbst geschrieben; nicht nur dieses. Der Historiker darf von dem Nachlaß, dem gespeicherten Briefschatz Holsteins Manches erwarten. Familie Bismarck, Paul Hatzfeldt, Abeken, Schloezer, Bucher, Hohenlohe, Waldersee, Eulenburg, Bülow, Mühlberg, Monts, Marschall, Stumm, Tattenbach: keine schlechten Korrespondenten. Und wenn die von Holstein geschriebenen Briefe gesammelt würden, wärs für den Politiker und für den Psychologen eine Fundgrube von selten erschautem Umfang; auch für den Stilgourmet, der nur Wortkunst schlürfen will. Denn dieser Geheimrat hatte von Bismarck schreiben gelernt; klar, kraftvoll und höllisch persönlich.)

Er hoffte wohl, in den Sielen sterben zu können; und auch ihn hat, wie Bismarck, diese Hoffnung getrogen. Unter Bernhard Bülow konnte er sich ja ganz sicher wähnen. Den hatte der Vater (»die Heilige Kraft«: so hieß der pompös behende Staatssekretär im Amt) ihm ans Herz gelegt. »Nehmen Sie sich meines Jungen ein Bißchen an, wenn ich tot bin!« Und der alternde Fritz war der Vermächtnispflicht treu geblieben. Bernhard konnte nicht klagen. Bukarest-Rom: ein hübscher Sprung für Einen, den, da er in seinen amtlichen Berichten verwertete, was rumänische Globetrotter brühwarm aus Paris gebracht hatten, der boshafte Graf Münster einen »flüchtigen Beobachter an der unteren Donau« nannte. Nach Berlin hat ihn Phili gebracht, nicht Holstein. Der sagte: »Wenn Sie mal Kanzler werden wollen, bleiben Sie lieber weg; als Staatssekretär des Auswärtigen hat noch Keiner Seide gesponnen.« Doch Philis Sinn war nicht zu erweichen, der italienische Koch entschloß sich nach einigem Zaudern, der Herrschaft »ins Elend« zu folgen; und der neue Staatssekretär hatte bald die dankbarste Rolle (und den besten Einbläser) im Reich. Als er Kanzler wurde, bot er Herrn von Holstein das Staatssekretariat an. Nein. Zu geringe Kenntnis handelspolitischer Geschäfte und zu wenig Vertrauen in die rhetorische Schlagfertigkeit. Nein; trotzdem der Kanzler ihm die ganze Last der Repräsentation abnehmen wollte. Bis zu der derb motivirten Trennung von Philipp Eulenburg (dessen wiener Botschafterpolitik Holstein zuerst »phantastisch«, dann, gröber, »operettenhaft« nannte) ging Alles glatt. Seitdem wurde dem Kaiser ins Ohr geraunt, der Alte, der dem Wink der Majestät stets ausgewichen war, sei ein weltfremder Dickschädel und staubig versteinerter Bureaukrat. Obendrein noch ein fanatischer Feind Frankreichs. (Die dümmste von allen Mären. Holstein hat französische Kultur, Literatur und Verkehrsform beinahe leidenschaftlich geliebt und ist mit den Staatsmännern der Republik, von Thiers und Gambetta bis auf Courcel und Hanotaux, auch in schwierigen Momenten gut ausgekommen.) Jedenfalls ein unbequemer Passagier. Den man am Liebsten, um den Gesprächsstoff zu entgiften, Herrn Delcassé nachschickte. Aber Bülow hat diese Entlassung schon dem Fürsten Herbert Bismarck geweigert, an dessen freundlicher Meinung ihm damals doch lag. Abwarten. Dieser Reizbare schafft sicher selbst die Gelegenheit. Richtig. Im Herbst 1905 findet er, das Preßbureau lasse ihn schmählich im Stich; lancire schon lange nichts Wirksames über Marokko. Der Leiter, Geheimrat Hammann, wird gestellt und erwidert ruhig, die Öffentliche Meinung scheine ihm für diese Sache noch nicht reif und vorsichtige Zurückhaltung deshalb nötig. »Flausen!« Der weiße Hitzkopf schmettert ein Abschiedsgesuch (das dritte) in die Reichskanzlei. Unmöglicher Zustand. Er habe zwar nicht den Titel, durch Lebensalter und Erfahrung aber das Ansehen eines Direktors der Politischen Abteilung erworben und sei mit den Kollegen bisher immer fertig geworden. (Aber fragt mich nur nicht, wie, wisperten die Heinzelmännlein des Hauses.) Wenn ein aus dem Zeitungdienst übernommener Herr nun auf einem Separatfeuer kochen und sich ihm nicht fügen wolle, kehre das Chaos wieder. Er oder ich. Entweder wird das Preßbureau, als ein Teil der Politischen Abteilung, mir unterstellt oder ich bin hier überflüssig. Der Kanzler kennt seinen alten Gönner. Immer gleich die Flamme aus dem Dachfirst. Wozu sich die Weihnacht verderben? Unterm Baum findet Holstein einen Remedur verheißenden Brief. Und acht Tage danach ist die Verfügung »raus«, die Seiner Exzellenz die ganze Politische Abteilung unterstellt; also auch das Preßbureau. Der störrige Hammann muß sich bei ihm melden. »Das hat er mir nicht vergessen; mich seitdem gehaßt und seine Meute immer wieder gegen mich losgelassen.« Wirklich? Der Preßdezernent war wohl selbst ein kleiner Holstein geworden; kümmerte sich so ziemlich um Alles, nicht etwa nur um die Zeitungschreiber, und hatte viel mehr Macht, als sein Titel verriet. Auch seinen Kopf für sich. Als Bönhase der Zunft verdächtig; aber des Chefs rechte Hand (die, versteht sich, nicht wissen darf, was die linke tut). Die beiden Geheimen mußten eines Tages zusammenstoßen. Der Alte sagte dem Jüngeren nach, er sei nur ein Polizistentalent ohne Ahnung vom politischen Geschäft; der Jüngere dem Alten, er treibe den Kanzler in Konflikte, die nur ein Riese durchfechten könne, und klage nach dem ersten Hagelschauer oder Kanonenschuß dann über die ungeheuerlichen Angriffe, denen er schuldlos ausgesetzt sei. Einstweilen hat Holstein gesiegt. Schlacht oder Scharmützel? Hinter der Front lauert ein stärkerer Feind. Wo ist die schöne Zeit, da Troubadour, Austernfreund, Spätzle in Eintracht wandelten? Herr von Kiderlen wegen allzu kräftiger Witze von Philipp dem Guten oben denunzirt und in Ungnade aus dem engsten Zirkel verbannt. Holstein der Schwarze Mann des Hofes. Nur der Troubadour schlägt noch die Laute. Seine wiener Berichte waren so ins Abenteuerliche ausgeschweift, daß auch der Kaiser sie in sarkastischen Randbemerkungen verspottete und nicht nur Privatgründe das Scheiden aus der Karriere erzwangen. Aber auch im Ruhestand ist der Fürst zu Eulenburg und Hertefeld nicht müßig; noch gar ohnmächtig. Graf Uniko Groeben, Radolins Erster Sekretär, hat ihm aus Paris geschrieben, so lange Holstein mitwirke, sei an Frieden nicht zu denken; bei dem Namen schwelle dem Gallierhahn vor Wut der Kamm. Das bestätigen, mit sorgenvoller Miene, die Herren Albert Honorius von Monaco und Raymond Lecomte. Einer, der so innig den Frieden herbeisehnt wie der Liebenberger, darfs nicht verschweigen. Das Abschiedsgesuch des Wirklichen Geheimen ist ja noch nicht erledigt. Er selbst bittet Bülow, es liegen zu lassen, bis entschieden sei, wer Richthofens Nachfolger werde. Herr von Tschirschky kommt. Der hat den kingmaker der deutschen Diplomatie vorher zwar mit äußerster Devotion behandelt und ihm nach Delcassés Fall in Worten andächtiger Bewunderung zu den Erfolgen seiner Marokkopolitik gratulirt. Weiß jetzt aber, was die Glocke geschlagen hat. Jeder Zoll ein Vorgesetzter. »Das erträgt Holstein nicht.« Die Rechnung stimmte. Caprivi und Marschall, Hohenlohe und Bülow: er hatte sie Alle klein gesehen und sah sie dann groß. Gestern noch überlegen, fast ein umschmeichelter Lord-Protektor; heute Gehilfe, der versuchen muß, den Chef allmählich zu überzeugen. Sechzehn Jahre lang hat ers getragen; noch der Höchste, dachte er, hat einen Allerhöchsten über sich und muß tun, als sei er der Handlanger eines erhabenen Herrn. Die vom Handwerk wissen doch, wie und von wem es gemacht wird. Tschirschky als Erzieher zu demütiger Unterordnung: Das trug er nicht. Auch ein Sanfterer hätte nicht auf den Wink dieser in Hamburg und Luxemburg gebildeten Staatsmännlichkeit apportirt. Am zweiten April schreibt er an den Kanzler: »Das Auswärtige Amt ist für Herrn von Tschirschky und mich zu eng.« Bitte um Genehmigung des Abschiedsgesuches aus der Weihnachtwoche. Langes, intimes Gespräch mit dem Fürsten Bülow, der drängend rät, auszuharren. Am nächsten Tag aber einen Brief bekommt, in dem Holstein ihm mitteilt, daß er ein Duplikat des Abschiedsgesuches an das Auswärtige Amt geschickt habe; »weil es für meine Würde und Ihre Ruhe das Beste ist, ein Ende zu machen«. Noch einmal versucht der Kanzler, das Gesuch aufzuhalten; läßt das Original vom Geheimrat Scheefer einschließen und dem neuen Herrn drüben sagen, daß ers persönlich erledigen werde. Erst als er röchelnd im Bett liegt, wird es vorgesucht; und in der Osterwoche dem Wirklichen Geheimen Rat Baron von Holstein der erbetene Abschied in Gnaden bewilligt.

Von zehn Diplomaten schwören mindestens acht darauf, daß Bülow froh war, den unbequemen Mahner los zu sein. Der kränkliche Tschirschky, sagen sie, hätte um keinen Preis gewagt, vom ersten Tag seiner neuen Herrlichkeit an wider den erkennbaren Willen des Kanzlers zu handeln. Der Fürst hat beteuert, daß er Holstein halten wollte. Der hat ihm geglaubt und für seinen Sturz die Trias Eulenburg-Hammann-Tschirschky verantwortlich gemacht. Der Liebenberger gab, als er ihn stellen ließ, sein großes Ehrenwort. »Nie! Wie ist es nur möglich, mir Solches zuzutrauen!« Ein Pistolenduell? Das fehlte gerade noch. Trotz dem Grauen Star konnte der Rabbiate ja treffen. Lieber mehrte der Sänger und Held seine Injuriensammlung durch einen Brief, in dem Holstein ihn einen »erbärmlichen Menschen« nannte.

… Am achten Mai 1909 ist Holstein gestorben. Wenn er heute noch lebte, würde er mit Jünglingseifer (und, glaube ich, mit nie gekanntem Staunen) die leisen Versuche beobachten, zwischen Japan und der Türkei Fäden zu knüpfen und den Britenconcern durch die Verbündung zweier Asiatenmächte zu stärken, die Rußland auf beiden Flanken bedrohen. (Zu stärken? Shintoisten und Muhammedaner, die dem ersten Blick nichts gemeinsam zu haben scheinen als Christenhaß und allenfalls sympathie de peau, könnten eines Tages auch der »kleinen Insel«, deren Sonne Rosebery selbst von rötlichen Nebeln verhängt sieht, die Bedingungen eines Vertrages diktiren: denn gegen ihre vereinten Horden wäre Indien nicht lange zu halten. Ein Thema, dem die deutsche Staatsmannschaft nachdenken sollte.) Näher läge der Excellenz freilich eine andere Sorge. Nur jetzt kein brünstiges Trachten nach Russenzärtlichkeit! Solche Gefühle sind aus einer slavischen Demokratie für uns nicht zu holen. Will Nikolai Alexandrowitsch mit Wilhelm plaudern: gut. Wir sind höfliche Leute; haben aber nicht das Bedürfnis, uns an wankende Mauern zu lehnen. Und wären so unklug wie in den dunkelsten Stunden der nachbismarckischen Ära, wenn wir Franz Ferdinand und Aehrenthal kopfscheu machten. Wir haben kein Kinderspektakel hinter uns, sondern einen harten Kampf um das deutsche Ansehen. Soll Das wieder schrumpfen, weil Nikolais Majestät lächelnd zu winken geruht und wir selig auf die eben noch umwölkte Höhe emporstarren? Wir haben optirt, wie wir mußten: für Österreich; was diesmal hieß: für das Germanenrecht auf Selbständigkeit und vernünftige Expansion. Das winzigste Getändel mit Denen, die uns gestern einkreisen und lähmen wollten, kann uns den einzigen Bundesgenossen entfremden. Je länger wir kühl bleiben, desto größer wird in Ost und West die Gier nach Geschäftsabschlüssen mit dem Deutschen Reich. Also keine Aufbauschung des Schärenereignisses. Das gestern Erlebte kann sich morgen wiederholen. Noch ist in Südosteuropa das Drama nicht zu Ende gespielt. Nach der Pause kommen die Akte »Kreta« und »Bulgarien«.

Holstein hat Deutschlands Sieg noch erlebt; nach langem Weh Deutschlands Befreiung als eine kaum noch erhoffte Freude empfunden. Hatte ers nicht immer gesagt? Daß man kein Genie braucht, um mit vier Millionen Soldaten, den besten auf dem Erdrund, anständige und leidlich rentirende Politik zu machen, nur Mut und Nervenruhe? Genau so wäre es in Algesiras gekommen, wenn wir, statt auf die Säusler zu hören, tapfer durchgehalten hätten. Wer konnte denn den Tanz mit uns wagen? England ohne Landheer und mit veraltetem Schiffsgeschütz? Frankreich mit der Ulanenpanik von 1905? Rußland ohne Anleihe und mit der noch gärenden Duma? Auf Einschüchterung wars abgesehen; und der Bluff gelang nur, weil wir weich wurden. Vorbei. Die Scharte ist nun ja halb ausgewetzt. Den Zweiflern bewiesen, was deutscher Wille, noch bei schlechtem Wetter, vermag. Und der Verabschiedete hatte dazu mitgewirkt. In dem harzer Dammhaus, in das er, weil nur für einen Logirgast drin Raum war, so gern einkehrte, schrieb er den langen Brief, der den Kanzler in feierlichem Ton mahnte, diesmal sich nicht von der Stange wegdrängen zu lassen und dem Kaiser, dem Preußenkönig rückhaltlos zu sagen, welcher Einsatz auch für ihn auf dem Spielbrett stehe. Er empfahl Herrn von Kiderlen, der sich nicht nur als Orientspezialisten bewährte. Entlarvte den eitlen Stümper Iswolskij auf allen Schleichwegen. Und hatte endlich wieder Arbeit, die dem Patrioten nicht zur Qual ward. Noch im Krankenbett, bei knapper, dem Magen wenig, dem Gaumen nichts bietender Kost, konferirte und schrieb er eifrig. Der Leib welkte; der Geist schien verjüngt. Erst nach der Entlassung hatte er (»weil ich im Amt nicht Zeit zu unnötigem Ärger hatte«) Bismarcks Buch gelesen. Das half jetzt zu einem stillen Triumph. »Fast alles über Rußland, Österreich und den Balkan Gesagte ist überholt oder war schon damals falsch; und Unsereiner wird wie ein Schuljunge heruntergeputzt, weil er daneben gehauen hat? Daß es nicht unter allen Umständen dumm ist, mit Österreich gegen Rußland zu gehen, sieht heute doch ein Kind. Und was habe ich wegen dieser Überzeugung auszustehen gehabt!« Ein Jammer, daß er just in diesem Lenz die Knochen nicht rühren konnte. Doch die Erinnerung an alte Fehler, wirkliche oder zugeschriebene, konnte man ihm ersparen. Die durfte nun schweigen.

Auch im Herzen des Königs. Der aber rief dem toten Diener kein Wort ins Grab nach; schmückte den Sarg des Royalisten nicht mit dem Kranz, den er jeder Dutzendexcellenz spendet. (Warum? Davon wird zu reden sein, wenn der Blick sich vom Amtsbezirk auf Holsteins außerdienstlichen Wandel und auf die Tragik seines Erlebens wendet.) Doch in diesem Brettergehäus ruhte Einer, der in schwerem Siechtum erst so recht glücklich geworden, erst vom letzten Bett aus an das Ziel des Jugendsehnens gelangt war: im Feuer zu führen und dem Auge, der schnüffelnden Spähsucht doch bei jedem Schritt unerreichbar zu bleiben.

II.

Goethe:

Es gab eine Zeit, wo das Studium der Naturgeschichte noch so weit zurück war, daß man die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck sei nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein Raubvogel.

Eckermann:

Diese Ansicht existirt im Volke auch jetzt noch. Man gebraucht den guten Vogel als das Gleichnis des schändlichsten Undankes. Ich kenne Leute, die sich diese Absurdidäten durchaus nicht ausreden lassen und die daran so fest hängen wie an irgendeinem Artikel ihres christlichen Glaubens.

Goethe:

Die Herren Ornithologen sind wahrscheinlich froh, wenn sie irgendeinen eigentümlichen Vogel nur einigermaßen schicklich untergebracht haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt und sich um die von beschränkten Menschen gemachten Fächer wenig kümmert.

Eckermann:

Der Kuckuck ist ein Vogel für sich, mit so scharf ausgesprochener Individualität wie einer. Wir wissen von ihm, daß er nicht selbst brütet, sondern sein Ei in das Nest irgendeines anderen Vogels legt.

Goethe:

Alles, was ich über ihn gehört habe, gibt mir für diesen merkwürdigen Vogel ein großes Interesse. Er ist eine höchst problematische Natur, ein offenbares Geheimnis, aber trotzdem schwer zu lösen, weil es so offenbar ist. Bei wie vielen Dingen finden wir uns in dem selben Fall!

Vor drei Jahren hatte ich zum ersten Mal ausführlich über Holstein geschrieben (der im Lenz, mit den Brillanten zum Roten Adler, verabschiedet worden war). Ihn der grauen Eminenz verglichen, Herrn François le Clerc du Tremblay, den die Geschichte als Pater Joseph kennt und der im Dunkel fünfzehn Jahre lang die internationale Politik Frankreichs leitete. »Holstein war noch weniger eitel als der Provinzial der Touraine und fühlte sich eigentlich nur in seinem Winkel wohl. Er wollte nicht sichtbar sein, nicht genannt werden. War unglücklich, vom Ärger krank, wenn sein Name einmal in die Presse kam. Ihm genügte die Wirkensmöglichkeit und das Bewußtsein der Macht. Die hatte er. Bene qui latuit bene vixit… War dieses Leben, das sich dem Blick so scheu immer barg, glücklich zu preisen? Herr von Holstein ist ans Ziel seines Wunsches gelangt: er hat geherrscht, in seinem Winkel alle Wonnen der Macht ausgeschlürft und sich manchmal als den Mann des Schicksals gefühlt. Ringsum aber wohl auch den lauernden Haß; und nah dem Herzen brannte es oft wie eine hautlose Stelle. Unter Blinden war dieser Einäugige König. Wenn er heute aber zurückschaut: wo liegen seine Reiche? Deutschlands internationale Politik war nie schlechter, ihr Ertrag nie dürftiger als in den drei Lustren holsteinischer Herrschaft. Als Bismarck ging, war Frankreich, als Holstein ging, Deutschland vereinsamt. Kein Reich also erobert, keine nützlich fortwirkende Tradition geschaffen; und kein warmes Heim in Menschenherzen gefunden«. Einem heldischen Riesen ähnelte der Portraitirte nicht; doch weniger noch einem Knirps. Eine schlackige Persönlichkeit war dargestellt, deren großes und im Großen nicht unedles Wollen nicht vom rechten Schöpfergeist bedient wurde. Der erste Widerhall kam aus der Kanzleiregion. »In einem Punkt ist Ihr Urteil Herrn von Holstein nicht gerecht geworden. Die Untergebenen hat er immer gut behandelt. Hochfahrend war er nie. Er hat Manchem geholfen und hinterläßt bei uns deshalb das beste Andenken.« Sechs Wochen danach kam von Holstein ein Brief, der am achtzehnten August 1906 hier veröffentlicht wurde. Über die Bismarck-Katastrophe wolle er nicht sprechen, ehe der dritte Band der »Gedanken und Erinnerungen« erschienen sei. »Wann Das geschehen wird, ahne ich nicht; falls ich vorher aus dem Leben scheiden sollte, werde ich einer kompetenten Persönlichkeit den Auftrag zurücklassen, das nach Lage der Dinge etwa geeignet oder notwendig Erscheinende aus meinem Nachlaß zu veröffentlichen. Mir ist gesagt worden, daß auch von anderen Seiten auf diesen Zeitpunkt gewartet wird.« (Dabei dachte er zunächst an Waldersees Witwe und an Boetticher; wußte aber nicht, daß dem Fürsten Guido Henckel von Donnersmarck das Bestimmungrecht über den gefürchteten dritten Band zugefallen ist.) Der Hauptzweck des Briefes war wohl, den Verdacht abzuwehren, er habe der internationalen Politik des Deutschen Reiches die Richtung gewiesen und »direkte oder indirekte Beziehungen zu Seiner Majestät gehabt«. Der erkennbarste Zweck. Der Gestürzte, um den sich von den superi damals kaum Jemand kümmerte, ertrug das Bewußtsein der Ohnmacht wohl nicht und wollte beweisen, daß er noch nicht abgetan sei; mit dem Amt nicht jede Wirkensmöglichkeit verloren habe. (»Sie haben mich aus dem Amt gebracht und mir dann doch wieder zu Macht verholfen«: sagte er schmunzelnd später oft zu mir.) Drum kam er, zum ersten Mal ungezwungen, ans Licht. Warum gerade zu mir? Weil ich die Leute, die er für seine schlimmsten Feinde hielt, Philipp Eulenburg und Herrn von Tschirschky, grausam angegriffen und weil er am eigenen Leib erlebt hatte, daß solche Angriffe nicht immer, wie sonst mancher im Holzpapiergelände unternommene, zu belächeln seien. Die höfliche, in allem Historisch-Sachlichen aber auf festem Ankergrund beharrende Antwort, die ich im selben Heft seinem Brief gab, schloß mit den Sätzen: »Nie hat ein Geschichtenträger mich gegen Sie zu hetzen versucht; ich habe Ihnen die Quellen, aus denen ich schöpfte, gezeigt und bin zu jeder noch erwünschten Auskunft bereit. Daß mein Portraitirversuch in manchem Zug unähnlich blieb, ist zu fürchten. Was läge dran? Würde Ihr Bismarckbild meinem gleichen? Taines Bonaparte schien dem Prinzen Jerome eine erbärmliche Karikatur; und das Portrait, das dem Original gefällt, ist nicht immer das ehrlichste. Ich habe mich um gerechtes Urteil bemüht. Doch selbst blindeste Ungerechtigkeit braucht den hellen Sinn Eurer Excellenz nicht zu umwölken. Sie sind jetzt ja frei, keinem durch Zufallsgunst Erhöhten mehr untertan; und können, mit der Frische des Geistes, für die der Stil Ihres Briefes zeugt, Freund und Feind lehren, wie ein aufrechter, des politischen Geschäftes kundiger, von keinem Dickicht zu schreckender Mann seinem Vaterlande dient.«

Vierzehn Tage danach fragte ein gescheiter und nobel empfindender Mann, den ich schon lange hoch schätzte; »Möchten Sie sich nicht mal bei mir mit Holstein aussprechen? Ihm scheint daran zu liegen.« Gern. Der erste Eindruck: ein Professor. Ziemlich groß und hager. Dunkler, unmodischer Jackettanzug und breite Wanderstiefel. Der Kopf, mit dem kahlen Vorderschädel und der weit vorspringenden, ein Bischen zu dicken Nase über dem dichten Weißbart, eines Büchermenschen. So lange er die Brille trug. Wenn er sie abgenommen hatte, kam die Energie und die Feinheit des unbewachsenen Kopfteiles zu deutlicherem Ausdruck. Jedenfalls: kein geschniegelter Diplomat. Und: im neunundsechzigsten Lebensjahr noch kein Greis. Firn wie ein Fünfziger. Wegen Altersschwäche konnten sie Den nicht pensionirt haben. Der arbeitete sicher noch mehr als Kanzler und Staatssekretär zusammen; mehr und rascher. Und marschirte, zur Erholung, dann nach Tempelhof oder Paulsborn. Während der ersten Minuten waren wir Beide etwas steif und genirt. Dann ging er aufs Ganze. »Hier bin ich; sehen Sie mich genau an und beantworten sich dann die Frage, ob ich dem Bild gleiche, das Ihnen in Bismarcks Haus gezeigt worden ist. Ohne Sie hätten meine Feinde mich nicht untergekriegt, aber daß Sie dem größten Mann des Jahrhunderts glaubten, kann Ihnen ja kein vernünftiger Mensch nachtragen.« Damit war unter das Vergangene ein Strich gezogen. Und wir kamen einander schnell nah. Gingen noch am selben heißen Mittag eine Stunde lang durch schattige Parkstraßen. Seitdem hat er mich oft besucht; wenn er nicht krank war, mindestens einmal in jeder Woche. Und in jeder kam wenigstens ein Brief. Er respektirte die Arbeitleistung so sehr, daß er mir nicht erlaubte, ihm den weiten Weg zu sparen »Das fehlte noch! Ich habe auf der Welt nichts mehr zu tun und Sie arbeiten für Zehn. Nein: ich komme an Ihren etwas freieren Tagen, lasse mich ruhig abweisen, wenns Ihnen nicht paßt, und bestehe darauf, daß Sie in der Hausjacke neben mir sitzen. Haben Sie mal gar nichts Besseres vor und sagen sich bei mir an, so bin ich dankbar. Aber Ceremonien gibts für uns nicht.« Dabei ists geblieben. Am achten März kam er zum letzten Mal. Nach ein paar Tropfen milden Rotweins hatte er Magenbeschwerden und einen Krampfhustenfanfall; mußte sich hinlegen, schien aber nach einem Weilchen leidlich erholt und konnte bis an die Haltestelle der Straßenbahn gehen. Einen Wagen? »Danke.« Danach hat er seine Wohnung nicht wieder verlassen. Dort saß ich manchmal noch an seinem Bett.

Wir haben uns im Laufe der Jahre ernsthaft befreundet und er hat mir viele Beweise tiefer Sympathie gegeben. Die Erinnerung darf den Blick nicht blenden. Doch Holstein war anders, als er mir von Weitem gezeigt worden war. Nicht größer: sauberer und aus feinerem Stoff. Bismarcks Psychologie entfleischte den Menschen; nahm ihm die Polyphonie des Empfindens und Trachtens und suchte all sein Handeln aus einer Willensdominante zu erklären. Holstein war ihm der Mann des Dunkels. Einer, der Jeden für einen Kujon hält und denkt: Wenn ich ihm kein Bein stelle, stellt er mir eins. Der Raubvogel, der, weil er nicht selbst brüten kann, seine Eier heimlich in fremde Nester legt. »Eigentlich war er mehr Arnims Schüler als meiner. Nur im Souterrain zu brauchen. Flecke auf der inneren Iris.« Ein sanfter Kritiker war Bismarck nie. Aus Frankfurt hat er 1857 an Gerlach geschrieben: »Die Fähigkeit, Menschen zu bewundern, ist in mir nur mäßig ausgebildet und vielmehr ein Fehler meines Auges, daß es schärfer für Schwächen als für Vorzüge ist.« So blieb er; immer geneigt, die Mängel (auch an sich selbst) stärker zu betonen als die guten Eigenschaften. Wenn man ihn nach einem seiner Mitarbeiter fragte, wurden sicher zuerst die Grenzen der Fähigkeit und des Wollens gezogen; das Lob der Leistung tröpfelte dann vielleicht nach. Zum Entzücken wars, die hohe höfliche Stimme Todesurteile sprechen zu hören. Und den Freund des Ehepaares Lebbin hatten Herbert und Bucher (nach Keudell und Reuß) ihm gründlich verleidet. Holstein war anders, als ihn der Gewaltige sah. Kein Schöpfergeist. Nicht der Mann, das Schicksal einer Nation zu gestalten. Nicht aus einem Guß; in manchem Zug eine problematische Natur (solche Naturen, sagt Goethe, »wird man in Diktionären, Bibliotheken, Nekrologen selten mit Gründlichkeit und Billigkeit dargestellt finden«). Ungemein mißtrauisch und empfindlich: und doch von heiterem Wesensgrundton. Vom Wirbel bis zur Zehe von politischer Leidenschaft erfüllt: und doch von fast kindhafter Freude an den kleinen Alltagsgenüssen des Daseins. Just diese joie de vivre hatte ich ihm nicht zugetraut. Einen finster blickenden Duodezalba zu finden erwartet; »eine langfüßige, schmalleibige Kreuzspinne, die vom Fraß nicht feist wird und recht dünne Fäden zieht, aber desto zähere.« Und fand einen unterm Weißhaar noch Munteren, der das süße Leben, die schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens egmontisch liebte. Stillen Laubwald und bunt bestickte Wiesen; Spazirgänge unter märkischen Kiefern oder auf dürrem Sandfeld hinter den letzten Häusern der Großstadt. Schmackhafte Speise und einen edlen Tropfen. Gespräche mit ernsten Männern und grazilen oder klugen Frauen. Er mußte sich 1906 schon kasteien, ging nur noch in fünf Häuser (wenn er sicher war, keinen Fremden zu treffen) und das Mahl, das ihm im engen Eßzimmerchen aufgetischt wurde, war karger und schlichter servirt als eines Bankbuchhalters. Noch aber gefiel ihm Allerlei. »Jedes Frühjahr das erste Tiergartengrün; oder wenn in Werder die Kirschen blühn; zu Pfingsten Kalmus und Birkenreiser; der alte Moltke, der alte Kaiser.« So (ungefähr) konnte er mit Fontane sprechen. Und auch dem Schwedter fehlte, wie dem Neuruppiner, beinahe völlig der Sinn für Feierlichkeit. »Machthaber aller Arten und Grade, vom Hof, von der Börse, von der Parade, ›Damens‹ mit und ohne Schnitzer, Portiers, Hauswirte, Hausbesitzer: ich konnte mich Allen bequem bequemen, aber feierlich konnt’ ich sie nicht nehmen.« Der Mann bequemen Bequemens war Holstein freilich nicht. Doch Einer, in den das Dichterherz des gascognischen Märkers sich verliebt hätte. Nicht nur klug: auch kultivirt. Nicht nur witzig: auch männlichen Humors voll. Wie herzlich konnte er lachen; wie mußte man über ihn lachen, wenn er sich selbst zum Besten hielt oder Einen, den er erlebt hatte, derb karikirte! »Der hat sich, bis er die reiche Frau fand, furchtbar gequält und davon Schwielen an der Seele bekommen.« »Der hat so viele Lügen über die Lippen gebracht, daß er jetzt aus dem Munde riecht.« Ärgeres. Verlogenheit war ihm ein Gräuel. Von Paul Hatzfeldt (den er unter allen Diplomaten am Meisten liebte und dessen Bild der am Schreibtisch Sitzende stets vorm Auge hatte) sagte er oft: »Der hat nie ein unwahrhaftiges Wort gesprochen.« Und dieser Tugend rühmte er sich selbst; nur dieser. (Die von der Amtspflicht erzwungene Unwahrhaftigkeit fiel in den Bereich der reservatio jacobea; Manchen, der sich ihm intim verbunden wähnte, hat noch der Verabschiedete »wie einen fremden Diplomaten behandelt«.) Von der galanten Seite zeigen ihn schon Hatzfeldts Briefe; und noch dem Greisenden war anzumerken, wie viel und wie gern er mit Damen verkehrt hatte. Er war wohl immer mehr ami des femmes als homme à femmes gewesen; der Archenferge, der die von der Sündflut Bedrohten aufnahm und tröstete. Galant im alten Stil; wie ein Ritter, der sich vor dem Damenrecht beugt und doch nie zum Boudoiraufwärter verzwergt. Auch mit Kindern konnte er reden; lustig und ernst. Das hätte der Holstein bismärckischer Zeichnung nicht vermocht. Das kann nur Einer, dessen Herzensschrein Güte einschließt. Und der Hagestolz war bei den Kindern so beliebt wie bei deren Müttern.

Ein Plaudertalent, wie mans in Norddeutschland kaum noch findet. Er hatte viel erlebt, manches Gute gelesen und setzte die Worte wie ein in Doudans und Schopenhauers Schule Erzogener. Wer so anmutiger Kunst spröd widerstand, wurde von dem Patriotismus des Mannes hingerissen. »Die leidenschaftliche Vaterlandliebe des Bürgers entsteht aus der Gesammtheit der Leidenschaften, die Gott ins Menschenherz gepflanzt hat: Liebe fürs eigene Selbst und Entschlossenheit zur Verteidigung des heiligen Rechtes auf einen Platz an der Sonne, das mit ihm geboren ward; Liebe für die Familie, das engste Vaterland, das nicht über den Herzschlag der Kinder hinausreicht. Vater und Mutter, Weib und Kind, Blut und Sprache, Ehre und Erbteil, Würde und Habe, Meer und Gebirg, Sitte und Gesetz, Himmel und Erde: das Alles umfaßt die Vaterlandliebe. Unter allen edlen Leidenschaften ist sie die mächtigste, weil in ihr alle anderen enthalten sind; und nur von ihr hat die Menschheit übermenschliche Leistung zu hoffen.« Nie habe ich den Rhythmus dieser Sätze Lamartines stärker empfunden als in der Zeit des Verkehres mit Holstein. Der liebte Preußen, liebte das Deutsche Reich wie eine Mutter und wie eine Braut. War bereit, Alles fürs Vaterland hinzugeben. Das ihm mit knausernder Hand doch und mit mürrischer Miene lohnte. Ein Leben lang untergeben; ein Sold, mit dem sich nur knapp auskommen ließ; ruhmlose Arbeit und Tag vor Tag den Hundejungenärger im Amt. Herr über den ganzen Apparat der Reichsdiplomatie, unermüdlich am Werk, bis ins innerste Wesensfältchen reinlich und in seiner stolzen Armut niemals unzufrieden: auf solches Gewächs darf der deutsche Boden sich was einbilden. Das sollten die anderen Länder ihm erst nachmachen. Holstein hat den Trost, den er ersehnte, gefunden: mit seinem Menschenarm das Rad des Weltverhängnisses gedreht und gehemmt. Wäre aber auch als obskurer Geheimrat dem Vaterland mit Haut und Haar verschrieben gewesen; unter keinen Umständen ein gallischer fonctionnaire, der, nach Bonapartes Wort, statt des Stolzes die Eitelkeit in sich nährt, Pfründen und Nebenprofite erlauert und das Staatsamt mehr liebt als den Staat. Er knirschte, wenn er einen Fehler nicht hindern konnte; fühlte Körperschmerz, wenn er Etwas las, das ihm dem Reich schädlich schien; und hätte Einen, der dreist für fremde Interessen eintrat, am Liebsten zu Galgen und Rad verdammt. Sein Instinkt für das dem Reich Notwendige war nicht unfehlbar, wie Bismarcks. Als Der sich, auf dem Weg nach Reval, mit dem preußischen Konsul im lübecker Ratskeller festgekneipt hatte und am nächsten Morgen, mit einem in der Wasserwiege geschaukelten Kater, aus dem gläsernen Bullenauge der Kabine müd auf die See blinzelte, sah er gleich, daß da nicht der richtige Kurs gesteuert werde. Schlüpfte, mit schwindligem Kopf, in die Kleider, kletterte auf Deck und sprach: »Mit Ihrer Navigation stimmts nicht, Kapitän.« »Wieso denn?« »Mit diesem Kurs kommen Sie niemals nach Reval.« »Will ich auch gar nicht, Herr; sondern nach Hull.« Der sanft Bezechte war im Dunkel aufs falsche Schiff geraten; hatte, trotzdem er zum ersten Mal auf See war und den Katzenjammer in allen Gliedern spürte, sofort aber gemerkt, daß mit dieser Steuerung nicht an sein Ziel zu kommen sei. (Keins von den kleinsten Geniewundern, scheint mir.) Holstein hats manchmal zu spät gemerkt; auch nüchtern, von keiner Passion berauscht und in oft durchsichtetem Fahrwasser. Doch das Ziel, das ihn lohnend dünkte, stets mit inbrünstiger Seele gesucht. Wie ers erreichte? Auf jeder gangbaren Straße; oder auf Umwegen durch stinkende Winkelgäßchen. Cum finis est licitus, etiam media sunt licita, meinte er (der Busenbaum und Pascal gewiß nicht kannte); der patriotische Zweck heiligt jedes Mittel. Otto Bismarck als Reichsfeind verschreien, Herbert Bismarck auf englischem Preßpapier anschwärzen, Vater und Sohn mit Spionen umstellen: was das Vaterland heischt, muß geschehen. Die haben ja auch nie Einen geschont; und aus den Provinzialbriefen winkt die tröstliche Kunde: »Nous corrigeons le vice du moyen par la pureté de la fin.« Alle Politiker, die was erwirken wollten, haben so gedacht und gehandelt; vor und nach Macchiavelli. Zum Verbrechen wird eine schlimme Tat erst, wenn festgestellt ist, daß sie nicht von der Notwendigkeit erzwungen war: dozirte Napoleon, da man ihn mit dem Schatten des Herzogs von Enghien zu schrecken versuchte. Und Fritz von Preußen war nicht wählerischer als Fritz von Holstein. »Wenns nicht anders geht, müssen wir eben Schelme sein«: sprach der große Friedrich.

Wie eine Braut und wie eine Mutter hat Holstein die Heimat geliebt. Die kennt der Bräutigam, der Sohn selten bis ins Innerste; sieht sie aus liebendem Auge oft schöner, aus ängstlichem oft wohl auch schwächer, als sie ist; ahnt nicht, welche Schutz- und Trutzmöglichkeit sie in sich trägt. So wars hier. »Von innerer Politik verstehe ich gar nichts«. Das sprach der Wirkliche Geheime Rat in bescheidener Ruhe aus. Als ichs zum ersten Mal hörte, dachte ich: er übertreibt; meint nur, daß er sich auf diesem Gebiet nicht ganz so sicher fühle wie im Zunftbereich der Diplomatie. Nein: er wußte wirklich nichts davon. Nichts von der Verwaltung, den Gesetzen, Finanzen, Klasseninteressen, Parteien. Hatte sich nur um die Wehrmacht, Armee und Marine, gekümmert und sah nur in den Fraktionen, die dafür nicht das Nötige bewilligten, Feinde des Reiches (und, versteht sich, in Polen, Welfen, Dänen, die ihm Auslandsvorposten auf deutscher Erde schienen und denen er deshalb nicht die kleinste Lebenserleichterung gönnte). Nach der Reichstagsauflösung vom dreizehnten Dezember 1906 kam er mit der Frage: »Ist diese Wendung gegen das Centrum nun ein guter oder schlechter Gedanke des armen Bülow?« (So nannte er ihn oft; fand des Kanzlers Lage höchst unbequem und war eifernd bemüht, ihn vor allzu hartem Angriff zu wahren.) War bald überzeugt, daß der von keinem Genius geleitete Freund im besten Fall siegen werde wie Pyrrhus in Apulien über die Römer; auf Askulum müsse Beneventum folgen und Herr Erzberger, trotz den Triumphgesängen des Evangelischen Bundes, rasch zum Curius Dentatus erstarken. Auch über die Möglichkeit einer Reichsfinanzreform hatte er keine Meinung; bekannte sich nur, »in einem gepfefferten Brief«, dem Kanzler als Gegner der Nachlaßsteuer. Von der Entwickelung deutscher Wirtschaft, ihrer Kraft, Wertzeugerleistung, Relation zu der anderer Großstaaten war kaum ein Dämmern ihm ins Bewußtsein gedrungen. Spezialist fürs Auswärtige. Wohl der Letzte seiner Art; auch wer ihn bewundert, muß es wünschen. Wie kann Einem, der Bau und Leben der Staatskörper nicht bis in die tiefste Wurzelfaser kennt, im internationalen Geschäft Dauerbares gelingen? Der nicht sieht, daß in Großbritanien das stürmische Sehnen nach ausreichendem Schutz und Absatz der Produktion die papiernen Parteiunterschiede schon morgen vielleicht wegwirbeln kann? Daß in Rußland nicht für Freiheit und Menschenrecht, sondern gegen den rückständigen Kommunismus der Wirtschaft gestritten wird? Daß Frankreich, das alte Experimentirland der Menschheitgeschichte, der Wahl zwischen Anarcho-Sozialismus und Diktatur nicht lange mehr auszuweichen vermag? Alle Balkanpolitik ökonomisch, von Wien, Bukarest, Sofia, Konstantinopel aus, determinirt sein muß? Die Vereinigten Staaten sich für die Industrieausfuhr rüsten und Panzerschiffe bauen, um auf unbefestigten Märkten Abnahme zu erzwingen? Die Zeit der Hof- und Kanzleidiplomatie ist unwiederbringlich dahin. Bismarck war von Genies Gnaden Allumfasser. Holstein, den man nicht einen Bureaukraten schelten darf, hat zu spät erkannt, um wie viel stärker das geliebte Vaterland war, als ers geträumt hatte.

Spezialist. Auch da nicht im rechten Sinn schöpferisch. Ganz ungemein begabt aber für die Ausnützung fremder Fehler, die Ausmünzung fremder Gedanken. Blitzschnell errechnete er dann jede Möglichkeit, hatte ein Bäckerdutzend historischer Beispiele an der Hand und fegte mit dem Hauch seines beredten Mundes jeden Zweifel hinweg. Als er im vorigen Hochsommer hörte, König Eduard habe in Ischl Franz Joseph ersucht, in den Britenconcern einzutreten und den Verbündeten in Berlin zur Verständigung über den Flottenbau aufzufordern, und habe auf beide Bitten eine freundlich, doch bestimmt ablehnende Antwort bekommen, jauchzte sein altes Herz. Nun mußte Alles sich, Alles wenden. Der alte Kaiser hatte gesagt: »Da habe ich mir einen Feind gemacht; aber ich konnte nicht anders.« Eduard ist ärgerlich abgereist und mit Clemenceau dann in fast kurwidrigen Zank geraten. »Wenn wir jetzt nicht wieder weich werden, verfehlt die Einkreisung ihren Zweck.« Tag und Nacht besann er, wie hier zu ermuntern, dort zu schwichtigen sei. Und war mit seinem Plan im Gröbsten fertig, als der bosnische Lärm anfing. Nachher hat er die Detailarbeit des Kanzlers sehr gelobt. »Er hat wirklich ein paar hübsche Einfälle gehabt und ich wüßte nicht, wers heute besser machen könnte.« Sah den Himmel beinahe offen. Nur: die Flotte! Die war die bitterste Sorge seiner letzten Lebensjahre. So lange wir in dem jetzt beliebten Tempo weiterbauen, gehts weder mit der internationalen Politik noch mit den Finanzen vorwärts. Wir brauchen nur Unterseebote, Minen, kleine Kreuzer, Torpedos, Zerstörer; Technikerwaffen und Küstenschutz. Wir müssen uns mit England verständigen, in würdiger Großmachtruhe natürlich, und dürfen nicht warten, bis die Sache vor die haager Instanz gebracht ist, wo wir majorisirt oder mindestens ins Unrecht gesetzt werden. (Was hätte er gesagt, wenn das Echo der Preßkonferenzreden noch in sein Ohr gelangt wäre? Balfour und Asquith, Roberts und Haldane, Lansdowne und Grey: höchste Zeit zu stolzem Entschluß. Wenn er gehört hätte, daß nun auch Österreich und Italien zu hastigem Bau teurer Dreadnoughts gezwungen werden? »Das beste Mittel, ihnen den Dreibund zu verekeln. Noch eine Liebäugelei mit den Russen, deren Gefühle Lamsdorff, Cassini, Iswolskij uns doch verraten haben, am Ende gar ein Versprechen für Persien: und wir sind wieder, wo wir nach Algesiras waren.«) Wer ihm vom Flottenverein sprach, wurde mit einem zornig dreinschmetternden Marsch heimgeschickt. Der Marinesekretär Tirpitz war ihm ein Unheilbringer. Und wo in Presse und Parlament für Schlachtschiffe agitirt wurde, witterte er Panzerplattenlieferanten, Werftaktionäre und andere Profitjäger dahinter. So war er. Traute dem anders Denkenden das gewissenloseste Handeln zu. Bis an die Grenze des Landesverrates; und darüber hinaus. Jeder Artikel, der ihm mißfiel, war das Werk tückischer Wichte, die meist den Schreiber nur vorgeschickt hatten und hinter dem Papierwall die Wirkung abwarteten. Was gegen ihn in die Zeitungen glissirt wurde, kam ausnahmelos von Hammann. Der beherrschte das Holzpapier des Erdballs. Hic et ubique. Auch wenn alle Indizien dagegen zeugten. Er ließ sichs nicht ausreden. Und lernte doch nie begreifen, wie Einer so infam sein könne, auch ihm häßliche Motive anzusinnen.

»Gewissen Geistern muß man ihre Idiotismen lassen«, spricht der frohnatürliche Sohn der Frau Rat. Der Qualm der Schwarzen Küche setzt sich nicht nur in die Kleider. Selbst Bismarcks majestätischer Menschenverstand war solchen Zwangsvorstellungen zugänglich. Ihm hieß der Fliegengott, Verderber, Lügner Holstein (manchmal auch Boetticher); dem Wirklichen Geheimen hieß er in allen Gauen des Reiches Hammann. Alles wiederholt sich nur im Leben; mir wars oft nicht leicht, bei dieser Wiederholung ernst zu bleiben; auf der Mundharmonika ruhig das Stück zu hören, das die Orgel ins Ohr gedröhnt hatte. Für den Humor der Sache hatte Holstein keinen Sinn. Half sich mit spitzem Witz aus der Verlegenheit. »Sie haben eine sehr angenehme Art, mir anzudeuten, daß ich allerwenigstens zur Hälfte verrückt bin. Schön. Mein Spinat wird ohnehin kalt, wenn ich mich nicht spute. Aber daß Sie mich für eigensinnig ausgegeben haben, ist stark; im Vergleich mit Ihnen bin ich ja ein nachgiebiger Backfisch. Na, eines Tages werden Sie mir sämmtliche Injurien abbitten und einsehen, daß ich noch meine fünf Sinne hatte. Glauben Sie denn, daß die Schimpferei auf Herrn Harden ohne den Segen vom Preßbureau solchen Umfang angenommen hätte? Das sind zu neun Zehnteln doch Leute, die Hammann einfach kommen läßt und mores lehrt, wenn ihm was von ihnen nicht gefällt.« Der Groll war verraucht und er konnte wieder lachen. Am nächsten Tag kam dann sicher ein Brief. »Sie glauben doch nicht etwa, daß ich Sie aufhetzen will? Damit käme ich bei Ihnen an den Rechten. Meine Chefs habe ich von Zeit zu Zeit doch einmal überzeugt; bei Ihnen nützt nichts. Übrigens möchte ich auch gar nicht, daß Sie auf solcher Hasenjagd Ihre Zeit verlieren. Sie haben zu Ihren Feinden noch meine, ich habe zu meinen noch Ihre bekommen. Ich kann es aushalten und für Sie ist mir nicht bang. Aber …« Ceterum censeo. Dennoch glaube ich nicht, daß es ihn gefreut hätte, den gehaßten Preßdezernenten als einen des Meineides (in einer von den Eroten in heißer Stunde geweihten Sache) Angeschuldigten vor dem Schwurgericht zu sehen. Obwohl er der sanften Stimme des Mitleids nur selten lauschte.

Zu zorniger Beschwerde hatte er freilich Grund. Längst aus dem Amt, ohne die ihm unersetzliche Akteneinsicht, mit rüstigem Geist zu trägem Müßiggang verurteilt: und doch der Türkenkopf auf der Schießbudenstange, nach dem jeder Bummelschütze zielt. »Herr von Holstein ist an Allem schuld. Will Krieg gegen Frankreich. Läßt uns mit England nicht in Ordnung kommen. Hat den stillen Philosophen Tschirschky rachsüchtig weggebissen. Den Feldzug gegen Eulenburg und Genossen angezettelt. Macht noch immer Alles. Arbeitet heimlich halbe Tage lang in der Wilhelmstraße. Bombardirt den Kanzler mit Briefen. Und zweimal war Bülow in diesem Monat bei ihm.« Der dickste Schwaden stieg aus den Blättern auf, deren Leiter mit Bettlerdevotion um seine Mitarbeit geworben und, statt der ergierten »Enthüllungen«, unzweideutige Absagen bekommen hatten (vielleicht werden die Briefe noch veröffentlicht). Das nahm er hin. Noch leichteren Herzens, was die Feinde Deutschlands gegen ihn sagten; er hätte von sich selbst schlecht gedacht, wenn er von Tardieu und kleineren Franzengeistern gelobt worden wäre. Ein einziges Mal konnte ich ihn zu einer Abwehr der ärgsten Entstellung bringen; er diktirte dem klugen Vertreter des »Matin« sein Glaubensbekenntnis und hat sich der Wirkung lange gefreut. Eher kränkte ihn, daß er in England als schlechter Kerl hingestellt wurde; in Berlin war er anglophil gescholten worden und unverdrossen doch bei dem mühsamen Versuch geblieben, die anglo-deutsche Zwietracht auszujäten. Eulenburg? Auch da war er ohne Schuld und Fehl. Den Fürsten verachtete er, hatte ihm seine »Erbärmlichkeit« von Mann zu Mann vorgehalten und sprach offen überall aus, daß er in der Beseitigung dieses Schädlings den besten Dienst sehe, der dem Reich und dem Kaiser geleistet werden könne. Aber der Kampf hatte längst ja (seit 1893) begonnen, als Holstein mich kennen lernte; er konnte mir nichts Neues sagen, hatte nicht den winzigsten Beweis und sah mein Material erst, als ich, nach dem münchener Prozeß, durch die Zeugenpflicht gezwungen war, es dem Untersuchungrichter vorzulegen. Nicht einmal den Namen Lecomte hat er mir genannt (trotzdem er damit den Wunsch eines ihm Wichtigen erfüllt hätte); und als ich ihn nannte, wurde er bleich: weil er wußte, daß nun kein Pardon mehr gegeben werde. In der schwersten Zeit ist er wie ein älterer Freund an meiner Seite geblieben. An der Strategie und Taktik des Kampfes aber hat er nicht mehr mitgewirkt als irgendein Mann auf der Straße. In vielen Zeitungen stand es anders. Da war ich das Werkzeug seiner Rache. »Das soll Sie gegen mich aufbringen«, sagte er. »Man hofft, daß Sie sich mit Ihrem gefährlichen Temperament gegen die Verdächtigung Ihrer Selbständigkeit wehren und von mir lossagen werden. Dann wird auf mich eingehauen. Sie, lieber Freund, müssen tun, was Ihnen das taktisch Richtige scheint. Mir macht das Geschrei nichts. Mich betrübt nur, daß ich Ihnen nicht helfen kann. Meine Haut juckt jedesmal, wenn ich als angeblicher Freund des münchener und wiener Phili angeprangert werde. Als Ihr Parteigänger: meinetwegen jeden Tag dreimal. Wenn man aber, wie Sie, ganz allein gegen unnennbare Mächte kämpft, die vier Reichskanzlern widerstanden haben, ists nicht angenehm, sich Konsorten andichten zu lassen.« Bis ins Ohr des Kaisers war die Lüge gedrungen, Holstein habe mir die Waffen geliefert und Amtsgeheimnisse ausgeplaudert. Der zuverlässige Monarchist, der seinen Kaiser niemals, auch nicht im Märzsturm von 1890, im Stich gelassen, der kaiserlichen Ingerenz nur engere Grenzen gewünscht hatte, galt als Verräter. Als tot, in der Stille eingesargt, unrühmlich bestattet. Ehe er starb.

Das Erlebnis dieser Prozeßjahre hat die Kraft des Siebenzigers gebrochen. »Sie werden sich erholen; ich nicht mehr.« Unter Qualen verlernte er den Glauben, der so lange fest wie ein Fels gewesen war. Den Glauben an die Rechtspflege, den Mannesmut hoher und höchster Staatsbeamten, die ehrliche Noblesse seiner Konservativen Partei; in den finstersten Stunden fast den Glauben an das alte Preußen. »Hat der Süden wirklich eine bessere Justiz? Dann müssen wir uns schämen.« Er vergrämte sich; fragte, wofür er vierzig Jahre lang gefochten habe; wurde morsch und anfällig. In den Beinen fühlte ers zuerst. Krampfadern; allerlei schmerzhafte Symptome, die Greisenbrand fürchten ließen. Auf weite Wanderungen hieß es verzichten. Im Zimmer sitzen oder liegen, Umschläge machen, die Decke um die Beine wickeln; schon eine Straßenbahnfahrt rächte sich meist. Nur ein halbes Leben noch. Dann wurde der Magen rebellisch. Behielt nur Brei und die leichtesten Speisen. Schied Blut aus. Geschwüre? Der Leib magerte ab; die Hände schrumpften und wurden runzelig. Das sah nach Magenkrebs aus. Herr Dr. Grünfeld, sein treuer Arzt, tröstete ihn: solche Magenblutungen seien bei älteren Leuten mit verkalkten Adern nicht so selten und keine ernste Gefahr. Holstein lebte gern; und wollte drum hoffen. Gespräche über das Staatsgeschäft waren im Krankenarrest beinahe seine einzige Freude. Und dem Kanzler wurde in der Presse und am Hof genau nachgerechnet, wie oft er nach dem Leidenden sah. Waren die Pausen zu kurz: »Holstein macht wieder Alles.« Was die Psyche über den Körper vermag, lehrte die Orientkrisis die Freunde des alten Herrn erkennen. Munterer als je war er; auch wenn er nicht an die Luft durfte. Hatte endlich wieder Arbeit und konnte mit sachverständigem Rat wirken. Nicht nur durch unverbindliche Briefe an Botschafter oder Dezernenten, die ihm, halb aus Höflichkeit, noch Manches mitgeteilt hatten. Jetzt wurde er gefragt und hatte zu antworten. Und gerade die Sache, die er mitberiet, ging gut. Unter der Abendsonne schien er aufzublühen. Der Kaiser hatte die Zeichen der Zeit erkannt und die Hoffnung, das Deutsche Reich einschüchtern zu können, war gewichen. Ein Jahr doppelter Ernte. Auch der letzte Bluff Iswolskijs verpufft; Rußland gibt nach. So lange hatte der Kraftrest gereicht. Nun wird der Herzschlag matter, Husten und Atemnot schlimmer; muß mit Stärkungmitteln nachgeholfen werden. Im schmalen Bett schien er fleischlos. Und lag geduldig, nahm das Tränklein, den Brei und sprach über die Lebensmöglichkeiten des Vaterlandes. Als der Kanzler, nach langer Pause (im Amt und im Reichstag war gewiß viel zu tun), für den Tag vor seiner Abreise nach Venedig wieder angemeldet war, ließ der Kranke sich, nach einem schweren Anfall, Kampher einspritzen und sprach dann wohl eine Stunde zu dem aufhorchenden Freunde, der sein höchster Chef geworden war. »Es war so Etwas wie mein politisches Testament. Als das Nötigste heraus war, schloß ich: ›Nun bin ich fertig.‹ Aber ich glaube: ich bin für immer fertig.« Er hat den Kanzler nicht wiedergesehen.

Hat auch sein letztes Ei in ein fremdes Nest gelegt.

Wenn des Liedes Stimmen schweigen

Von dem überwundnen Mann,

So will ich für Hektorn zeugen

(Hub der Sohn des Tydeus an),

Der für seine Hausaltäre

Kämpfend sank, ein Schirm und Hort.

Auch in Feindes Munde fort

Lebt ihm seines Namens Ehre.

… Ein Patriot, der beim Siegesfest nicht noch am Tag tiefster Trauer vergessen sein darf. »Die Menschen«, seufzt Goethe, »kennen einander nicht leicht, selbst mit dem besten Willen und Vorsatz; nun tritt noch der böse Wille hinzu, der Alles entstellt«. Dieser ward nicht erkannt. In ihm war mehr Güte, war höhere Achtung des Menschenwertes, als der beste Wille Ferner ihm zutrauen mochte. Die Summe seiner Fehler war nicht klein. Und die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, die er so oft als die edelste pries, würde schmählich verletzt, wenn man diese Summe feig zu kleinern trachtete. Die Fehler Eines, dem ein ins Tragoedienreich hineinlangendes Erleben beschieden war. Eines, der nie allein, nach dem Inbegriff seines Meinens und Wollens, entscheiden durfte; immer erst mindestens einen Anderen (oft genug wohl von geringerer Intelligenz und Erfahrung) überzeugen mußte. Der zwischen seinem Meister und seinem Kaiser wählen sollte und den dieses Schicksal zermalmte, da es endlich ihn doch auf ein Gipfelchen hob; als den Legendenjudas des deutschen Heilands den Mißtrauischsten, unter Mißtrauen Fröstelnden fortleben ließ. Der nie die Last, nie die Lust voller Verantwortlichkeit kannte und drum tollkühn manchmal mehr wagte als ein sichtbar Wirkender, der zur Rechenschaft gezogen werden kann. Ein sensitiver Draufgänger, dem im Getümmel die Nerven versagten. Der selbst den vorher übersehenen Vorgesetzten dann schalt, weil er ihn im Drang schutzlos lasse. Ein altpreußischer Royalist, dem die Standarte des Herrn das Palladion war, der auch seinem König sich am Ende des Lebens aber widerwillig entfremdete und über dem Grab heiliger Liebe zu lächeln, gar zu lachen versuchte. Ein scharfsinniger, tapferer, im Fleiß nie erlahmender, uneigennütziger Mann, der sich von Keinem was schenken ließ, die Spende, die er den Ärmeren reichlich zumaß, sich vom Mund absparte, nie sich in Hochmut reckte, auf dem Nachbargebiet jede Leistung bescheiden anerkannte, streng auf Sauberkeit hielt; und im Zorn die Wesensfugen sprengen zu wollen schien, wenn ihn, der Jahrzehnte hindurch von früh bis spät in der Schwarzen Küche gewirtschaftet hatte, Einer aus Unrat witternden Nüstern beroch. Einer problematischen Natur in manchem Zug ähnlich; keiner Lage völlig gewachsen und von keiner ganz befriedigt. Vorgesetzter will, Untergebener kann er nicht sein. Unter hitzendem Licht würde der Brand auf dem hautlosen Brustfleck unerträglich. Der Untergebene wird durch Mangel an Duckmäuserfügsamkeit jedem Chef einmal lästig. Fritz von Holstein ist geschmäht worden, weil er in schlaffer Friedenszeit an das letzte Mittel der Völker, der Fürsten zu mahnen wagte; weil ihm, wie seinem Liebling Schiller, die Nation nichtswürdig schien, die an ihre Ehre nicht freudig ihr Alles setzt. Er hat an Deutschland geglaubt und, als er, zum ersten und zum letzten Mal, dem Blick unerreichbar, im Feuer führte, mit diesem frommen Glauben gesiegt. Hell klang da aus der Greisenkehle der Ruf durchs Land.

Ists nicht vielleicht gut für ihn, daß er nach diesem Sonnentag starb? Den neuen Winter nicht mehr sah? Er wäre dem bösen Vorsatz wieder der lauernde Raubvogel geworden. Und die Spätsommerfrucht seines Hirnes hätte, wie so oft die Frühlingsfrüchte, ein fremder Wille bebrütet.

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