Kaukasische Reisen

Während der Periode meiner politischen Thätigkeit blieb ich eifrig bemüht, das von mir ins Leben gerufene große Geschäft weiter zu entwickeln. Es war inzwischen ein Wechsel in der Leitung der preußischen Staatstelegraphen eingetreten, der mich und meine Firma wieder in nähere Verbindung mit derselben gebracht hatte. An Stelle des Regierungsrathes Nottebohm, der mir nicht verzeihen konnte, daß ich den gänzlichen Fehlschlag des preußischen Systems der unterirdischen Leitungen in meiner oben genannten Brochüre auf seine wirkliche Ursache, die mangelhafte Organisation der technischen Verwaltung, zurückgeführt hatte, war ein höchst intelligenter Ingenieurofficier, der Oberst von Chauvin, zum Direktor der preußischen Staatstelegraphen ernannt. Dieser stellte die seit vielen Jahren gänzlich abgebrochenen Beziehungen zu meiner Firma wieder her und benutzte ihre großen Erfahrungen auf telegraphischem Gebiete, um die ziemlich stehengebliebenen Betriebseinrichtungen der Staatstelegraphie zu verbessern. Da gleichzeitig auch in Rußland mein alter Freund und Gönner, der Oberst von Lüders, nach langer Krankheit wieder leitender Direktor der Staatstelegraphen war, so faßte ich den kühnen Plan, eine telegraphische Speciallinie zwischen England und Indien durch Preußen, Rußland und Persien, die Indo-Europäische Linie, ins Leben zu rufen.

Dieser Plan war durch die Versuche Englands, eine Linie durch das mittelländische Meer, Kleinasien und Persien herzustellen, an deren Ausführung sich mein Bruder Wilhelm lebhaft betheiligt hatte, schon gut vorbereitet. Die englische Regierung hatte im Jahre 1862 ein Kabel von Bushire in Persien nach Kurrachee in Indien gelegt, bei dessen Legung leider unser Elektriker Dr. Esselbach den Tod gefunden hatte. Unter englischer Leitung wurde auch die an das Kabel sich anschließende Landlinie durch Kleinasien und Persien von der türkischen und persischen Regierung hergestellt, und so eine telegraphische Ueberlandlinie nach Indien factisch ins Dasein gerufen. Doch stellte sich bald die Unmöglichkeit heraus, auf diesem Wege die Aufgabe wirklich zu lösen. Die Linie war gewöhnlich unterbrochen, und wenn sie wirklich auch einmal vollständig in Ordnung war, so brauchten die Depeschen oft Wochen, um sie ganz zu durchlaufen, und kamen schließlich in einem durchaus unverständlichen, verstümmelten Zustande an ihren Bestimmungsort. Theoretisch existirte daneben noch eine zweite Ueberlandverbindung durch die preußischen und russischen Regierungslinien, doch erwiesen sich diese zur Beförderung der Regierungs- und Handelsdepeschen in englischer Sprache als fast ebenso unbrauchbar wie die Speciallinie durch die Türkei.

Nach diesen Erfahrungen stand es fest, daß das große Bedürfniß einer schnellen und sicheren telegraphischen Correspondenz zwischen England und Indien nur durch eine einheitlich angelegte und verwaltete Linie durch Preußen, Rußland und Persien befriedigt werden könnte. Nachdem ich die Ausführbarkeit einer solchen Linie mit meinen Brüdern Wilhelm und Karl reiflich erwogen hatte, nachdem ferner Wilhelm durch seinen Freund, Oberst Bateman-Champain, den Erbauer der Landlinie durch Kleinasien, die wohlwollende Unterstützung der englischen Regierung zugesichert erhalten und Oberst von Chauvin die gleiche Zusicherung für die preußische Regierung abgegeben hatte, nahmen unsere drei Firmen zu Berlin, London und Petersburg die Durchführung des Planes in die Hand.

Die größte Schwierigkeit lag darin, die russische Regierung zu bestimmen, einer fremden Gesellschaft die Erlaubniß zu geben, eine eigene Telegraphenlinie durch Rußland zu erbauen und zu betreiben. Es gelang dies auch erst nach langwierigen Verhandlungen, bei denen uns sehr zu statten kam, daß wir wegen unserer bisherigen Leistungen sowohl als Techniker wie als zuverlässige Unternehmer großes Ansehen in Rußland genossen. Die schließlich ertheilte Concession räumte uns das Recht ein, eine Doppelleitung von der preußischen Grenze über Kiew, Odessa, Kertsch, von dort zum Theil unterseeisch nach Suchum-Kalé an der kaukasischen Küste, und weiter über Tiflis bis zur persischen Grenze anzulegen und zu betreiben. Preußen verpflichtete sich, selbst eine Doppelleitung von der polnischen Grenze über Berlin nach Emden zu erbauen und diese Linie durch die von uns zu bildende Gesellschaft betreiben zu lassen. Persien, wohin wir außer unserem Bruder Walter einen jüngeren Verwandten, den jetzigen ersten Direktor der Deutschen Bank in Berlin, damaligen Assessor Georg Siemens, zum Abschlusse eines Vertrages delegirten, gab uns eine ähnliche Concession wie Rußland zur Erbauung einer eigenen Linie von der russischen Grenze bis Teheran. Die Vollendung der theilweise schon hergestellten Linie von Teheran bis Indien übernahm die englische Regierung.

Wir erhielten die Erlaubniß, die uns ertheilten Concessionen einer in England domicitirten Gesellschaft unter der Bedingung zu übertragen, daß unseren Firmen der Bau und die Unterhaltung der ganzen Linie in Auftrag gegeben würde, und der ferneren, daß wir stets mit einem Fünftel des Anlagekapitals an der Gesellschaft betheiligt blieben. Wir bildeten darauf eine englisch-deutsche Gesellschaft, die ihren Sitz in London hatte, und müssen es als ein ehrendes Zeichen des Ansehens anerkennen, in welchem unsere Firmen beim Publikum bereits standen, daß das erforderliche, beträchtliche Kapital ohne Vermittelung von Bankhäusern auf unsere directe Aufforderung zur Betheiligung in London und Berlin gezeichnet wurde. Ich will hier erwähnen, daß die Indo-Europäische Linie noch heute unverändert fortbesteht und trotz gefährlicher Concurrenz durch eine neue, von englischen Unternehmern erbaute Submarinlinie, die durch das mittelländische und rothe Meer führt, regelmäßig eine ansehnliche Dividende an ihre Aktionäre zahlt.

Der Bau der Linie wurde unter unseren Firmen so vertheilt, daß das Berliner Geschäft gemeinschaftlich mit dem Petersburger die Leitung des Baues der Landlinien übernahm, während das Londoner Geschäft mit Herstellung der Submarinlinie im schwarzen Meere und Anlieferung der Materialien zum Linienbau beauftragt wurde. Der Berliner Firma wurde außerdem noch die Construction und Anfertigung der nöthigen Telegraphenapparate überlassen. Trotz großer und zum Theil unerwarteter Hindernisse wurde der Bau der Linie Ende 1869 vollendet, wenn auch leider die schon erwähnte, durch ein Erdbeben bewirkte Zerstörung des Kabels längs der kaukasischen Küste und die zeitraubende Ersetzung desselben durch eine Landleitung den regelrechten Telegraphendienst auf der ganzen Linie erst im folgenden Jahre ermöglichte.

Nach dem von uns aufgestellten Programm des Betriebes sollten die Depeschen von London bis Kalkutta ohne irgend welche Handarbeit auf den Zwischenstationen, also auf rein mechanische Weise, befördert werden, um Zeitverlust und Verstümmelung bei der Weiterbeförderung durch Telegraphisten auszuschließen. Ich construirte zu diesem Zwecke für die Indo-Europäische Linie ein besonderes Apparatsystem, welches diese Aufgabe auch vollständig gelöst hat. Es erregte berechtigtes Aufsehen in England, als bei den ersten officiellen Versuchen London und Kalkutta durch eine Linie von über zehntausend Kilometer Länge so schnell und sicher mit einander sprachen wie zwei benachbarte englische Telegraphenstationen.

Eine unerwartete Schwierigkeit bereitete der Umstand, daß die beiden Leitungen, namentlich bei trockenem Wetter, sich gegenseitig störten. Es zeigte sich dies zuerst in Persien, wo der Oberingenieur der Berliner Firma, Herr Frischen, mit der Einrichtung des Telegraphendienstes beschäftigt war. Die beiden Leitungen waren bei dem dort herrschenden, sehr trockenen Wetter ganz vollkommen von einander und von der Erde isolirt, und trotzdem erhielt man auf beiden Apparaten der entfernten Station richtige Morseschrift, wenn auf einer der beiden Linien telegraphirt wurde. Da der Apparat der zweiten Linie auf der gebenden Station verkehrte Schrift erzeugte, so mußte die Ursache der Störungen in der elektrostatischen Ladung der Nebenlinie liegen, denn die dynamisch in ihr inducirten Ströme hätten an beiden Enden der zweiten Linie verkehrte Schrift geben müssen. Es wurde dies durch eine Reihe von Experimenten erwiesen, die Herr Frischen auf meine telegraphische Anweisung in Teheran anstellte. Nachdem die Ursache der Störung erkannt war, ließ sich dieselbe durch geeignete Vorkehrungen unschädlich machen.

Ich will bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß diese doppelte Ursache der in benachbarten Leitungen entstehenden, inducirten Ströme zu vielen, bisher nicht recht verständlichen Störungen im Telephonbetriebe Veranlassung giebt und noch eingehenden Studiums bedarf. Ich habe später einmal Gelegenheit gehabt, bei einer von meiner Firma ausgeführten Legung eines siebenadrigen Landtelegraphenkabels einen lehrreichen, auf diese Erscheinung bezüglichen Versuch anzustellen. Mit Erlaubniß der Reichstelegraphenverwaltung wurde einer der sieben, mit Guttapercha isolirten Leiter des Kabels von Darmstadt nach Straßburg mit einer Stanniolhülle umkleidet, während die übrigen sechs Leiter unbekleidet blieben. Es stellte sich bei den nach der Legung ausgeführten Versuchen heraus, daß die Stanniolhülle die elektrostatische Ladung zwischen dem umkleideten und den übrigen Drähten ganz beseitigte, während die elektrodynamische Induction zwischen ihnen ganz unverändert geblieben war. Leider konnte der Versuch mit vollständig isolirter Stanniolhülle nicht angestellt werden, da eine solche Isolation nicht zu er reichen war.

Schon vor Ausführung der Indo-Europäischen Linie war unser Petersburger Geschäft von der russischen Regierung mit dem Bau und der Remonte mehrerer Telegraphenlinien im kaukasischen Rußland beauftragt worden und hatte aus diesem Grunde eine Filiale in Tiflis errichtet, deren Leitung meinem Bruder Walter übertragen wurde. Als sich diesem nach Vollendung der Regierungsbauten später keine hinreichende Beschäftigung mehr bot, brachte er uns im Jahre 1864 den Ankauf einer reichen Kupfermine des Kaukasus, zu Kedabeg bei Elisabethpol, in Vorschlag. Da der Bergwerksbetrieb in den Rahmen der geschäftlichen Thätigkeit unserer Firmen nicht hineinpaßte, gaben Bruder Karl und ich ihm privatim das zum Ankauf und Betriebe erforderliche, ziemlich niedrig veranschlagte Kapital.

Das Kupferbergwerk Kedabeg ist uralt; es wird sogar behauptet, daß es eins der ältesten Bergwerke sei, aus denen bereits in prähistorischer Zeit Kupfer gewonnen wurde. Dafür spricht schon seine Lage in der Nähe des großen Goktscha-Sees und des von dem westlichen Ufer desselben aufsteigenden Berges Ararat, eine Gegend, die ja vielfach als die Wiege der Menschheit betrachtet wird; eine Sage erzählt sogar, das schöne Thal des Schamchorflusses, welches zum Waldreviere des Bergwerks gehört, sei der Ort des biblischen Paradieses gewesen. Jedenfalls zeugt für das Alter des Bergwerksbetriebes die Unzahl alter Arbeitsstätten, die den Gipfel des erzführenden Berges krönen, ferner das Vorkommen gediegenen Kupfers und endlich der Umstand, daß in der Nähe Kedabegs ausgedehnte prähistorische Grabfelder liegen, deren Erforschung Rudolf Virchow großes Interesse zugewendet hat.

Das Bergwerk hat eine wirklich paradiesisch schöne Umgebung mit gemäßigtem Klima; es liegt etwa 800 Meter hoch über der großen kaukasischen Steppenebene, die sich vom Fuße des als Goktscha-Kette bezeichneten Ausläufers des kleinen Kaukasus bis an das kaspische Meer hinzieht. Der Betrieb desselben kam, als der uralte, auf die Verarbeitung der zu Tage tretenden Erze gerichtete Pingenbau nicht weiter fortgesetzt werden konnte, in die Hände der Griechen, deren schräge, treppenförmig niedergetriebenen Schachte, aus denen sie auf dem Rücken Erze und Wasser hinaustrugen, zur Zeit der Uebernahme durch Bruder Walter noch im Betriebe waren. Der Bergbau nach modernen Principien wurde von uns mit sehr sanguinischen Erwartungen, wie das bei derartigen Unternehmungen gewöhnlich der Fall ist, unter Leitung eines jüngeren preußischen Berg- und Hüttenmannes, des Dr. Bernoulli, begonnen. Es zeigte sich aber bald, daß bedeutende Schwierigkeiten zu überwinden waren und große Geldsummen aufgewendet werden mußten, um einen lohnenden Betrieb des Werkes herbeizuführen. Dies ist auch erklärlich, wenn man sich vorstellt, daß das Werk etwa 600 Kilometer vom schwarzen Meere entfernt liegt und mit demselben damals weder durch Eisenbahn noch ordentliche Straßen in Verbindung stand, daß alle für das Bergwerk und die zu erbauende Kupferhütte erforderlichen Materialien bis auf die feuerfesten Steine, die es im Kaukasus noch nicht gab, aus Europa bezogen werden mußten, und daß für das Leben einer europäischen Kolonie in dieser paradiesischen Wüste, in der Erdhöhlen als menschliche Wohnungen dienten, alle Kulturbedingungen erst zu schaffen waren.

Kein Wunder, daß die Höhe der Geldsummen, die das Bergwerk verschluckte, über alle Erwartung groß wurde, so daß sich uns Brüdern bald die Frage aufdrängte, ob wir die Unternehmung fortsetzen oder wieder aufgeben sollten. Um eine Entscheidung zu treffen, entschloß ich mich im Herbst des Jahres 1865, selbst nach dem Kaukasus zu reisen und mich durch den Augenschein über die Sachlage zu unterrichten. Ich zähle diese kaukasische Reise zu den angenehmsten Erinnerungen meines Lebens. Ein stilles Sehnen nach den Urstätten menschlicher Kultur hatte ich stets empfunden, und Bodenstedts glühende Schilderungen der üppigen kaukasischen Natur hatten dieses Sehnen nach dem Kaukasus geleitet und längst den Wunsch in mir rege gemacht, ihn kennen zu lernen. Für die Reise sprach noch, daß ich durch den nach so schweren Leiden erfolgten Tod meiner geliebten Frau geistig und körperlich sehr angegriffen war und einer Auffrischung dringend bedurfte.

So reiste ich denn Anfang October 1865 über Pest nach Basiasch, wo ich mich auf einem der schönen Donaudampfer nach Tschernowoda einschiffte, um von da über Küstendsche zu Schiff nach Constantinopel zu fahren. Auf dem Schiff interessirte es mich, mit dem berühmten Omer Pascha, dem damaligen türkischen Seraskier zusammenzutreffen. Da er sich nach Unterhaltung sehnte, wurden wir bald näher miteinander bekannt; ihm gefielen meine Havannah-Cigarren und mir sein Tschibuk, den er mir durch seinen Sklaven stets von Neuem stopfen ließ. Omer Pascha war früher Sergeant in der österreichischen Armee gewesen, dann zu den Türken übergegangen, hatte ihren Glauben angenommen und sich im Kriege mit Rußland schnell emporgeschwungen. Die Einnahme von Montenegro, das bis dahin für unüberwindlich gegolten, brachte ihn schließlich an die Spitze des türkischen Heeres. Er kam eben von einer längeren Reise nach Wien und Paris zurück. Meinen Versuchen, ihn zu Erzählungen seiner Kriegsthaten zu bringen, wich er leider immer aus. Die Erinnerungen an die Siege, die er in Wien und Paris über die Damen des Ballets und der Oper errungen hatte, schienen ihm angenehmer zu sein als die seiner Kriegsthaten. Nur über den von ihm erwarteten künftigen Krieg des Orients gegen den Westen Europas äußerte er sich und zwar sehr sanguinisch. Ein gewaltiges türkisches Reiterheer, so meinte er, würde den Occident wie in früheren Zeiten überfluthen und jeden Widerstand niederreiten. Für einen türkischen Generalissimus kam mir diese Anschauung doch etwas kindlich vor. Von der öffentlichen Meinung in der Türkei schien er sich recht abhängig zu fühlen, wie sich bei einem kleinen Reiseunfall offenbarte, den wir zu bestehen hatten. Die Maschine unsres Schiffes hatte beim Passiren des eisernen Thores Schaden gelitten, und wir waren gezwungen in Orsova zu übernachten, um denselben repariren zu lassen. In Folge dessen kamen wir mit einiger Verspätung in Küstendsche an und erfuhren zu unserm Schrecken, daß der zweimal wöchentlich von dort nach Constantinopel gehende Dampfer die Ankunft unsres Zuges nicht abgewartet hatte. Die Aussicht, mehrere Tage in dem traurigen Orte liegen zu bleiben, war uns Allen, insbesondere auch dem Seraskier, höchst unangenehm. Unter meiner Führung ging daher eine Deputation der Reisegesellschaft zu ihm und bat, er möge die Dampfschiffahrtsgesellschaft veranlassen, einen vorhandenen kleinen Dampfer dem bereits abgegangenen mit uns nachzusenden. Er lehnte dies indessen aus nicht recht verständlichen Gründen ab. Mir persönlich sagte er aber später, er könnte das seiner Stellung wegen nicht, denn wenn die Dampfschiffsgesellschaft seiner Aufforderung nicht Folge leistete, so würden alle Paschas im ganzen Türkenreiche sagen »Haha! Omer Pascha hat etwas befohlen, aber man hat ihm nicht gehorcht, haha!« – dem dürfe er sich nicht aussetzen.

Der Bosporus, das Marmorameer, die süßen Wasser, das unvergleichlich schön gelegene Constantinopel – das Alles ist so oft schön beschrieben und mit Andacht gelesen worden, daß ich besser davon schweige. Trotz der Herrlichkeit und Großartigkeit seiner Lage, die auf den ersten Blick verräth, daß es an einem für die Weltherrschaft prädisponirten Platze liegt, macht Constantinopel mit dem gegenüberliegenden Pera von der See aus betrachtet keinen eigentlich freundlichen oder erhebenden Eindruck. Niemand wird sagen »ich habe Constantinopel gesehen und kann nun sterben!« Die überall, oft in größeren Gruppen zwischen den Häusern hervorragenden dunkeln Cypressen, mit denen der Türke seine Grabstätten schmückt, mögen es sein, die dem Anblick der Stadt trotz der herrlichen Umgebung etwas Düsteres verleihen, es mag auch der geistige Wiederschein der trüben Geschichte der Stadt sein oder die Ahnung, daß der Kampf um Constantinopel dereinst Europa in Flammen setzen wird – kurz, der Anblick Constantinopels erregt wohl unsre Bewunderung, aber er entzückt uns nicht wie der Neapels oder mancher anderen schön gelegenen Stadt. Auch die hervorragenden Bauwerke, wie die Gebäude des alten Serails am goldenen Horn und selbst die Hagia Sophia, haben nichts Anregendes oder Erfreuliches, wenn sie auch durch ihre Masse imponiren. Die Kuppel der alten Sophienkirche ragt zwar mächtig über das Häusermeer empor, doch man sieht auch nur die Kuppel mit ihren von weitem unförmlich aussehenden, schmucklosen Pfeilern.

Die Sophia ist ohne Rücksicht auf den äußeren Anblick ganz auf die Schönheit des Inneren berechnet. Diese Schönheit ihres Inneren ist dafür aber auch über alle Begriffe groß und erhaben. Es hat niemals ein Bauwerk oder irgend ein Kunstwerk, ja kaum eine der hervorragendsten Naturschönheiten einen so überwältigenden Eindruck auf mich gemacht wie die Kuppel der Sophia von innen gesehen. Man vergißt bei ihrem Anblicke ganz die schwere Last der Decke, die den weiten, unten quadratischen Raum überspannt, und empfängt den Eindruck, als sei die Kuppel ein über dem großen, oben offenen Raume gewichtlos schwebendes, ganz schwach gewölbtes Spitzentuch, das nur mit den seinen Ausläufern der Spitzenzacken die Rundung berührt. Diese Täuschung wird dadurch erzeugt, daß die Kuppel auf einer Menge kurzer und schmaler Pfeiler ruht, zwischen denen das blendende Licht eintritt und die Basis der Pfeiler als Spitzen erscheinen läßt. Ich habe mich dem Zauber, den diese schwebende Decke auf mich ausübte, nur schwer entziehen können und muß gestehen, daß die hochgewölbte Peterskuppel mit ihrer schweren Auflage und massiven Symmetrie später keinen besonderen Eindruck auf mich gemacht hat. Man wundert sich in der Peterskirche, daß sie so viel größer ist, als sie scheint, während die Hagia Sophia umgekehrt größer erscheint, als sie in Wirklichkeit ist, und so den Beschauer selbst zur Bewunderung dieser erhabenen und in keiner Weise bedrückenden Größe hinreißt.

Es freute mich während meines Aufenthaltes in Constantinopel verschiedene der Instructionsofficiere anzutreffen, die schon unter Friedrich Wilhelm III. zur Reorganisation der türkischen Armee dahin gesandt waren, und unter ihnen einige zu finden, die ich aus meiner Militärzeit noch kannte. Diese Officiere waren ohne Ausnahme Christen und gute Deutsche geblieben, während die mit ihnen nach Constantinopel gegangenen Unterofficiere zum Theil Muhammedaner geworden und in Folge dessen bereits zu höheren Rangstufen in der Armee erhoben waren. Ein solcher Renegat begegnete mir in Trapezunt, wohin ich mit dem nach Poti gehenden Dampfer weiter reiste, nachdem ich mich nur wenige Tage in Constantinopel aufgehalten hatte. Ich besuchte daselbst den preußischen Konsul, Herrn Herfurt, der mir von Berlin her wohlbekannt war. Dieser hielt es für passend, daß ich dem dortigen Pascha, der mit der Specialmission des Baues einer Chaussee nach Persien betraut war, einen Besuch abstattete. Auf die Anfrage, ob der Pascha geneigt wäre, uns zu empfangen, kam die Antwort, derselbe sei augenblicklich in seinem Harem damit beschäftigt, Sklavinnen zu besichtigen, die ihm zum Kauf angeboten wären, er wolle uns aber nach Verlauf einer Stunde in seiner Reitbahn empfangen. Als der Konsul mich ihm dort vorstellte, kam mir der schlanke, blonde Mann, der noch im kräftigsten Alter stand, etwas bekannt vor. Dem Pascha mußte es mit mir ähnlich ergehen; er blickte mich längere Zeit forschend an und fragte dann, ob ich früher preußischer Officier gewesen sei und in Magdeburg in Garnison gestanden habe. Als ich beides bejahte, fragte er, ob ich mich daran erinnerte, vor etwa zwanzig Jahren einmal den Auftrag gehabt zu haben, den Blitzableiter eines in den Festungswerken gelegenen Pulvermagazins zu besichtigen; er sei der Pionier-Sergeant gewesen, der mich hingeführt hätte. Mir war die Sache nur dunkel in Erinnerung, ich mußte aber das gute Physiognomie-Gedächtniß des Paschas bewundern. Als der Konsul darauf des großen technischen Werkes gedachte, das der Pascha auszuführen habe, schlug dieser vor, einen Ritt auf der neuen Chaussee mit ihm soeben zum Kauf gebrachten arabischen Pferden zu machen, ein Vorschlag, dem ich mit Vergnügen zustimmte. Es war ein herrlicher Ritt, den wir auf den edlen Thieren in schneller Gangart, erst am Ufer des Meeres, dann in einem reizenden Thale mit üppiger Vegetation auf dem Reitwege der wirklich schön gebauten Straße machten. Als etwa eine Stunde so vergangen war, verengte sich das Thal, und die Chaussee schien mit ihm eine scharfe Wendung auszuführen. Da mäßigte der Pascha den Lauf seines Rosses und meinte, der Abend sei schon weit vorgeschritten und er müsse umkehren, da noch Geschäfte abzuwickeln seien. Vielleicht war der Sklavinnenkauf noch nicht ganz abgeschlossen, wie der Konsul mir zuflüsterte. Mich überkam aber eine große Neugier zu sehen, wie sich das Terrain hinter der Wendung des Thales entwickeln würde, und ich rief dem Pascha zu, ich möchte nur noch um die Ecke einen Blick werfen, weil die schöne Landschaft mich interessirte. Als ich nun in gestrecktem Galopp diese Ecke erreichte, fand ich zu meinem großen Erstaunen, daß die Chaussee dort zu Ende war. Natürlich kehrte ich sofort um und hatte in wenigen Minuten die auf dem Rückwege begriffene Gesellschaft wieder eingeholt. Der Pascha sah mich offenbar mit einigem Mißtrauen an, doch ich war so erfüllt von der schönen Aussicht, die ich hinter der Ecke genossen hätte, daß er sich bald wieder beruhigte und sehr freundlich von mir als altem Bekannten Abschied nahm. Der Konsul fragte mich aber später, ob ich auch das Ende der Chaussee gesehen, die Fortsetzung habe der Pascha in die Tasche gesteckt!

Trapezunt ist herrlich gelegen am Fuße des längs der ganzen Küste ziemlich steil und zerrissen abfallenden armenischen Hochplateaus. Die Schönheit seiner Lage wird durch die außerordentliche Ueppigkeit des Baum- und Pflanzenwuchses, die dem Ganzen seinen Charakter giebt, noch ungemein erhöht. Vielleicht würde ich indeß von der Stadt in noch höherem Grade entzückt worden sein, hätte nicht Bodenstedts begeisterte Schilderung meine Erwartungen allzu hoch gespannt. Von Trapezunt ging die Reise am folgenden Tage bei schönstem Wetter weiter an dem steilen, schön geformten Ufer entlang. Wir fuhren an Cerasunt, der berühmten Kirschenstadt vorüber, von deren Höhen die Zehntausend Xenophons das wogende Meer erblickt und ihr Thalatta gerufen haben. In Batum erreichte unser Schiff das Endziel seiner Fahrt; von dort wurden wir in einem kleinen Küstendampfer nach dem hafenlosen Poti übergeführt.

Batum hat einen zwar nur kleinen, aber durchaus sicheren und selbst bei schlechtem Wetter leicht zugänglichen Hafen und eine sehr schöne Lage mit bewaldetem, bergigem Hinterlande, während Poti an der Mündung des Rion, des Phasis der Alten, in einer weiten, sumpfigen Ebene liegt und gar keinen geschützten Hafen, sondern nur eine Rhede besitzt, die des flachen Wassers wegen bei windigem Wetter von den Schiffen gemieden werden muß. Dreimal hat die russische Regierung bereits den kostspieligen Versuch gemacht, einen Hafendamm daselbst ins Meer zu treiben, um den Schiffen einigen Schutz zu gewähren, aber alle diese Versuche sind vergeblich gewesen. Die böse Welt behauptet, den ersten, hölzernen Damm hätte der Bohrwurm, den zweiten, aus Cement gefertigten hätte das Seewasser, und den dritten, aus Granit erbauten hätten die Generale gefressen. Wenn auch die letztere Behauptung nur als ein schlechter Witz anzusehen ist, denn in Wirklichkeit verhinderten die großen Kosten des Steindammes den Weiterbau, so illustriren diese wiederholten Mißerfolge doch die für Rußland gegebene Nothwendigkeit, den einzigen brauchbaren Hafen der Küste, Batum, zu erwerben, weil daran die Kulturentwickelung des ganzen kaukasischen Besitzes hing. Schon der alleinige Erwerb Batums würde für Rußland ein hinreichendes Aequivalent der Kosten des letzten türkischen Krieges gewesen sein.

In Poti empfing mich mein Bruder Walter, in dessen Begleitung ich nun die Reise nach Tiflis fortsetzte, die damals und auch noch drei Jahre später, als ich zum zweiten Male nach Kedabeg reiste, mit großen Beschwerden verknüpft war. Man fuhr zunächst mit einem Flußdampfer den Rion hinauf bis Orpiri, einem Orte, der ausschließlich von einer russischen, aus lauter bartlosen Männern bestehenden Sekte bewohnt wurde, die aus dem ganzen russischen Reiche dorthin geschafft war. Abgesehen von dem interessanten Gewirre der verschiedenartigsten Nationalitäten und Sprachen an Bord des Schiffes war die einzige Merkwürdigkeit, welche die Fahrt auf dem Rion bot, der Anblick eines wirklich undurchdringlichen, sumpfigen Urwaldes auf beiden Ufern des Flusses.

Von Orpiri fuhren wir zu Wagen nach Kutais, dem alten Kolchis, das am Abhange eines den großen mit dem kleinen Kaukasus verbindenden Gebirgszuges an der Grenze der Rionebene in freundlicher, schöner Umgebung gelegen ist. Hoch über Kutais thront ein von Alters her berühmtes Kloster, Namens Gelati, das für eines der ältesten der Christenheit gehalten wird und auf einem schon in grauer Vorzeit geheiligten Orte erbaut sein soll. Auf meiner zweiten Reise besuchte ich es und fand mich für die Mühen

hat die russische Regierung bereits den kostspieligen Versuch gemacht, einen Hafendamm daselbst ins Meer zu treiben, um den Schiffen einigen Schutz zu gewähren, aber alle diese Versuche sind vergeblich gewesen. Die böse Welt behauptet, den ersten, hölzernen Damm hätte der Bohrwurm, den zweiten, aus Cement gefertigten hätte das Seewasser, und den dritten, aus Granit erbauten hätten die Generale gefressen. Wenn auch die letztere Behauptung nur als ein schlechter Witz anzusehen ist, denn in Wirklichkeit verhinderten die großen Kosten des Steindammes den Weiterbau, so illustriren diese wiederholten Mißerfolge doch die für Rußland gegebene Nothwendigkeit, den einzigen brauchbaren Hafen der Küste, Batum, zu erwerben, weil daran die Kulturentwickelung des ganzen kaukasischen Besitzes hing. Schon der alleinige Erwerb Batums würde für Rußland ein hinreichendes Aequivalent der Kosten des letzten türkischen Krieges gewesen sein.

In Poti empfing mich mein Bruder Walter, in dessen Begleitung ich nun die Reise nach Tiflis fortsetzte, die damals und auch noch drei Jahre später, als ich zum zweiten Male nach Kedabeg reiste, mit großen Beschwerden verknüpft war. Man fuhr zunächst mit einem Flußdampfer den Rion hinauf bis Orpiri, einem Orte, der ausschließlich von einer russischen, aus lauter bartlosen Männern bestehenden Sekte bewohnt wurde, die aus dem ganzen russischen Reiche dorthin geschafft war. Abgesehen von dem interessanten Gewirre der verschiedenartigsten Nationalitäten und Sprachen an Bord des Schiffes war die einzige Merkwürdigkeit, welche die Fahrt auf dem Rion bot, der Anblick eines wirklich undurchdringlichen, sumpfigen Urwaldes auf beiden Ufern des Flusses.

Von Orpiri fuhren wir zu Wagen nach Kutais, dem alten Kolchis, das am Abhange eines den großen mit dem kleinen Kaukasus verbindenden Gebirgszuges an der Grenze der Rionebene in freundlicher, schöner Umgebung gelegen ist. Hoch über Kutais thront ein von Alters her berühmtes Kloster, Namens Gelati, das für eines der ältesten der Christenheit gehalten wird und auf einem schon in grauer Vorzeit geheiligten Orte erbaut sein soll. Auf meiner zweiten Reise besuchte ich es und fand mich für die Mühen eines anstrengenden Rittes, der mich zu dem einige Tausend Fuß hoch liegenden Kloster hinaufführte, reich belohnt. Das jetzt größtentheils in Trümmer zerfallene, auf einem herrlichen Aussichtspunkte gelegene Kloster ist besonders berühmt durch einen kleinen Tempel, welcher auf vier Granitsäulen ruht, deren jede einem eigenen Baustile angehört. Dieser Tempel soll aus einer uralten Zeitperiode stammen, wie man überhaupt das Alter vieler Baureliquien im Kaukasus nicht wie in Europa nach Jahrhunderten, sondern nach Jahrtausenden rechnet. Mag dies auch vielfach übertrieben sein, so deutet doch alles, was man sieht und hört, darauf hin, daß man sich im Kaukasus auf einem der Ursitze menschlicher Kultur befindet.

Heute ist Kutais Eisenbahnstation, und man fährt bequem in einem Tage von Poti oder Batum nach Tiflis. Damals war man glücklich, wenigstens eine neue Chaussee über das Suram-Gebirge zu haben, wodurch die früher sehr beschwerliche Reise wesentlich erleichtert wurde. Der Uebergang über den Suram war dafür außerordentlich romantisch und bot ganz entzückende Partien. Das Unterholz des Waldes und der Waldblößen besteht hier durchgängig aus Rhododendron und der baumartigen, gelbblühenden Azalie des Kaukasus, beides Pflanzen, die während der Blüthezeit einen bezaubernd schönen Anblick gewähren und die Luft mit betäubendem Dufte erfüllen. Denkt man sich dazu schroffe, oft mehrere Hundert Meter fast senkrecht aufstrebende Felswände, die vielfach von unten bis oben mit mächtigem altem Epheu berankt sind, so kann man sich einen Begriff von den Reizen dieser Landschaft machen. Dagegen hat die grusinische Hochebene, in die man nach Ueberschreitung des Surams gelangt, und in der die Straße nach Tiflis, fast beständig dem Laufe des Kur folgend, weiterführt, keine besonderen Schönheiten; sie ist steinig, vielfach zerklüftet und arm an Vegetation. Doch wird man durch die immer wieder auftauchende Ansicht der Kette von Schneehäuptern des großen Kaukasus, die schon vom Meere aus einen so herrlichen Anblick gewährt, mit der sterilen Umgebung versöhnt.

Das vom Kur in tief eingeschnittenem Flußbette durchströmte Tiflis liegt nach Norden an eine steil abfallende Bergwand angelehnt, die wohl hauptsächlich Schuld daran ist, daß es im Sommer ganz unerträglich heiß in der Stadt wird. Daher besitzt auch jeder Bewohner von Tiflis, der es irgend ermöglichen kann, für die heiße Zeit eine zweite, einige Tausend Fuß höher gelegene Wohnung, die er nur verläßt, um Geschäftsbesuche in der Stadt zu machen. Eigentlich besteht Tiflis aus zwei ganz verschiedenen Städten, der oberen, europäischen und der unteren, asiatischen Stadt, die beide durch scharfe Grenzen von einander geschieden sind. Das europäische Tiflis nennt sich gern und mit Stolz »das asiatische Paris« oder beansprucht doch diesen Ehrentitel unmittelbar hinter Kalkutta. In der That sieht es ganz europäisch aus und wird auch überwiegend von Russen und Westeuropäern bewohnt; in diesem Theile liegen die kaiserliche Residenz, das Theater und sämmtliche Regierungsgebäude. Die angrenzende Stadt ist dagegen nach Ansehen und Bevölkerung wirklich rein asiatisch. Der Grund, weshalb Tiflis ein uralter Kultursitz geworden ist, wird wohl in den berühmten Thermen zu suchen sein, die für den Orientalen eine noch höhere Bedeutung haben als für den Occidentalen.

Von Tiflis führte unser Weg auf ziemlich guter Chaussee weiter nach Axtapha, wo die Straße nach Baku über Elisabethpol von der zum Goktscha-See und nach Persien sich trennt und die große, bis zum kaspischen Meere sich erstreckende Steppe ihren Anfang nimmt. Der hohen Temperatur wegen wollten wir unsre Reise von dort am frühen Morgen fortsetzen und bestellten die Pferde zu drei Uhr früh. Der Posthalter widersetzte sich dem aber energisch, da eine Räuberbande die Gegend unsicher machte. Es ist der russischen Regierung bis auf den heutigen Tag nicht gelungen, das Räuberunwesen im Kaukasus ganz auszurotten. Die Tataren der Steppe und der angrenzenden Berglandschaften können trotz harter Strafen nicht davon lassen. Noch jetzt, im Sommer 1890, wo ich mich rüste, mit meiner Frau und jüngsten Tochter eine dritte Reise nach Kedabeg zu machen, erhalte ich die Nachricht, daß eine Räuberbande in der Umgegend unsres Bergwerks ihr Unwesen treibe und zu umfassenden Maßregeln gegen sie Veranlassung gegeben habe.

Dieses immer von Neuem wieder auftauchende kaukasische Räuberthum hat seine tiefere Begründung in den Lebensgewohnheiten und Anschauungen der Bevölkerung eines Landes, in welchem das Waffentragen noch den Stolz des Mannes bildet. Das Räubern wird dort mehr als unerlaubter Sport, denn als gemeines Verbrechen betrachtet. Wie Ritter im Mittelalter es mit ihrer Würde für vereinbar hielten, dem Krämer auf der Landstraße seine Waaren fortzunehmen und die Bürger der Städte zu brandschatzen, so sehnt sich der kaukasische Tatar darnach, als freier Mann auf schnellem Roß durch Wälder und Steppe zu streichen und mit Gewalt zu nehmen, was ihm in den Weg kommt. Es ist in Kedabeg, wo die Tataren zu den besten und zuverlässigsten Arbeitern gehören, vielfach vorgekommen, daß Grubenarbeiter, die Jahre lang fleißig und – da die muselmännische Sekte der Schiiten, der sie angehören, nur einen Festtag im Jahre und keinen Sonntag hat – fast ohne Unterbrechung gearbeitet hatten, plötzlich verschwanden, wenn sie Geld genug erspart, um sich Waffen und ein Pferd zu beschaffen. Bisweilen kehrten sie nach längerer Zeit wieder zurück. Man wußte, daß sie in der Zwischenzeit Räuberei getrieben, doch hinderte sie das nicht, wieder tüchtige Arbeiter zu werden, wenn sie bei der Räuberei Unglück gehabt oder die Lust daran verloren hatten.

Die Warnungen des Posthalters zu Axtapha vermochten uns nicht zurück zu halten, wir setzten vielmehr in der kühlen, sternklaren Nacht mit schnellen Pferden unsere Reise fort und vertrauten dabei auf unsre guten Revolver, die wir zur Vorsicht schußfertig in der Hand hielten. Mein Bruder Walter aber, den die Neuheit der Lage nicht mehr so wie mich munter erhielt, konnte der Müdigkeit nicht lange widerstehen und schlief bald den Schlaf des Gerechten. Plötzlich ertönte vom Bock unsres niedrigen, federlosen Leiterwagens, auf dem der Diener meines Bruders neben dem Kutscher saß, der laute Aufschrei: »Räuber!« Gleichzeitig sah ich im Halbdunkel eine weiße Gestalt gerade auf uns zu galoppiren. Mein Bruder erwachte in Folge des Geschreis und schoß, ohne sich weiter zu besinnen, seinen Revolver auf die schon dicht vor unsern Pferden befindliche und selber laut schreiende Gestalt ab, glücklicherweise ohne sie zu treffen. Wie sich bald herausstellte, war es kein Räuber, sondern ein Armenier, der sich von Räubern verfolgt wähnte und Schutz suchend auf uns losgejagt war. Die Armenier gelten im Kaukasus allgemein für sehr schlaue und gewandte Geschäftsleute, die wenig Muth haben und es vielleicht aus diesem Grunde lieben, sich auf Reisen möglichst kriegerisch auszustatten. Wie es schien, bestand die Räuberbande, die unsern Armenier erschreckt hatte, nur in seiner Einbildung. Seine Unvorsichtigkeit hätte ihm aber leicht übel bekommen können, und das wäre ganz seine eigene Schuld gewesen, da es nach Landesbrauch eine gebotene Vorsichtsregel ist, Reisenden, denen man begegnet, niemals in schneller Gangart zu nahen.

Kurz nach diesem aufregenden Vorfalle wurden wir durch eine merkwürdige Naturerscheinung erfreut. Es tauchte plötzlich am Horizonte der unbegrenzten Steppe gerade vor uns eine glänzende Lichterscheinung auf; sie strahlte in prachtvollem, vielfarbigem Lichte, unterschied sich von einem Meteor aber dadurch, daß sie unbeweglich an derselben Stelle des Himmels verharrte. Wir zerbrachen uns den Kopf über die Ursache der Erscheinung, die wir nur der einer Fallschirmrakete mit Buntfeuer vergleichen konnten. Sie wurde aber bald schwächer und schrumpfte nach kurzer Zeit zur Größe eines hellen Sternes zusammen. Es war die aufgehende Venus, welche durch die Steppennebel und das Dunkel, in das die Erde in jenen südlichen Gegenden selbst kurz vor Sonnenaufgang noch gehüllt ist, so merkwürdig vergrößert und gefärbt erschien.

Wir übernachteten in der schwäbischen Kolonie Annenfeld, die am Fuße eines steilen Bergabhanges, der zum Bergwerk Kedabeg hinausführt, nahe dem Kur in sehr fruchtbarer, aber nicht gesunder Gegend liegt oder vielmehr lag, denn die Kolonie hat später den Ort verlassen und sich etwa fünfhundert Fuß höher am Abhange des Gebirges ein neues Dorf erbaut. Es giebt im Kaukasus eine ganze Anzahl solcher schwäbischen Kolonien, ich glaube sechs oder sieben; auch Tiflis gehört dazu. Sie verdanken ihren Ursprung streng gläubigen Lutheranern aus Schwaben, die in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in verschiedenen Zügen ihr Vaterland verließen und auf dem Landwege über Oesterreich und Rußland nach dem gelobten Lande wandern wollten, wo nach Meinung ihrer Führer irdische und himmlische Freuden sie erwarteten. Der russischen Regierung lag aber damals viel an der Einwanderung tüchtiger deutscher Ackerbauer im Kaukasus, sie hielt daher die Kolonnen dort an und veranlaßte sie, unter ihrem Geleit eine Commission nach Jerusalem vorauszuschicken, die erst prüfen sollte, ob dort auch wirklich passendes Land für sie zu haben sei. Als diese nach längerer Frist zurückkehrte, konnte sie nur davon abrathen, den Marsch nach dem gelobten Lande fortzusetzen, und da die russische Regierung den Leuten freigebig große, schöne Landstrecken überwies, so blieben die Schwaben dort und sind auch immer die alten Schwaben geblieben, die sie zur Zeit ihrer Auswanderung gewesen sind. Es ist überraschend, in diesen schwäbischen Niederlassungen ganz unvermittelt die unverfälschte altschwäbische Sitte und Sprache anzutreffen. Man glaubt, plötzlich in ein Schwarzwalddorf versetzt zu sein, so sehen Häuser, Straßen und Bewohner dieser Kolonien aus. Es wurde mir zwar schwer, ihre Sprache zu verstehen, da ich sie noch nicht studirt hatte, wie es jetzt nach zwanzigjähriger Ehe mit einer Schwäbin einigermaaßen der Fall ist, ich hörte aber von einem echten Schwaben, daß auch er sie nur mit Mühe verstehe, da es der im Anfange des Jahrhunderts gesprochene, und nicht der heutige, durch den Einfluß der Zeit wesentlich veränderte Dialekt sei. Gleich der Sprache haben die Leute auch alle ihre Sitten und Gebräuche beibehalten, so wie sie bei ihrer Auswanderung bestanden. Sie sind gleichsam versteinert und wehren sich erbittert gegen jede Aenderung.

Es scheint aber, als ob diese Unveränderlichkeit der Volkssitten und Sprachen eine allgemeine Eigenschaft des Kaukasus sei, der ein wahres Völkermosaik darstellt. Außer den größeren, scharf von einander getrennten Völkerschaften giebt es daselbst noch eine Menge ganz kleiner, die besondere, nur schwer zugängliche Gebirgsthäler bewohnen und Sprache wie Sitten, die seit undenklichen Zeiten ganz verschieden von denen aller benachbarten Völker gewesen sind, treu bewahrt haben. Ferner existiren im Kaukasus noch zahlreiche russische Kolonien, die von Sekten gebildet werden, welche der erstrebten Glaubenseinheit wegen aus ganz Rußland dorthin transportirt und in besonderen Ansiedelungen vereinigt sind. Auch diese haben nach mehr als einem halben Jahrhundert Sprache, Glauben und Sitten noch völlig unverändert beibehalten. Die verbreitetsten dieser Sekten sind die der Duchaboren und Malakaner, die sich wie die der Schwaben auf bestimmten, eigenthümlich ausgelegten biblischen Aussprüchen aufgebaut haben. Es sind lauter tüchtige Arbeiter und ordentliche Leute, wenn sie nicht gerade von ihrem Fanatismus ergriffen sind. Die Malakaner sind fast ohne Ausnahme Handwerker, vorzugsweise Tischler, die Duchaboren dagegen gute Landwirthe und Fuhrleute. Die Nachbarschaft einer Duchaboren-Kolonie ist für Kedabeg stets von unschätzbarem Werthe gewesen. Nur eine Zeit im Jahre versagen die Leute gänzlich; dann zieht ihre Königin von einer Kolonie zur andern und feiert mit ihnen religiöse Feste, die aber auf irdische Glückseligkeit ein recht hohes Gewicht zu legen scheinen, vielleicht nur, um den Gläubigen einen schwachen Begriff von der erhofften, unendlich größeren jenseitigen zu geben.

Von Annenfeld führt ein steiler, nicht sehr gebahnter Weg nach Kedabeg hinaus. In etwa tausend Meter Höhe erreicht derselbe eine wellige, von kleinen Bergzügen durchbrochene, fruchtbare Ebene, die früher von schönen Wäldern aus Steineichen, Linden, Buchen und anderen Laubhölzern bedeckt war. Seit die Herrschaft der Perser aufgehört hat, deren Kulturspuren man namentlich an den Trümmern ausgedehnter Bewässerungsanlagen noch vielfach erkennt, sind die Waldungen hier wie in den meisten hochgelegenen Ebenen des Landes schon gänzlich ausgerottet, weil die Hirten der Steppe im heißen Sommer, wenn das Gras verdorrt, und auch im Winter, wenn die Steppe mit Schnee bedeckt ist, ihre Heerden auf die Berge treiben, um sie mit Hilfe der Wälder zu ernähren. Sie fällen zu dem Zwecke einfach Bäume und lassen das Vieh die Knospen und Zweigspitzen fressen. Auf diese Weise vernichtet eine einzige Heerde oft Quadratwerste üppigen Waldes. Unserer Hüttenverwaltung hat es daher auch stets die größten Schwierigkeiten bereitet, diese verwüstenden Heerden an der Zerstörung unserer Waldungen zu hindern, auf deren Erhaltung der Hüttenbetrieb in Ermangelung von Steinkohlen oder anderem Brennmaterial allein angewiesen war.

Das Hüttenwerk liegt an einem kleinen Gebirgsbache, welcher unterhalb Kedabegs in schroffem Durchbruche den Bergrücken durchschneidet, der Kedabeg von dem paradiesisch schönen Schamchorthale trennt. In dem Durchbruchsthale liegen die Trümmer einer kleinen armenischen Festung, während das Schamchorthal etwa in der Höhe von Kedabeg ein altes armenisches Kloster birgt, das damals noch von einigen Mönchen bewohnt wurde. Gegenwärtig ist der Anblick Kedabegs, wie man ihn empfängt, wenn man aus dem Thale heraufkommend die letzte Berglehne überschritten hat und an einem alten Kirchhofe, der am Wege liegt, vorüber gegangen ist, ein sehr überraschender. Es ist das ganz europäische Bild einer romantisch gelegenen, kleinen Fabrikstadt, das sich dem Blicke darbietet, mit gewaltigen Oefen und großen Gebäuden, darunter ein christliches Bethaus, eine Schule und ein europäisch eingerichtetes Wirthshaus; auch eine über einen hohen Viaduct führende Eisenbahn ist vorhanden, welche die ungefähr dreißig Kilometer entfernte Hüttenfiliale Kalakent mit Kedabeg und dem benachbarten Erzberge verbindet. Dieser merkwürdige Anblick einer modernen Kulturstätte mitten in der Wildniß hat Kedabeg förmlich zu einer Wallfahrtsstätte für die Landesbewohner bis tief nach Persien hinein gemacht. Damals, als ich es zum ersten Male besuchte, war das Aussehen Kedabegs freilich noch ein ganz anderes. Außer dem hölzernen Direktorialgebäude, das sich auf einer dominirenden Höhe dem Auge zeigte, waren nur wenige Hütten- und Verwaltungsgebäude sichtbar. Die Arbeiterwohnungen waren nur durch Rauchstellen an den Bergabhängen kenntlich, denn sie bestanden sämmtlich aus Erdhöhlen.

Erdhöhlen dienen im östlichen Kaukasien fast ausschließlich als Wohnungen. Es sind eigentlich Holzhäuser, die in einer Grube werden, so daß das Ganze wie ein großer Maulwurfshügel aussieht. Inmitten der Decke ist ein Schlot vorgesehen, der dem Rauch einen Abzug aus dem einzigen inneren Raume gewährt und zugleich der einzige Lichtspender außer dem Eingange ist. Uebrigens werden derartige Erdhöhlen auch ganz elegant ausgeführt. Bei einem Besuche, den ich einem benachbarten »Fürsten« – so nennen sich die größeren Landbesitzer der Gegend – in Begleitung meines Bruders und des Hüttendirektors abstattete, wurden wir in einen ziemlich geräumigen, saalartigen Raum geführt, dessen Fußboden mit schönen Teppichen belegt war, während die inneren Wände in coulissenartig aufgehängten persischen Teppichen bestanden. Dem Divan gegenüber befand sich die Feuerstelle, über ihr die Deckenöffnung. Hinter den Teppichen war es lebendig, und man hörte hin und wieder Frauen- und auch Kinderstimmen. Der Fürst empfing uns mit großer Ceremonie und nöthigte uns auf den Divan, während er selbst sich vor demselben niederließ. Nach einer kurzen, verdolmetschten Unterhaltung, die sich in orientalischen Höflichkeitsformeln bewegte, wollten wir wieder aufbrechen, begegneten dabei aber sehr ernstem Widerstande. Bald nach unserm Eintritte hatten wir das Blöken eines Schafes gehört und gleich vermuthet, daß es uns zu Ehren geschlachtet werden sollte. In der That ließ der Fürst uns mit sehr ernster Miene sagen, wir würden ihn doch hoffentlich nicht so kränken, sein Haus zu verlassen, ohne seine Gastfreundschaft genossen zu haben. Wir mußten also geduldig abwarten, bis das »Schischlick« fertig war, welches darauf vor unsern Augen bereitet wurde. Es geschah diese Zubereitung in der üblichen, sehr primitiven Weise. Das Fleisch des frisch geschlachteten Hammels wurde in etwas über walnußgroße Würfel zerschnitten, die dann mit Zwischenlagen von Fettscheiben aus dem Fettschwanze des Hammels auf einen eisernen Ladestock gereiht wurden. Unterdessen war zwischen zwei Steinen ein Holzfeuer angemacht, und als von ihm nur noch glühende Kohlen geblieben, wurden die vorbereiteten Ladestöcke über die Steine gelegt und häufig gedreht. In wenigen Minuten war nun die Mahlzeit fertig, und jeder Gast zog sich nach Bedürfniß von dem ihm präsentirten, garnirten Ladestock Würfel ab. Ein solches Schischlick ist, wenn der Hammel nicht zu alt und namentlich ganz frisch geschlachtet ist, sehr zart und wohlschmeckend; es bildet bei tatarischen und grusinischen Mahlzeiten stets die Grundlage oder was man bei unsern Diners die »pièce de résistance« nennt.

So wie unterirdische Fürstensitze baut man auch große unterirdische Stallungen im Kaukasus. Ich hatte solche schon während der Reise auf einer der Poststationen kennen gelernt, wo ich durch Wiehern und Pferdegetrampel unter mir darauf aufmerksam wurde, daß ich auf einem Pferdestalle promenirte. Man rühmt die Kühle der unterirdischen Behausungen im Sommer und ihre Wärme im Winter, und es hat der Hüttendirektion zu Kedabeg viel Mühe gekostet, die asiatischen Arbeiter an Steinhäuser zu gewöhnen. Als dieses schließlich mit Hülfe der Frauen gelang, war damit denn auch die schwierige Arbeiterfrage gelöst. Da nämlich die Leute dort nur sehr geringe Lebensbedürfnisse haben, so liegt kein Grund für sie vor, viel zu arbeiten. Haben sie sich soviel Geld verdient, um ihren Lebensunterhalt für etliche Wochen gesichert zu haben, so hören sie auf zu arbeiten und ruhen. Es gab dagegen nur das eine Mittel, den Leuten Bedürfnisse anzugewöhnen, deren Befriedigung bloß durch dauernde Arbeitsleistung zu ermöglichen war. Die Handhabe dazu bildete der dem weiblichen Geschlechte angeborene Sinn für angenehmes Familienleben und seine leicht zu erweckende Eitelkeit und Putzsucht. Als einige einfache Arbeiterhäuser gebaut und es gelungen war, einige Arbeiterpaare darin einzuquartieren, fanden die Frauen bald Gefallen an der größeren Bequemlichkeit und Annehmlichkeit der Wohnungen. Auch den Männern behagte es, daß sie nicht mehr fortwährend Vorkehrungen für die Regensicherheit ihrer Dächer zu treffen brauchten. Es wurde nun weiter dafür gesorgt, daß die Frauen sich allerlei kleine Einrichtungen beschaffen konnten, die das Leben im Hause gemüthlicher und sie selbst für ihre Männer anziehender machten. Sie hatten bald Geschmack an Teppichen und Spiegeln gefunden, verbesserten ihre Toilette, kurz sie bekamen Bedürfnisse, für deren Befriedigung die Männer nun sorgen mußten, die sich selbst ganz wohl dabei befanden. Das erregte den Neid der noch in ihren Höhlen wohnenden Frauen, und es dauerte gar nicht lange, so trat ein allgemeiner Zudrang zu den Arbeiterwohnungen ein, der allerdings dazu nöthigte, für alle ständigen Arbeiter Häuser zu bauen.

Ich kann nur dringend rathen, bei unsern jetzigen kolonialen Bestrebungen in gleicher Richtung vorzugehen. Der bedürfnißlose Mensch ist jeder Kulturentwickelung feindlich. Erst wenn Bedürfnisse in ihm erweckt sind und er an Arbeit für ihre Befriedigung gewöhnt ist, bildet er ein dankbares Object für sociale und religiöse Kulturbestrebungen. Mit letzteren zu beginnen wird immer nur Scheinresultate geben.

Als ich drei Jahre später Kedabeg wieder besuchte, fand ich aus der Troglodytenniederlassung bereits eine ganz ansehnliche Ortschaft europäischen Aussehens entstanden. Das Gros der Arbeiter war freilich noch nomadisirend, ist dies aber auch bis auf den heutigen Tag geblieben. Es sind Leute, die nach Beendigung der Ernte namentlich aus Persien kommen, fleißig im Bergwerke oder in der Hütte arbeiten, aber weiter ziehen, wenn sie das nöthige Geld verdient haben oder die Heimath ihrer bedarf. Jedoch ist ein fester Arbeiterstamm vorhanden, der den Fortgang der nothwendigen Arbeiten zu jeder Zeit sicher stellt. Die Beamten des Werkes waren stets fast ohne Ausnahme Deutsche, unter ihnen ein kleiner Theil aus den russischen Ostseeprovinzen. Die Geschäftssprache ist deshalb immer die deutsche gewesen. Es ist spaßhaft anzuhören, wenn Tataren, Perser und Russen die etwas corrumpirten deutschen Namen von Geräthschaften und Operationen und dabei auch die in den Hüttenwerken des Harzes gebräuchlichen Scheltworte radebrechen.

Der an geschwefeltem Kupfererz reiche Berg liegt in der Nähe von Kedabeg und ist durch eine sogenannte Schleppbahn mit ihm verbunden. Außerdem ist, wie schon erwähnt wurde eine schmalspurige Eisenbahn von uns erbaut, die tief hinein in die Holz und Holzkohlen liefernden Wälder im Flußthale des wilden Kalakentbaches zu der schön gelegenen Hüttenfiliale Kalakent und von dort weiter bis zum Holzflößplatze am Schamchor führt. Viele Jahre lang hat diese Gebirgsbahn den großen Bedarf an Brennmaterial gesichert, aber so sorgsam auch die abgeholzten Strecken stets forstmäßig wieder bepflanzt wurden, schließlich drohte doch Mangel an Holz den Betrieb des Hüttenwerkes zum Stillstand zu bringen. Indeß die Noth selbst ist in der Regel der beste Helfer aus der Noth; das bewährte sich auch hier. Es gelang uns in neuerer Zeit, wie ich glaube zuerst in der Welt, die Kohlen für den Hüttenbetrieb durch das Rohmaterial des Petroleums, die Naphta, und durch das Masut, den Rückstand der Petroleumdestillation, zu ersetzen. Diese Brennstoffe werden von Baku auf der Tifliser Bahn, die jetzt schon seit einer Reihe von Jahren besteht, bis zur Schamchorstation am Fuße des Gebirges geführt. Mit ihrer Hülfe wird das geröstete Erz in großen, runden Flammenöfen von sechs Meter Durchmesser geschmolzen und auf Kupfer verarbeitet. Eine elektrische Raffiniranstalt zu Kalakent verwandelt das so gewonnene Rohkupfer in chemisch reines Kupfer, wobei zugleich das in ihm enthaltene Silber als Nebenproduct gewonnen wird. Da es aber schwer ist, im Winter und während der Regenzeit Masut und Naphta auf den dann grundlosen Wegen von der Bahnstation den Berg hinauf nach Kedabeg zu schaffen, so wird jetzt eine Röhrenleitung aus nahtlosen Mannesmann-Stahlröhren erbaut, durch welche das Masut den etwa tausend Meter hohen Bergabhang aus der Ebene hinaufgepumpt werden soll. Ich hoffe, diese Anlage noch in diesem Herbste persönlich in Thätigkeit zu sehen. Ferner werden jetzt die nöthigen Einrichtungen getroffen, um nach einem von mir ausgearbeiteten neuen Verfahren die ärmeren, bisher eine Verarbeitung nicht lohnenden Erze auf rein elektrischem Wege ohne Anwendung von Brennmaterial in raffinirtes Kupfer zu verwandeln. Zu dem Zwecke müssen im benachbarten Schamchorthale große Turbinenanlagen hergestellt werden, welche über tausend Pferdekräfte zum Betriebe von Dynamomaschinen, die den erforderlichen elektrischen Strom erzeugen, zu liefern haben. Dieser Strom soll über den etwa achthundert Meter hohen Bergrücken, der Kedabeg vom Schamchor trennt, fortgeleitet werden, um direct am Fuße des Erzberges das Kupfer aus dem Erzpulver zu extrahiren und galvanisch niederzuschlagen. Ist auch diese, bis in die Details theoretisch und praktisch schon vollständig ausgearbeitete Anlage fertig, so wird im fernen Kaukasus ein Hüttenwerk existiren, das an der Spitze der wissenschaftlichen Technik steht und mit ihrer Hülfe die Ungunst seiner Lage siegreich zu überwinden vermag.

Es ist begreiflich, daß uns in Folge der in Kedabeg erzielten Resultate von allen Seiten Anträge zugingen, aufgefundene Erzlager zu erwerben. Obwohl mein Bruder Karl dazu ebensowenig geneigt war wie ich selbst, weil uns Kedabeg schon Sorgen genug machte, so ließ es sich doch einflußreichen Leuten nicht immer abschlagen, die angebotenen Lager einer Besichtigung zu unterziehen. Als ich nach dem Tode meines Bruders Walter, der durch einen unglücklichen Sturz mit dem Pferde ganz plötzlich sein Leben einbüßte, im Herbst des Jahres 1868 zum zweiten Mal nach Kedabeg reiste, wurde ich auf diese Weise zu zwei Touren in den großen Kaukasus veranlaßt. Von diesen war namentlich eine Expedition von Suchum-Kalé nach der Cibelda für mich ungemein interessant.

Der 18000 Fuß hohe Elbrus, der höchste Berg Europas, wenn man als die natürliche Grenze dieses Erdtheils den Kamm des hohen Kaukasusgebirges annimmt, ist von wenigen Punkten aus in seiner ganzen Höhe zu sehen, da er von einem hohen Ringgebirge umgeben wird. Der Zwischenraum, der ihn von diesem Ringgebirge trennt, ist nur an wenigen Stellen zugänglich und in sich wieder durch mehrere radiale Gebirgsrücken, die jeden menschlichen Verkehr unmöglich machen, in verschiedene Theile zerschnitten. Unter diesen ist die Cibelda eine natürliche, uneinnehmbare Festung, die von einigen Menschen gegen ganze Heere vertheidigt werden kann. Als der übrige Kaukasus schon lange in russischen Händen war, und die Tscherkessen, die sich nicht unter das russische Joch beugen wollten, längst nach der Türkei ausgewandert waren, blieb die Cibelda noch unbesiegt im Besitz ihrer wenig zahlreichen, einen besonderen Stamm bildenden Bevölkerung. Die Russen hatten alle scheinbar uneinnehmbaren Naturfestungen des westlichen Kaukasus durch Erbauung von Straßen erobert, die ihnen bequemen Zugang in die zu unterwerfenden Ländertheile verschafften. Die Cibelda widerstand aber auch dem Angriffe durch den militärischen Wegebau, jedoch vermochten der Hunger und verlockende Anerbietungen der russischen Regierung die Bewohner schließlich dazu, freiwillig ihre Festung zu räumen, worauf sie sich ebenfalls zur Auswanderung nach Kleinasien entschlossen.

Es war etwa ein Jahr seit dieser Auswanderung vergangen, als der General Heymann, Gouverneur von Suchum-Kalé, an meinen Bruder Otto, der geschäftlich an Walters Stelle getreten und auch an seiner Statt zum deutschen Konsul ernannt war, die Aufforderung richtete, ein kupfer- und silberhaltiges Erzlager in der Cibelda untersuchen zu lassen. Als ich mit Bruder Otto und meinem Sachverständigen, dem neu engagirten Direktor Dannenberg, den in seine neue Thätigkeit einzuführen der Hauptzweck meiner Reise war, im September 1868 nach Suchum-Kalé kam, wiederholte der General seinen Wunsch und versprach, uns die Reise nach der Cibelda möglichst leicht und sicher zu machen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, auf diese Weise gleichsam in das Herz des hohen Kaukasus zu gelangen, das, wie man uns sagte, noch von keinem Westeuropäer betreten war. Es wurde daher unter Führung eines jungen russischen Kapitäns, der den Auszug der Bevölkerung der Cibelda geleitet hatte, eine kleine militärische Expedition ausgerüstet, die uns zu dem Erzlager führen sollte.

Suchum-Kalé, das heißt die »Festung Suchum«, liegt höchst romantisch an einer kleinen, felsigen Meeresbucht zu Füßen des hohen, den Elbrus umgebenden Ringgebirges. Seine Umgebung ist paradiesisch schön, vor allem durch ihre Vegetation, deren Ueppigkeit jeder Beschreibung trotzt. Schon in dem Orte selbst wurde meine Bewunderung durch eine lange Allee von Trauerweiden erregt, die unsern höchsten Waldbäumen an Höhe nichts nachgaben und dabei ihre dichten Zweige von der kuppelförmigen Spitze bis auf den Boden hinabhängen ließen. Leider ist diese prächtige Baumallee im Jahre 1877 dem russisch-türkischen Kriege zum Opfer gefallen. Der Weg, den unsere gut berittene Expedition einschlug, führte gleich hinter der Stadt in dem Thale eines kleinen Gebirgsflusses mit gleichmäßig üppigem Baumwuchse aufwärts. An den gewaltigen Eichen und Kastanien fiel mir auf, daß sie vielfach, besonders an sonnigen Stellen, eine ganz braune Umhüllung hatten, die kein grünes Blatt mehr an ihnen entdecken ließ. Es war wilder Hopfen, der sie bis zum höchsten Wipfel hinauf bekleidete und ihnen durch seine gerade reifen, großen Dolden die Färbung verlieh. Da ich den großen Werth des Hopfens kannte, schlug ich dem General Heymann nach der Rückkehr vor, diesen Hopfen doch durch seine Soldaten einsammeln zu lassen und zunächst eine Probe zur Untersuchung nach Deutschland zu schicken. Der General that dies auch, aber die Prüfung fiel leider, wie ich hier gleich bemerken will, sehr ungünstig aus; es war mir nicht bekannt gewesen, daß wilder Hopfen keinen Bitterstoff besitzt, dieser den Dolden der weiblichen Hopfenpflanzen vielmehr nur dann erhalten bleibt, wenn alle männlichen Pflanzen sorgfältig fern gehalten werden, was bei dem wilden Hopfen natürlich nie der Fall ist.

Unser Reitpfad führte uns den ganzen Tag durch gleich schöne, von keiner menschlichen Kultur berührte Landschaften in die Höhe. Dabei wurden wir oft durch entzückende Fernsichten auf das sich allmählich vor uns erhebende, schneebedeckte Hochgebirge und auf den glänzenden Spiegel des zu unsern Füßen liegenden Meeres erquickt. Gegen Abend erreichten wir eine der kleinen befestigten russischen Lagerstätten, deren Vorschiebung auf den neu hergestellten Communicationswegen das Mittel war, durch welches die russische Kriegsmacht schließlich den Widerstand der tapfern Tscherkessen brach.

Am nächsten Morgen setzten wir mit Sonnenaufgang unsern Ritt fort und näherten uns nun dem Hochgebirge. Dabei hatten wir vielfach Gelegenheit, den kühnen Straßenbau der Russen zu bewundern; es waren da Hindernisse besiegt, die auf den ersten Anblick ganz unübersteiglich erschienen. Wir gelangten ohne große Mühe bis zur Grenze des schon mit dem Namen Cibelda bezeichneten Landstriches, der das Vorland der eigentlichen Hochburg dieses Namens bildet. Zu diesem gab es nur einen einzigen Eingang einer tiefen Bergspalte entlang, in deren Grunde ein wilder Gebirgsfluß seinen tosenden Lauf nahm. Die Spalte wurde auf der Seite, von der wir kamen, durch eine sicher über tausend Fuß hohe, fast senkrecht stehende und wohl über eine Werst lange Felswand begrenzt. Etwa in halber Höhe hatte sich in ihr ein horizontal verlaufender Absatz gebildet, der gerade so breit war, daß er zur Noth als Reitpfad dienen konnte. Dieser Pfad war der einzige Zugang zur Cibelda, ihn mußten wir also passiren. Der Officier ritt voran, nachdem er uns den Rath ertheilt hatte, nicht in den Abgrund, sondern immer auf den Kopf des Pferdes zu blicken und dieses ganz frei gehen zu lassen. Wir erreichten in tiefem Schweigen glücklich etwa die Mitte des Engpasses; an der Kante des Weges hatte sich etwas Vegetation festgesetzt, wodurch der Blick von der gähnenden Tiefe abgelenkt wurde. Da bemerkte ich plötzlich, wie das Pferd meines Vordermannes, des Officiers, vorn ganz niedrig wurde, und gleichzeitig sah ich, wie dieser sich an der Seite der Felswand ruhig aus dem Sattel schwang. Auch das Pferd verlor seine Ruhe nicht, sondern erhob sich wieder und setzte neben dem Officier seinen Weg fort. Ich hielt es unwillkürlich für gerathen, es ebenso zu machen wie mein Vordermann, und ließ mich auch an der Seite der Felswand vom Pferde gleiten. Als ich die gefährliche Stelle glücklich passirt hatte, wo das Pferd des Officiers, durch die Vegetation irre geführt, den Fehltritt gethan hatte, sah ich mich mit Besorgniß nach meinem mir folgenden Bruder um, nahm aber zu meiner Beruhigung wahr, daß nicht nur er, sondern die ganze Kolonne der Reiter unserm Beispiele bereits gefolgt war. Auf diese Weise erreichten wir Alle wohlbehalten das Ende des Engpasses und erholten uns bald darauf in einer zauberhaft schönen, nach dem tiefen und ziemlich breiten Flußthale hin offenen Grotte, deren Wände und Decke von zarten Moosen bekleidet waren, bei einem guten Mahle von den überstandenen Mühen und Schrecken.

Von hier ab hörte jeder Weg auf, und es war mir ganz räthselhaft, wie unser Führer in dem prächtigen Urwalde, den wir nun passiren mußten, sich zurecht zu finden vermochte. Die Formation des Bodens war auf der folgenden Strecke eine sehr eigenthümliche. Es waren mächtige, von Osten nach Westen verlaufende, wellenförmige Erhebungen von vielleicht siebenhundert Fuß Höhe, die wir wiederholt überschreiten mußten. Ihre südlichen Abhänge waren mit herrlichen Bäumen, meist Eichen, Kastanien und Walnußbäumen bestanden, deren Kronen eine so vollständige Decke bildeten, daß die Plage der Lianen und andrer Schlinggewächse unter ihr nicht zur Entwicklung kommen konnte. Die Bäume hatten ganz gewaltige Dimensionen. Wohl noch nie hatte hier eines Menschen Hand den natürlichen Verlauf des Wachsthums beeinflußt, und so standen alte, verdorrte Baumriesen neben üppig grünenden, während Bäume einer jüngeren Generation die am Boden liegenden, wohl durch Stürme gefällten mächtigen Baumstämme beschatteten. Es kostete oft viel Mühe, eine solche Baumleiche, die gerade den Weg versperrte, zu umgehen, denn Krone und Wurzelwerk bildeten an ihren Enden wirksame Verhaue. Manche dieser niedergeworfenen Stämme waren so dick, daß ein Reiter zu Roß nur eben über sie fortsehen konnte. Hin und wieder waren sie glücklicherweise hohl gelagert, so daß wir unter ihnen hindurchreiten konnten.

Ein ganz anderes Bild bot sich uns, wenn wir den Gipfel eines solchen Bergrückens überschritten hatten und auf seinem nördlichen Abhange wieder hinunter mußten. Hier hatte die Sonne nicht die Macht gehabt, den Boden zu trocknen. Der ganze Abhang war trotz seiner Steilheit sumpfig, so daß die Hufe der Pferde in dem zähen Erdreich stecken blieben und wir mehrfach genöthigt waren, abzusteigen und unsern Pferden zu helfen. Auch wucherten hier zahllose Schlinggewächse, die uns zu großen Umwegen zwangen, und die von uns gesuchten Stellen, welche zu großer Feuchtigkeit wegen von Schlingpflanzen frei waren, trugen eine Vegetation schilfartiger Pflanzen von solcher Höhe, daß sie Roß und Reiter überragten. Einmal wurde der Boden so abschüssig, daß die Pferde nicht mehr weiter konnten. Ich mußte da die Findigkeit unsrer Russen bewundern, sie suchten eine besonders steile und schlüpfrige Stelle aus und ließen die Pferde auf derselben einzeln an Seilen, die an ihren Schweifen befestigt waren, vorsichtig hinunter, während wir selbst ohne ein solches Hemmniß hinabglitten.

Bei dem nächsten Aufstiege machte ich die Entdeckung, daß der Schweif der kaukasischen Bergpferde bei schwierigen Bergtouren noch eine andere wichtige Rolle spielt. Wir mußten die besonders steile Höhe zu Fuß hinaufklimmen, um die schon sehr angestrengten Pferde zu schonen, die uns nothwendig noch vor Sonnenuntergang ans Ziel zu bringen hatten, und ich fand mich bald am Ende meiner Kräfte. In meiner Noth fiel mir ein, den Schweif des ganz munter neben mir den steinigen Pfad hinaufkletternden Pferdes zu ergreifen. Dem schien das ein bekanntes Verfahren zu sein; es verdoppelte seine Anstrengung, und ich gelangte ohne Mühe auf den Kamm des Berges, wo mich der Officier mit dem zustimmenden Rufe »Kaukasische Manier!« empfing. Als ich mich nach meinen Hintermännern umsah, fand ich sie zu meiner Ueberraschung sämmtlich auch an den Schweifen ihrer Pferde hängen.

Bei sinkender Sonne erreichten wir endlich ein enges Felsenthor, das den Eingang in die eigentliche Naturfestung der Cibelda bildet. Als wir dasselbe passirt hatten, breitete sich vor uns ein Schauspiel von einer solchen Großartigkeit und Schönheit aus, daß es mich im ersten Augenblicke fast niederdrückte. Vor uns lag im hellen Abendsonnenglanze der mächtige, bis tief hinunter mit Schnee bedeckte Elbrus. Rechts und links neben ihm sah man eine Reihe weiterer Schneeberge, die sich namentlich zur Rechten zu einer langen Kette entwickelten. Tief unter uns lag ein noch zum Theil von der Sonne bestrahltes, felsiges Flußthal, das den Fuß des Elbrus begrenzte, dessen steiler, baumloser Abhang ohne sichtbare Unterbrechung in breiter Fläche zu ihm abstürzte. Der Anblick erinnerte mich etwas an den, welchen man von Grindelwald auf die sonnenbeleuchtete Hochalpenkette hat, nur thronte der mächtige Elbrus inmitten des Bildes, wie wenn zwei Jungfrauen aufeinander gethürmt wären.

Nachdem wir uns an dem überraschenden und unvergleichlich schönen Anblicke gelabt hatten, durchzogen wir die ziemlich ausgedehnte Ebene, die sich vor uns ausbreitete und den Aul des ein Jahr zuvor ausgewanderten Stammes der Cibeldaer enthielt. Es war nicht leicht, auf der mit über mannshohen Klettenpflanzen dicht bewachsenen Ebene vorwärts zu kommen und den Weg zum Aul zu finden. Ein von Bären durch das Gesträuch gebrochener Weg kam uns dabei zu statten; von Bären mußte er herrühren, das konnte man aus den umherliegenden Kernen der Kirschlorbeerfrüchte schließen, die ein beliebtes Nahrungsmittel für die Bären der dortigen Gegend bilden. Die Holzhäuser des großen Aul standen noch ganz unversehrt, so wie ihre Bewohner sie vor einem Jahre verlassen hatten; nur von den Nahrung suchenden Bären waren einige Zerstörungen verursacht.

Als wir uns einquartiert hatten, mußten wir zunächst suchen, uns wieder ein menschliches Ansehen zu verschaffen, denn beim Durchbrechen der dichten Klettenvegetation, welche die ehemaligen Gärten des Aul fast undurchdringlich machte, war jeder Zoll unsrer Kleidung wie unsrer Bärte von einer Klettenschicht besetzt, so daß wir selbst braunen Bären ähnlicher sahen als Menschen. Das Entfernen der Kletten war eine außerordentlich mühsame und zum Theil schmerzhafte Arbeit.

Nach erquickender Nachtruhe in den verlassenen Wohnstätten untersuchte unser Bergmann die alte Kupfergrube, die er für nicht bauwürdig erklärte; wäre sie das aber auch in höchstem Maaße gewesen, ihre Lage hätte doch jeden Bergwerksbetrieb unmöglich gemacht. Mein Bruder Otto und ich hatten unter dessen die überwältigende Großartigkeit und erhabene Schönheit der Umgebung in vollen Zügen genossen. In der Morgenbeleuchtung erkannte man noch besser als am Abend die wilde Zerrissenheit der uns zugewandten Fläche des Elbrus mit ihren Eisfeldern und Gletschern, deren Anblicke die im Sonnenschein glänzenden Linien der an den Abhängen niederstürzenden Wasserläufe noch einen besonderen Reiz verliehen. Die Hochebene, auf der wir standen, fällt schroff zu dem Flußthale ab, das sie vom Elbrus trennt; auf den anderen Seiten ist sie rings von hohen Bergen umgeben, die dem Elbrus gegenüber im üppigsten Grün kaukasischer Vegetation prangten. Ein Rundgang an der dem Flusse zugekehrten Kante der Ebene bot immer wieder neue, von allen früheren ganz verschiedene Ansichten von einer Erhabenheit und Schönheit, die jeder Beschreibung spotten.

Die Rückreise nach Suchum-Kalé legten wir auf demselben Wege wie die Hinreise zur Cibelda zurück, aber in Folge der gemachten Erfahrungen mit geringeren Beschwerden. Leider mußte ich jetzt dem gefährlichen Klima dieses unvergleichlich schönen Landes meinen Tribut zollen. Schon in dem russischen Fort, in dem wir wieder übernachteten, fühlte ich mich krank. Der junge Militärarzt, der uns begleitete, erkannte sofort, daß ich von dem gefährlichen Fieber jener Gegend befallen war, und wandte ohne Verzug die dort übliche Behandlung desselben auf mich an. Bevor noch das Fieber zum vollen Ausbruch gekommen war, erhielt ich eine gewaltige Dosis Chinin, die mir starkes Ohrensausen und andere unangenehme Empfindungen verursachte, das Fieber aber nur milde auftreten ließ, so daß ich die Reise vollenden konnte. Das Fieber ist in der Gegend von Suchum-Kalé ein dreitägiges; am dritten Tage bekam ich daher eine zweite, schon etwas schwächere Dosis mit der Anordnung, nach abermals drei Tagen eine dritte, noch schwächere zu nehmen. Damit war das Fieber in der That abgeschnitten, ich litt jedoch in der Folgezeit oft an unerträglichen Milzstichen, wie der Arzt es vorhergesagt hatte.

Ich hatte in früheren Jahren wiederholt am Wechselfieber gelitten und mußte dagegen Monate lang täglich kleine Chinindosen nehmen, die meiner Gesundheit empfindlich schadeten. Im Kaukasus, wo klimatische Fieber vielfach und in den verschiedensten Formen vorkommen, wendet man stets die geschilderte Behandlung mit dem besten Erfolge an. Es giebt freilich dort auch so bösartige Fieber, daß sie gleich bei dem ersten Anfalle zum Tode führen. Die Fieber erzeugenden Gegenden sind zwar in der Regel die sumpfigen und mit üppiger Vegetation bedeckten, doch gelten auch hochgelegene, trockene Grasflächen oft für ungesund. Ich habe auf meinen Reisen die Beobachtung gemacht, daß solche Gegenden meist die Spuren alter, hochentwickelter Kultur tragen, wie es ja auch in der Umgebung von Rom und in der Dobrudscha der Fall ist, die in alten Zeiten als Kornkammer Roms bezeichnet wurde. Das Fieber tritt in solchen Gegenden besonders dann sehr stark auf, wenn der Boden aufgerührt wird. Die Fieberkeime müssen sich in dem fruchtbaren, gut gedüngten Boden, der später Jahrhunderte lang unbearbeitet blieb und durch eine Grasnarbe dem Luftzutritt entzogen war, nach und nach bilden, und es stellt sich danach die Malaria als eine Strafe der Natur für unterbrochene Bodenkultur dar. Dies in Verbindung mit der kaukasischen Fieberbehandlung brachte mich schon damals zu der Ueberzeugung, daß das klimatische Fieber auf mikroskopischen Organismen beruhte, die im Blute lebten, und deren Lebensdauer die des Zeitintervalles zwischen den Fieberanfällen wäre. Durch die starke Chinindosis kurz vor dem Anfall wird die junge ausschwärmende Brut dieser Organismen vergiftet. Auch für die merkwürdige Thatsache, daß Leute, die lange in einer Fiebergegend gelebt haben, meistens vor dem Fieber gesichert sind, diese Immunität aber verlieren, wenn sie mehrere Jahre in fieberfreien Gegenden zugebracht haben, glaubte ich eine Erklärung durch die Annahme zu finden, daß in Gegenden, wo die Fieberkeime dem Körper fortlaufend zugeführt würden, sich im Körper Lebewesen herausbildeten, welche von diesen Keimen lebten und daher zu Grunde gingen, wenn diese Nahrungsquelle lange Zeit versiegte. – Es war dies natürlich nur eine unerwiesene Hypothese, die von meinen medicinisch geschulten Freunden, denen ich sie damals mittheilte, wie du Bois-Reymond mit vollem Rechte auch nur als solche gewürdigt wurde. Es hat mich aber doch gefreut, daß in neuerer Zeit die bakteriologischen Studien großer Meister sich in der vor einem Vierteljahrhundert von mir angedeuteten Richtung bewegen. –

Unsere zweite Tour in den großen Kaukasus galt ebenfalls der Untersuchung eines in sehr unzugänglicher Gegend gelegenen Erzlagers, das einer grusinischen Fürstenfamilie gehörte. Wir reisten von Tiflis zunächst nach Tzarskie-Kolodzy, wo unsere Tifliser Filiale ein Petroleumwerk betrieb, das nach Vollendung der Eisenbahn von Tiflis nach Baku wieder aufgegeben wurde. Von dort führte unser Weg in das durch den feurigen Kachetiner berühmte Weinland Kachetien, welches im Thale des Alasan liegt und durch einen tief in die Steppenebene hineinragenden Bergrücken vom Kurthale getrennt wird. Von der Höhe dieses Bergrückens hatten wir großartige Blicke auf den Kaukasus, der sich von dort als eine ununterbrochene Kette weißer Berghäupter, vom schwarzen bis zum kaspischen Meere reichend, darstellte.

Kachetien gilt als das Urland der Weinkultur, und es finden in dem Hauptorte des Landes uralte Dankfeste statt, die an die römischen Saturnalien erinnern. Hoch und Niedrig strömt dann aus ganz Grusinien in dem Festorte zusammen und bringt Gott Bacchus reichliche Trankopfer in Kachetiner Wein, wobei allgemeine Brüderlichkeit herrschen soll. Auch sonst rühmt man dem Kachetiner nach, daß er denen, die ihn dauernd trinken, lebensfrohe Heiterkeit zu eigen mache, und Kenner des Landes wollen namentlich die Bewohner von Tiflis überall an dieser Heiterkeit erkennen.

Wir legten den angenehmen und interessanten Ritt durch Kachetien unter Führung zweier Söhne der Fürstenfamilie zurück, die uns zur Besichtigung ihres Erzlagers eingeladen hatte. Am Fuße des Hochgebirges schloß sich der alte Fürst mit noch einigen Söhnen uns an. Merkwürdig war der Stammsitz der Familie, in welchem wir die Nacht zubrachten. Er bestand in einem am Fuße des Gebirges, aber noch in der Ebene gelegenen großen Holzhause, das auf etwa vier Meter hohen Pfosten aufgebaut war. Eine niedergelassene, bequeme Leiter bot die einzige Möglichkeit, in das Haus zu gelangen. Es war ein richtiger prähistorischer Pfahlbau, dessen System sich in der conservativen kaukasischen Luft bis in unsere Tage erhalten hat. Im Inneren des Hauses fanden wir einen großen, die ganze Breite des Gebäudes einnehmenden Saal, in welchem sich an der einen, mit vielen Fenstern versehenen Wand ein über zwei Meter breiter Tisch durch den ganzen Raum erstreckte. Dieser Tisch bildete das einzige, in dem Saale sichtbare Möbel und hatte die verschiedenartigsten Zwecke zu erfüllen. Zum Mittagsmahle wurde auf ihn der Kante entlang ein Teppich von etwa halber Tischbreite gedeckt, auf dem dann Speisen und Brotfladen aufgetragen wurden. Die großen, dünnen Brotfladen dienten nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als Tischdecke und Serviette, sowie zum Reinigen der Eßgeräthschaften. Für uns Fremde wurden Stühle herbeigebracht; als wir uns darauf niedergelassen hatten, sprangen der alte Fürst und nach ihm seine Söhne auf den Tisch und kauerten sich uns gegenüber bei ihren Brottüchern nieder. Mit Messern und Gabeln waren nur wir Gäste versehen, die Fürsten speisten noch echt orientalisch mit den Fingern. Das Essen selbst war äußerst schmackhaft, namentlich das Filet-Schischlick hätte im feinsten Berliner Restaurant Furore gemacht. Während des Mahles kreiste fleißig Kachetinerwein in Büffelhörnern; störend war nur, daß die Sitte verlangte, das gefüllt überreichte Horn zu Ehren jeder Person, deren Gesundheit proponirt wurde, auch auszutrinken. Lange hielten wir nicht auf Massentrinken dressirten Europäer das nicht aus. – Eine zweite Bestimmung des großen Tisches im Saale lernten wir zur Nacht kennen; sämmtliche Lagerstätten, für uns sowohl wie für die Fürsten wurden auf ihm hergerichtet.

Am nächsten Morgen brachen wir in aller Frühe auf und stiegen nun am Abhange der großen Kaukasuskette in die Höhe. Schnell und unermüdlich brachten uns unsere Pferde auf dem felsigen Wege vorwärts. Als es zu dunkeln begann, waren wir dem Ziele nahe und bezogen ein Bivouak oder vielmehr eine Beiwacht, wie man lieber wieder sagen sollte, auf einem herrlichen Bergrücken zwischen zwei sich vereinigenden Gebirgsbächen. Unter dem schützenden Dache gewaltiger Baumriesen lagerten wir uns an einer Stelle, die freie Aussicht über das zu unsern Füßen sich ausbreitende Kachetien und die dahinterliegende Berglandschaft gewährte. Mit überraschender Geschicklichkeit erbauten die Trabanten der Fürsten eine Hütte aus Zweigen über unsere Lagerreihe, den Blick über die nicht angenehmer ruhen konnte. Dann wurde schnell das Mahl bereitet, welches wir liegend verzehrten. Nach demselben lagerten sich die Fürsten und ihre Begleiter uns gegenüber und begannen ein landesübliches Zechgelage mit einer Art Glühwein aus edlem Kachetiner, wobei ein Jeder der Fürsten mich und meinen Bruder Otto mit einigen, wahrscheinlich sehr schmeichelhaften Worten hochleben ließ, in der Erwartung, daß auch wir unsere Hörner daraufhin leeren würden. Die Fürsten sprachen nur grusinisch, ein Dolmetscher übersetzte uns ins Russische, was sie sagten. Unsere deutschen Antworten verstand Keiner der Anwesenden, ein Umstand, von dem mein übermüthiger Bruder Otto einen etwas gefährlichen Gebrauch machte, indem er die Antwortreden. die ich ihm überließ, zwar mit äußerst verbindlichen Manieren in Stimme, Ton und Bewegungen, aber mit einem die Scene arg parodirenden Inhalte erwiederte, der uns sicher Dolchstöße eingetragen hätte, wenn seine Worte verstanden wären, und wir uns nicht bemüht hätten, ihnen durch ernstes, hochachtungsvolles Mienenspiel einen guten Schein zu geben.

Als wir am folgenden Morgen unser Räuschchen in der erquickenden frischen Luft des Hochgebirges zwischen den rauschenden Bächen ohne irgend welchen unangenehmen Nachklang glücklich verschlafen hatten, besichtigten wir den Erzgang, der zwar reich aber noch nicht aufgeschlossen war und durch seinen beschwerlichen Zugang einer Ausbeutung unüberwindliche Hindernisse bot. Nachdem wir zu dieser Erkenntniß gekommen waren, wurde alsbald der Rückweg angetreten. Mit sinkender Sonne langten wir wieder bei dem Pfahlbaupalaste an und brachten noch eine Nacht unter seinem gastlichen Dache zu. Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von unsern Fürsten und ritten durch das Thal von Kachetien zurück in der Absicht quer durch die Steppe direct nach Kedabeg zu reisen. Da Räuber in der Gegend hausten, gab uns der Distriktschef eine Sicherheitswache aus Leuten mit, die des Räuberhandwerks selbst verdächtig waren. Unter ihren gastlichen Schutz gestellt, reisten wir nach Landesbrauch vollkommen sicher.

Schwierigkeiten bereitete uns auf dem Wege der Uebergang über den breiten und schnell strömenden Kur, dessen linkes Ufer wir zur Mittagszeit erreichten. Wir fanden einen einzigen kleinen Nachen vor, der nur wenige Personen tragen konnte, entdeckten aber keine Ruder zu seiner Fortbewegung, die übrigens bei der schnellen Strömung auch nicht viel genutzt haben würden. Die von unsern Begleitern benutzte Uebergangsmethode war sehr interessant, und ich empfehle sie dem Herrn Generalpostmeister zur Aufnahme in die Beschreibung der Urzeit der Post. Die beiden besten Pferde wurden ins Wasser geführt, bis sie den Boden unter den Füßen verloren. Dann ergriffen zwei im Boote befindliche Tataren ihre Schwänze und ließen sich sammt dem Boote und etlichen Passagieren von den schwimmenden Pferden über den Strom ziehen. Als das Boot nach Absetzung der Passagiere auf dieselbe Weise zurückgebracht war, führten sie mit anderen Pferden eine zweite Gesellschaft über, und so ging es fort, bis nur noch Tataren zurückgeblieben waren. Zuletzt führten diese ihre Pferde ins Wasser und ließen sich an ihren Schwänzen hängend hinüberziehen.

Ich war mit meinem Bruder bis zuletzt mit unserer etwas bedenklichen Sauvegarde auf dem linken Ufer des Flusses zurückgeblieben. Unsere Beschützer hockten verdächtig zusammen und warfen uns Blicke zu, die uns nicht recht gefallen wollten. Cigarren, die wir ihnen anboten, wiesen sie stolz zurück – wie wir erst später erfuhren, weil sie als bigotte Schiiten aus der Hand ungläubiger Hunde Nichts annehmen durften. Es schien uns daher zweckmäßig, den Leuten Respekt vor unserer Wehrfähigkeit beizubringen. Wir richteten ein angeschwemmtes Brett als Ziel auf und schossen nach ihm mit unseren Revolvern, auf die wir gut eingeübt waren. Jeder Schuß traf ohne langes Zielen auf große Entfernung das Brett. Das interessirte unsere Begleiter sehr, und sie versuchten selbst, mit ihren langen, schön geputzten Steinschloßgewehren unser Ziel zu treffen, was ihnen aber nicht immer gelang. Darauf kam ihr Scheik zu mir und gab durch Zeichen zu verstehen, ich möchte ihm meinen Revolver zeigen und ihn auf die Erde legen, da er aus meiner Hand Nichts nehmen dürfe. Dies war ein kritischer Moment, doch auf Ottos Zureden entschloß ich mich dem Wunsche zu willfahren und legte den Revolver hin. Der Scheik nahm ihn auf, betrachtete ihn von allen Seiten und zeigte ihn kopfschüttelnd seinen Genossen. Darauf gab er ihn mir mit Dankesgeberden zurück, und unsere Freundschaft war von jetzt an besiegelt. Mißtrauen gegen die Erfüllung des heiligen Gastrechtes kann bei diesen Leuten sehr gefährlich werden, dagegen ist der Fall äußerst selten, daß das Vertrauen des Gastes getäuscht wird. Es ist allerdings vorgekommen, daß der Gast freundlich bewirthet und bis zur Grenze des Reviers sicher geleitet, dann aber auf fremdem Grund und Boden niedergeschossen wurde, doch gilt das nicht für anständig. Nach Ueberschreitung des Kur erreichten wir ohne weitere Abenteuer Kedabeg.

Auf allen unseren Touren im Gebirge hatten wir Gelegenheit gehabt, die Geschicklichkeit und Ausdauer der kleinen kaukasischen Bergpferde zu bewundern. Unermüdlich und ohne Fehltritt klettern sie mit ihren Reitern die steilsten und schwierigsten Gebirgspfade hinauf und hinunter; ohne sie wären die zerrissenen und vielfach zerklüfteten Bergländer kaum zu passiren. Es gilt im Kaukasus allgemein für sicherer, schwierige Bergtouren zu Pferde als zu Fuß zu machen. Daß es freilich auch Ausnahmen von dieser Regel giebt, dafür erlebte ich während meines zweiten Besuches von Kedabeg an mir selbst ein Beispiel. Das bis in den Dezember hinein immer heitere und schöne Herbstwetter ging unerwartet schnell in Regenwetter mit gelindem Schneefall über. Wir wollten gerade das Schamchorthal besuchen und benutzten den etwas beschwerlichen Reitweg dorthin, der den wilden Kalakentbach bis zum Schamchor hinunter begleitet. Als es aber stärker zu schneien anfing, fanden wir es gerathen umzukehren, um uns den Rückweg nicht ganz verschneien zu lassen. Es war erstaunlich, mit welcher Sicherheit unsere Pferde den schon ziemlich hoch mit Schnee bedeckten Bergpfad, der dicht neben dem tief eingeschnittenen Flußbette herlief, zu finden vermochten und stets die sicheren Stützpunkte des Terrains benutzten. Ich ritt unmittelbar hinter meinem Bruder Otto und bemerkte, daß gerade an einer gefährlichen Stelle hart an der Kante des hier mehrere Meter tief senkrecht abfallenden Ufers unter der Last seines Pferdes ein Stein locker wurde. Einen Moment später trat mein Pferd auf denselben Stein, der sich dadurch ganz ablöste und meinen Absturz herbeiführte. Ich entsinne mich nur, einen Schrei der nachfolgenden Reiter gehört zu haben, und daß ich dann aufrecht mitten im Flußbette stand, mein Pferd neben mir. Nach Angabe meiner Gefährten soll sich das Pferd seitlich mit mir überschlagen haben und dann gerade auf seine Füße zu stehen gekommen sein. Es war jedenfalls ein merkwürdig glücklicher Ausgang.

Von den Heimreisen, für die ich beide Male den Weg über Constantinopel wählte, war namentlich die erste noch reich an besonderen Erlebnissen. Das schöne Wetter hielt bis Mitte Dezember stand, erst nachdem wir Kedabeg verlassen hatten, änderte es sich, und auf dem Rion überfiel uns ein fürchterliches Unwetter. Mit Mühe und Noth erreichten wir Poti, mußten dort aber erfahren, daß das Dampfschiff, welches uns weiter bringen sollte, bereits vorübergefahren wäre, da eine Einschiffung bei solchem Wetter unmöglich war. Wir, nämlich die ganze auf dem Flußdampfer angekommene Gesellschaft, waren also gezwungen, in dem einzigen, höchst traurigen sogenannten Hotel des Ortes für eine Woche Unterkommen zu suchen. Es ist das wohl die unangenehmste Woche meines Lebens gewesen. Ein heftiger Sturm wüthete die ganze Nacht, nicht nur draußen sondern auch in meinem Zimmer. Wiederholt erhob ich mich, um Fenster und Thür zu untersuchen, fand jedoch Alles geschlossen. Am nächsten Morgen aber sah ich mein Zimmer voller Schneeflocken und entdeckte, daß sie durch weite Spalten im Fußboden eingedrungen waren Die Häuser sind in Poti des sumpfigen Bodens halber auf Pfählen erbaut, dadurch fand dieses Wunder des Schneefalles im geschlossenen Zimmer seine Erklärung. Das Unwetter dauerte ohne Unterbrechung mehrere Tage, und was mir den Aufenthalt noch besonders unangenehm machte, war, daß ich mir eine heftige Bindegewebeentzündung des einen Auges zu gezogen hatte. Diese schmerzhafte, durch keine ärztliche Hülfe gelinderte Entzündung, die enge, mit Leuten aller Stände und Nationalitäten gefüllte Wirthsstube, dazu schlechte Verpflegung und Mangel an jeder Bedienung machten einem das Leben daselbst wirklich unerträglich.

Endlich kam der heißersehnte Dampfer in Sicht und trotz heftigen Seeganges gelang es ihm auch, mich mit noch drei anderen Reisegefährten an Bord zu nehmen. Die Fahrt war bis zum Eingange in den Bosporus sehr stürmisch und stellte unsere Seefestigkeit auf eine harte Probe. Wir bestanden sie aber alle Vier zur großen Verwunderung des Kapitäns. Der Schiffsgesellschaft gehörte ein russischer General an, Konsul in Messina und, wie ich erst später erfahren sollte, Vater einer sehr liebenswürdigen Tochter, der jetzigen Frau meines Freundes Professor Dohrn in Neapel; ferner ein junger russischer Diplomat, der sich in der Folge zu hohen Posten aufgeschwungen hat, und endlich ein höchst origineller österreichischer Hüttenbesitzer, der seine lange Pfeife nie kalt werden ließ, wenn er nicht gerade aß oder schlief. Da auch der Kapitän ein sehr unterrichteter, kluger Mann war, so verging uns die ungewöhnlich lange Seefahrt doch schnell und angenehm trotz Sturm und Wogendrang.

In Trapezunt, wo wir auf einige Stunden vor Anker gingen, überstand ich wieder einen meiner vielen kleinen Unglücksfälle. Ich hatte einen Spaziergang auf das oberhalb der Stadt gelegene Plateau gemacht, um noch einmal die herrliche Aussicht von dort zu genießen, und kehrte auf der schönen neuen Chaussee, die auf der schroff abfallenden Seeseite ganz ohne Geländer war, wieder zur Stadt zurück. Da kam mir eine große, mit Getreidesäcken beladene Eselheerde entgegen. Unbedachter Weise stellte ich mich auf die geländerlose Seeseite, um die Heerde an mir vorüber zu lassen. Das ging anfangs auch recht gut, allmählich wurde die Heerde aber immer dichter und nahm schließlich die ganze Breite der Chaussee ein. Kein Abwehren und kein Schlagen half, die Thiere konnten beim besten Willen nicht ausweichen. Der Versuch, auf einen der Esel zu springen, mißlang, ich mußte den Eseln weichen und fiel am steilen Mauerwerk hinunter in Schmutz und Strauchwerk, wodurch zum Glück die Wucht des hohen Falles gemildert wurde. Nachdem ich gefunden hatte, daß ich ohne ernste Beschädigungen davongekommen war, arbeitete ich mich mühsam aus den Dornen und Nesseln heraus und vermochte erst nach langen vergeblichen Anstrengungen die Chaussee wieder zu erklimmen. Zum Glück fand ich in der Höhe einen kleinen Teich, in welchem ich meine Kleider und mich selbst waschen konnte. Die immer noch kräftige Sonne bewirkte einigermaaßen schnelles Trocknen, und so wurde es mir denn möglich, ohne Aufsehen zu erregen durch die Stadt zu gehen und den Dampfer zu erreichen, der glücklicherweise meine Rückkehr abgewartet hatte.

Der starke Wind entwickelte sich auf der Weiterfahrt zum Sturm, so daß der Kapitän für sein altes Schiff fürchtete und im Hafen von Sinope Schutz suchte. Zweimal versuchte er an den folgenden Tagen die Reise fortzusetzen, wurde aber jedesmal in den sicheren Hafen zurückgetrieben. So hatte ich Gelegenheit, die Richtigkeit der Bezeichnung des schwarzen Meeres als des »ungastlichen«, welche die alten Griechen ihm gegeben hatten, durch eigene Anschauung zu erfahren.

Im Hafen von Pera fand ich gerade einen österreichischen Lloyddampfer zur Abfahrt nach Triest bereit, wo wir am Sylvesterabend glücklich und ungehindert landeten. unterwegs, in Syra und Corfu, waren wir als Pestverdächtige behandelt worden und hatten die berüchtigte gelbe Pestflagge hissen müssen, weil die Cholera in Aegypten grassirte.

Mit diesen beiden kaukasischen Reisen betrachte ich meine eigentliche Reifezeit als abgeschlossen, denn die heutigen europäischen Reisen im bequemen Eisenbahncoupé oder Postwagen sind nur Spazierfahrten zu nennen. Auch die dritte Reise nach Kedabeg, zu der ich mich rüste, um Abschied fürs Leben vom Kaukasus zu nehmen, wird kaum noch etwas anderes sein.

Harzburg, im Juni 1891.

Noch erfüllt von den frischen Eindrücken und angenehmen Erinnerungen meiner dritten kaukasischen Reise, die ich im vorigen Herbst, wie in Aussicht genommen, mit meiner Frau und Tochter ausgeführt habe, will ich meine weiteren Aufzeichnungen mit ihrer Beschreibung zunächst fortsetzen. Es wird dadurch dem Gegensatze am besten Ausdruck verliehen werden, in welchem diese mit allen erdenklichen Bequemlichkeiten als Vergnügungsreise unternommene Fahrt zu meinen beiden ersten Reisen nach Kedabeg stand.

Wir fuhren Mitte September von Berlin nach Odessa. Ich versäumte dort natürlich nicht, die Station der Indo-Europäischen Linie zu besuchen, und setzte mich in telegraphische Verbindung mit dem Direktor der Compagnie, Herrn Andrews in London. Ein solcher unmittelbarer telegraphischer Verkehr nach langer Reise hat stets etwas ungemein Anregendes, ich möchte fast sagen, Erhebendes. Es ist der Sieg des menschlichen Geistes über die träge Materie, der einem dabei ganz unmittelbar entgegentritt.

Von Odessa setzten wir unsere Reise nach der Krim fort, die ich selbst früher nur an den Haltestellen der zwischen Odessa und Poti verkehrenden Dampfer kennen gelernt hatte. Wir beschlossen das Schiff in Sebastopol zu verlassen und den Weg nach Jalta zu Wagen zurückzulegen. Die Fahrt wurde von prächtigem Wetter begünstigt und ließ uns mit Muße die herrliche Küstenlandschaft bewundern, die sich von dem anfangs steilen Abfalle der südlichen Hochebene der Krim bis zum Meere hinzieht. Vieles erinnerte uns hier an die Riviera, ja wir mußten manchen Orten der Krimküste sogar den Vorrang vor jener zuerkennen. Paradiesisch schön ist die Lage der Lustschlösser Livadia und Alupka, die der kaiserlichen Familie gehören, sowie die mancher anderen Niederlassung russischer Großen. Es fehlt aber das frisch pulsirende Leben der Riviera, welches bei dieser die landschaftlichen und klimatischen Reize so wesentlich unterstützt. Das Klima der südlichen Krimküste ist angenehm und fieberfrei und die stets schneller und bequemer werdenden Communicationsmittel werden ihr daher wohl bald einen größeren Touristenverkehr zuführen. Dagegen kann man von dem Klima der noch unvergleichlich viel schöneren und großartigeren östlichen Küste des hohen Kaukasus nicht ebenso Rühmliches sagen, denn es herrschen dort fast überall bösartige Wechselfieber, und die Aussicht, daß die ärztliche Wissenschaft diese große Plage der Menschheit überwinden werde, scheint bisher noch gering zu sein.

Es war ein interessantes Zusammentreffen, daß mich auf dieser dritten Reise nach dem Kaukasus gerade in den Gegenden, wo sich mir vor so vielen Jahren schon die Theorie aufgedrängt hatte, nach welcher das klimatische Fieber durch kleinstes Leben im Blute hervorgerufen würde, die frohe Botschaft erreichte, durch Kochs neueste Entdeckung sei eine Hauptplage der Menschheit, die Schwindsucht besiegt. Die Heilung sollte durch Einführung des durch die Schwindsucht erzeugenden Bakterien selbst erzeugten Giftes, als welches ihre Lebensproducte auftreten, in den Säftelauf der Kranken erfolgen. Die mitgetheilten Resultate ließen an der Richtigkeit des Factums nicht zweifeln, und wir Deutschen hörten mit Stolz allseitig unseren Landsmann als einen Wohlthäter der Menschheit preisen. Doch die Kochsche Annahme, daß die Lebensproducte der krankheitserregenden Bacillen das wirksame, tödtende Gift bilden sollten, erregte schon damals meine Bedenken. Man könnte sich wohl vorstellen, daß dies selbsterzeugte Gift die Fortentwicklung der Bacillen in den von ihnen in Besitz genommenen Körpertheilen hinderte, und dadurch die wunderbare Erscheinung sich erklärte, daß nicht jede Infectionskrankheit zum Tode des von ihr Befallenen führt, aber es erschien mir undenkbar, daß eine minimale Menge solcher giftigen Lebensproducte einer beschränkten Anzahl von Bacillen in einem anderen Körper so gewaltige Wirkungen hervorbringen könnte, wie sie nachgewiesen sind. Nur der Lebensproceß vermöchte dies, bei welchem nicht die Masse der eingeführten Keime, sondern die Lebensbedingungen, die für sie bestehen, und die Zeit, die ihre Vermehrung erfordert, für die Größe der Wirkung entscheidend sind. Die Frage nach der Entstehung dieser Keime, welche ein den Bacillen, denen sie entstammen, feindliches Leben entwickeln, scheint mir ungezwungen nur zu beantworten, wenn man annimmt, daß die Krankheit erzeugenden Lebewesen selbst Infectionskrankheiten unterworfen sind, durch welche sie ihrerseits in der Lebensthätigkeit gehindert und schließlich getödtet werden. Man müßte dabei annehmen, daß das Leben, und zwar sowohl das animalische wie das vegetabilische, nicht an die von uns noch durch Mikroskope erkennbaren Dimensionen geknüpft sei, sondern daß es Lebewesen gebe, die zu den Mikroben und Bakterien ungefähr in demselben Größenverhältniß stehen wie diese zu uns. Es stehen dieser Annahme keine naturwissenschaftlichen Bedenken entgegen, denn die Größe der Moleküle liegt jedenfalls tief unter der Grenze, welche den Aufbau solcher Lebewesen einer niederen Größenordnung noch gestattet. Der räthselhafte Selbstheilungsproceß, die nachfolgende Immunität, die sonst unerklärliche Wirkung der Einführung von Lebensproducten der krankheitserzeugenden Bacillen in den Säftelauf eines von derselben Krankheit befallenen Körpers würden bei dieser Annahme selbstverständliche Folgen der eingetretenen Infection der Krankheitserreger selbst sein, und die Aufgabe wäre künftig die, eine solche Infection herbeizuführen und zur möglichst schnellen Entwicklung zu bringen, da ja auch diese secundären Krankheitserreger selbst schnell verlaufenden Infectionskrankheiten durch Mikroben einer noch niederen Größenordnung unterworfen sein könnten. Sind aber nicht die Lebensproducte, sondern die secundären Krankheitsträger der Bacillen das Heilmittel, so müssen die Bacillen erst recht krank werden, bevor ihr Inhalt als Heilmittel wirken kann. Vielleicht liegt hierin der Grund für die unbefriedigende Wirkung des Kochschen Tuberkulins, und diese Anregung gereicht dann der Forschung auf diesem für die gesammte Menschheit so ungemein wichtigen Gebiete zum Nutzen. –

In Tiflis trafen wir mit meinem Bruder Karl zusammen, der uns auf der Weiterreise nach Kedabeg und Baku und zurück bis Petersburg begleitete. Schon in Berlin hatte sich der Reichstagsabgeordnete Dr. Hammacher uns angeschlossen und blieb ebenfalls bis Petersburg unser treuer Reisegefährte. Tiflis erschien mir in den 23 Jahren, die seit meinem letzten Besuche verstrichen waren, äußerlich nicht sehr verändert, aber es hat den früheren vornehmen Anstrich verloren und kann sich heute nicht mehr rühmen das asiatische Paris zu sein. Die Stadt war früher nicht nur großfürstliche Residenz, sondern auch Sitz des eingeborenen grusinischen Adels, der namentlich im Winter die Tifliser Geselligkeit beherrschte. Das ist jetzt anders geworden. Es residirt kein Großfürst mehr in Tiflis, und auch die vornehmen Grusiner sind fast ganz daraus verschwunden. Vor einem Vierteljahrhundert war die Stadt noch grusinisch, die besseren Grundstücke sowie auch die Stadtverwaltung waren in grusinischen Händen. Doch fing schon damals das Armenierthum an sich auszubreiten, und ganz allmählich ging der Grund und Boden in armenische Hand über. In früheren, kriegerischen Zeiten behaupteten die tapferen, kräftigen Grusiner den schlauen und geschäftsgewandten Armeniern gegenüber ihren Besitz und ihre gesellschaftliche Stellung. Das hörte aber auf, als unter russischer Herrschaft dauernder Friede und geordnete Rechtszustände eingetreten waren. Von der Zeit an stieg das armenische Element unaufhaltsam und das grusinische mußte weichen. Jetzt ist so ziemlich der ganze städtische Besitz armenische Verschwunden sind die stolzen, in Waffenschmuck starrenden Gestalten der Grusiner von den Tifliser Straßen, der Armenier bewohnt ihre Paläste und regiert heute die Stadt.

Das Völkergemisch des Kaukasus ist überhaupt sehr geeignet, um Studien über den Einfluß des Zusammenlebens specifisch verschiedener Menschenracen in kriegerisch bewegten sowie in friedlichen Zeiten zu machen. Auffallend ist es, daß im Kaukasus das jüdische Element sich dem armenischen gegenüber nicht als widerstandsfähig erwiesen hat. Juden giebt es dort zwar in ziemlicher Anzahl, sie sind aber sämmtlich Fuhrleute und gelten allgemein für Grobiane, die gern von ihrer überlegenen Körperkraft Gebrauch machen. Dem Handel haben sie ganz entsagt. Die Russen sind meist kluge und gewandte Geschäftsleute, können indessen, wie sie selbst zugeben, gegen Armenier und Griechen nicht aufkommen. Den Ruf der größten Raffinirtheit in allen geschäftlichen Beziehungen besitzt im Kaukasus wie im ganzen Orient der Grieche, doch sind die Armenier dem immer nur einzeln operirenden Griechen überall da überlegen, wo sie in Masse auftreten.

Als wir unsere Reise nach einigen Tagen mit der Eisenbahn fortsetzten, fanden wir am Fuße des Kedabeger Hochplateaus eine neue Eisenbahnstation, Dalliar, von der die Straße nach Kedabeg über die neue schwäbische Kolonie Annenfeld hinausführt. Hier trafen wir die schon erwähnte Rohrleitung im Bau, durch welche die mit der Bahn von Baku nach Dalliar geschaffte Naphta tausend Meter hoch nach Kedabeg hinaufgepumpt werden soll. Die Arbeiten für die Rohrlegung sowie für die Einrichtung der Pumpstation waren in bestem Gange, doch mußten wir die Hoffnung aufgeben, die Anlage noch vor Eintritt des Winters in Betrieb zu sehen.

Unsere Wagenfahrt von Dalliar nach Kedabeg gestaltete sich zum großen Ergötzen meiner Damen zu einem echt orientalischen Schauspiele. Die Begs der Umgegend hatten von der Ankunft der Besitzer des von ihnen angestaunten Hüttenwerkes gehört und ließen es sich nicht nehmen, uns mit ihren Hintersassen festlich zu begrüßen und nach Kedabeg zu geleiten. Diese Gesellschaft erneuerte und vergrößerte sich auf dem etwa vierzig Kilometer langen Wege fortwährend; sie umschwärmte auf ihren behenden kaukasischen Bergpferden, meist in starkem Galopp bergauf wie bergab unsre Wagen und bot in ihrem kaukasischen Kostüm und Waffenschmuck ein höchst anziehendes Schauspiel. Im Vorbeijagen machten die Leute die halsbrecherischesten Reiterkunststücke, wobei sie ihre Gewehre abschossen, so daß unser Zug mehr den Eindruck einer kriegerischen Begegnung als den eines friedlichen Empfanges erweckte. In der Nähe Kedabegs gesellte sich noch die ganze Bevölkerung des Ortes mit den Arbeitern der Grube und Hütte hinzu. Im Direktionsgebäude wurden wir von den Damen unseres Direktors, des Herrn Bolton, empfangen und auf das bequemste untergebracht. Wir profitirten während unseres Aufenthaltes etwas von dem einige Wochen zuvor stattgehabten Besuche des jungen Kronprinzen von Italien, der in Begleitung der russischen Großen des Kaukasus unser Berg- und Hüttenwerk besichtigt hatte. Zur Aufnahme und Bewirthung dieser Gäste waren natürlich außergewöhnliche Veranstaltungen getroffen, die sich namentlich auf Vorkehrungen für ein bequemes Befahren der Grube und Beschaffung eines improvisirten Salonwagens für unsere Eisenbahn erstreckt hatten. Wiederholt unternahmen wir in diesem auf der romantisch gelegenen, oft bedenklich kühn über Abgründe geführten Bahn die Fahrt nach dem Vorwerke Kalakent und dem Schamchor.

Trotz des oft etwas belästigenden Hüttenrauches genossen wir bei herrlichem Herbstwetter in vollen Zügen die Reize der schönen Umgebung Kedabegs. Zu den besonderen Genüssen war eine Bärenjagd zu zählen, die wir in dem sogenannten Paradiese abhielten. Diesen Namen führt eine kleine, von den Flüssen Schamchor und Kalakent begrenzte Hochebene, die herrlich gelegen und mit vielen wilden Obstbäumen bestanden ist. Der große Obstreichthum lockt im Herbste die Bären der Umgegend dorthin, und schon öfter hatten die Beamten unsres Hüttenwerkes erfolgreiche Bärenjagden in dieser Jahreszeit veranstaltet.

Wir übernachteten in der Filialhütte Kalakent und zogen bei Sonnenaufgang zur Jagd in die benachbarten Berge, die schon während der Nacht von unserem Hüttenförster mit einer Treiberkette umstellt waren. Es war ein wundervoll schöner Morgen, und der lautlose Marsch auf den einsamen Jagdwegen war in steter Erwartung der Bären nicht ohne Reiz. Nach längerer, in größter Spannung verbrachter Zeit hörte man ganz in der Ferne den Zuruf der Treiber von der Höhe der Berglehne erschallen, deren Fuß wir besetzt hielten. Sonst vernahm man in der allgemeinen Stille nur das herbstliche Fallen der Blätter, ein Geräusch, das ich bis dahin nur aus Romanen gekannt hatte. Ich war auf einem schmalen Bergwege zwischen Bruder Karl und Dr. Hammacher postirt. Mein Gewehr bestand in einer Doppel-Büchsflinte, von der ein Lauf mit Kugel, der andere mit grobem Schrot geladen war. Aehnlich mangelhaft war die Bewaffnung meiner Jagdgenossen. Allmählich kam das Geräusch der Treiber näher, doch von Bären war lange nichts zu sehen und zu hören. Plötzlich machte uns der Förster durch Zeichen auf ein leichtes Geräusch, vor uns aufmerksam und gab gleich darauf einen Schuß in der angedeuteten Richtung ab. Der Bär wich links ab, ohne getroffen zu sein; ein von Dr. Hammacher abgegebener Schuß hatte ebensowenig Erfolg. Dann krachte auf meiner anderen Seite ein Schuß meines Bruders und gleich darauf noch ein zweiter. Ich glaubte schon keine Aussicht mehr zu haben noch zu Schuß zu kommen, als auf einmal ganz in meiner Nähe eine große braune Bärin, begleitet von einem Jungen, unsere Lichtung kreuzte. Ich gab meinen Kugelschuß auf die Bärin ab, wobei das Junge vor Schreck in die Knie fiel, was den Glauben erweckte, ich hätte auf dieses geschossen. Mutter und Kind liefen aber ruhig den Berg hinab. Es glaubte natürlich Jeder von uns seinen Bären angeschossen zu haben, und das Gelände wurde eifrig nach den Blessirten abgesucht. Man entdeckte auch Blutspuren, doch weder jetzt noch nachher war von unseren angeschossenen Bären etwas zu sehen. Auch in dem weiteren Treiben wurde kein Bär erlegt, überhaupt kam nur noch ein einziger zum Vorschein und zwar dicht vor den Treibern. Diese und der Bär schienen gleich großen Schreck zu bekommen und stoben nach entgegengesetzten Richtungen auseinander, wobei die Treiber ein wahres Todesgeschrei ausstießen.

Eine der schönsten Touren in der weiteren Umgegend Kedabegs führt das Thal des Kalakentbaches oberhalb des Ortes Kalakent hinauf zur Höhe des Gebirges, das den großen Goktscha-See einfaßt. Von der Paßhöhe aus sieht man den gewaltigen See vor sich liegen, während die Bergketten des armenischen Hochlandes den Hintergrund der herrlichen Rund schau bilden. Meine Reisegefährten, die den anstrengenden Ritt bis zu diesem Aussichtspunkte nicht scheuten, hatten das Glück eine ganz klare Fernsicht zu genießen, die ihnen die Schneekuppen des großen und die des kleinen Ararat in voller Klarheit zeigte.

Nachdem Bruder Karl und ich an den großen Fortschritten, die unser entlegenes Besitzthum in den letzten Jahren gemacht, hinlänglich Freude gehabt, und unsre Begleiter die Reize der umliegenden Waldgebirge durch ausgedehnte Ritte zur Genüge erforscht hatten, setzten wir die Reise nach Baku fort, um den von Alters her heiligen ewigen Feuern einen Besuch zu machen und die Quellen des zu ihnen gehörigen, jedenfalls viel größeren Segen stiftenden modernen Feuerträgers, des Petroleums, kennen zu lernen. Wir hatten dazu ganz besonders Veranlassung, da wir es ja nur der Naphta, der Mutter des Petroleums, zu danken hatten, daß wir Kedabeg in munterem und hoffnungsvollem Betriebe fanden.

Die Reise führte über Elisabethpol, die Gouvernementsstadt von Kedabeg, in deren Nähe Helenendorf, die größte der schwäbischen Kolonien, liegt. Als die biedern Schwaben von unserer Anwesenheit in Kedabeg erfuhren, schickten sie ihren Ortsvorsteher mit einer Einladung an uns, auch Helenendorf zu besuchen. Natürlich nahmen wir sie an und wurden bei unserm Eintreffen in Elisabethpol von einer Bauerndeputation empfangen und in schneller Fahrt nach der etliche Meilen entfernten Ortschaft geleitet. Dort war die ganze Einwohnerschaft bemüht, den deutschen Landsleuten und namentlich ihrer schwäbischen Landsmännin Aufmerksamkeiten zu erweisen. Wir mußten Kirche, Schule und Wasserleitung besichtigen und hatten aufrichtige Freude an der alten, echt deutschen Ordnung, die allen entgegenwirkenden Einflüssen des Landes und Klimas getrotzt hat. Helenendorf ist die blühendste und wohlhabendste aller schwäbischen Kolonien im Kaukasus und verdankt dies zum Theil wohl dem gesunden Klima und der guten Lage in schöner, bergiger und wohl bewässerter Gegend. Seinen Bewohnern gebührt das Verdienst, deutsches Fuhrwerk im Kaukasus eingeführt zu haben. Neuerdings hat sich die Kolonie auf den Weinbau gelegt und stellt aus den einheimischen Trauben durch moderne Weinpflege ausgezeichnete Produkte her.

Die Eisenbahnfahrt durch die eintönige Steppe von Elisabethpol nach Baku bietet nicht viel Bemerkenswerthes. Die Vegetation ist sehr dürftig mit Ausnahme der Stellen, die an Wasserläufen liegen oder künstliche Bewässerung haben, von der freilich meist nur noch Spuren früheren Daseins zurückgeblieben sind. Nicht der Boden hat in solchen Gegenden Werth, sondern das Wasser, das ihm zugeführt werden kann. Die fortschreitende Kultur wird in dieser Hinsicht ja noch viel thun können, aber würden die Flüsse auch ihres ganzen Wassers beraubt, um die Felder zu befruchten, so würde dies doch nur einem kleinen Theile der großen Steppenflächen Rußlands zu Gute kommen. Es fehlt an der nöthigen Regenmenge; ob diese sich im Laufe historischer Zeiten absolut vermindert hat, wie aus manchen Erscheinungen geschlossen werden könnte, oder ob nur ihre Vertheilung eine andere geworden ist, läßt sich bis jetzt nicht entscheiden.

Die uns auffallende große Zahl von hölzernen, dreißig bis fünfzig Fuß hohen Aussichtsthürmen in ganz ebener Gegend, die nicht die mindeste Aussicht darbot, erklärte sich dadurch, daß die Bewohner in der schlimmsten Fieberzeit die Nächte auf diesen Thürmen zubringen, um dem Fieber zu entgehen.

Einen eigenthümlichen Anblick gewährte gegen Ende der Fahrt eine ganze Stadt von ähnlichen, noch viel höheren und scheinbar nahe aneinander stehenden Holzthürmen, die den Gipfel eines nahen Höhenzuges krönten. Genauere Betrachtung durch ein Fernrohr ergab, daß es hohe Bohrthürme waren, wie man sie zur Ausführung von Tiefbohrungen zu erbauen pflegt. Es war das große Quellgebiet der Naphta, die von dort durch zahlreiche Rohrleitungen der benachbarten »schwarzen Stadt« Baku, – nämlich dem neueren Theile derselben, welcher die zahlreichen Petroleumdestillationen enthält – zur Verarbeitung zugeführt wird. Merkwürdig ist, daß dicht neben einander liegende, zum Theil über tausend Fuß tiefe Bohrlöcher oft ganz verschiedene Resultate geben. Häufig entsteht beim Erreichen der Petroleum führenden Schicht eine Fontaine, in der die Naphta über hundert Fuß hoch emporgeschleudert wird. Man hebt dann schnell im benachbarten Erdreich eine Vertiefung aus, um die hervorsprudelnde Naphta zu sammeln. Die Ergiebigkeit der Quelle nimmt aber bald ab; nach wenigen Wochen pflegt sie überhaupt nicht mehr zu »schlagen«, wie man in Baku sagt, und die Naphta muß nun aus der Tiefe des Bohrlochs herausgepumpt werden. Die Bohrthürme läßt man daher gleich stehen, um sie später als Pumpthürme zu benutzen. Es ist schwer zu erklären, wie es kommt, daß in ganz geringem Abstande von einem Bohrloche, bei dem die Spannkraft der Gase, welche das Petroleum anfangs empordrückten, schon ganz absorbirt ist, eine neue mächtige Springquelle entstehen kann, da man doch annehmen muß, daß die sämmtlichen Quellen einer einzigen Lagerstelle der Naphta entspringen. Ueberhaupt ist die Entstehungsgeschichte des Petroleums noch in Dunkel gehüllt und deshalb auch nicht zu sagen, ob dasselbe eine bleibende Stelle im Felde menschlicher Kultur behaupten wird. Welch großen Einfluß die Naphtaquellen von Baku auf Leben und Industrie in Rußland bereits ausüben, erkennt man schon an den langen Reihen von Reservoirwagen für den Transport von Petroleum und Masut, die man auf allen russischen Eisenbahnen antrifft. Da die Wälder Rußlands fast überall sehr stark gelichtet und Kohlen nur am Don in Menge vorhanden sind, so haben Masut und Rohpetroleum als billige und leicht transportirbare Brennmaterialien schnell große Bedeutung erlangt. Ein großer Theil der russischen Lokomotiven und Flußdampfer wird schon jetzt mit Petroleum geheizt und für manchen russischen Industriezweig ist dieses wie für unsere Kedabeger Kupfergewinnung ein Retter in der Noth geworden.

Die alte Stadt Baku liegt schön am steil aufsteigenden Ufer des kaspischen Meeres. Außer dem Quellgebiete der Naphta mit den sehr modernisirten ewigen Feuern, der »schwarzen Stadt«, und einer Reihe von interessanten architektonischen Erinnerungen an die Zeit, wo sie Residenz der persischen Chane war, bietet die Stadt dem Fremden wenig Reize. Doch kann er sich bei günstigem Wetter das Vergnügen machen, das kaspische Meer in Brand zu stecken, wenn er auf einem eisernen Dampfer zu einer Stelle nicht weit von der Küste hinausfährt, an der brennbare Gase vom Meeresboden aufsteigen. Diese lassen sich bei ruhigem Wetter anzünden und bilden dann oft längere Zeit ein Flammenmeer um das Schiff.

Die Rückreise machten wir zu Lande über Moskau und Petersburg. Beim Uebergange über den großen Kaukasus führte sie uns in der Einsattelung am Fuße des Kasbek durch großartig schöne, wilde Gebirgsthäler. Will man ihre Schönheit recht genießen, so thut man aber besser, in umgekehrter Richtung zu reisen, denn das wilde Terekthal, das den nördlichen Abhang des Gebirges bildet, wird beim Bergabfahren so schnell durchlaufen, daß man kaum Zeit hat, die Reize der Umgebung zu genießen, auch hindern daran die unangenehm kurzen Wendungen der in schnellster Fahrt durchmessenen, sonst wundervollen Straße. Von Wladikawkas, dem Anfangspunkte des russischen Eisenbahnnetzes, fuhren wir ohne Unterbrechung in drei Tagen bis Moskau. Leider entgingen uns bei dem trüben Wetter des ersten Tages die schönen Ansichten des großen Kaukasus, insbesondere der großartige Anblick des Elbrus. Interessant waren die zahlreichen Hünengräber zu beiden Seiten der Straße; sie zeigen, daß während langer Zeitabschnitte relativ hohe Kultur an den nördlichen Abhängen des Kaukasus geherrscht haben muß und hier vielleicht der Ausgangs- und Stützpunkt der Völkerstämme zu suchen ist, die zu verschiedenen Zeiten Europa überfluthet haben.

Ich widerstehe der Versuchung, Moskau zu beschreiben, und will nur hervorheben, daß man dort das Gefühl hat, ganz in Rußland, d.h. im Grenzlande europäischer und asiatischer Kultur zu sein. Man hat diese Empfindung lebhafter, wenn man, wie wir diesmal, aus Asien kommt und daher ein lebendiges Gefühl für asiatisches Leben und Wesen mitbringt. In bestimmte Worte ist sie kaum zu fassen. »In Asien«, sagte eine meiner Reisegefährtinnen, »sind Schmutz und Lumpen gar nicht abstoßend, hier sind sie es schon«. Es ist dies in der That ganz charakteristisch für den Uebergang von der asiatischen zur europäischen Kultur. Der Asiate zeigt trotz Schmutz und Lumpen immer einen gewissen Grad männlicher Würde, der dem Europäer in Lumpen ganz abgeht.

Der eigentliche Russe, der Großrusse, bildet eine richtige Uebergangsstufe zwischen Asiaten und Europäern und ist daher auch der richtige und erfolgreiche Träger europäischer Kultur nach Osten. Der umgekehrte Weg, von dem die panslavistisch gefärbten Russen setzt vielfach träumen, die Auffrischung des »faulen Westens« durch asiatische Naturkraft, hat wohl keine große Aussicht, jemals realisirt zu werden. Es läßt sich zwar nicht leugnen, daß eine Gefahr für den Bestand der europäisch-amerikanischen Kulturentwickelung darin liegt, daß Europa der willige Lehrmeister Asiens in der Beschaffung und Benutzung der Machtmittel geworden ist, die es seiner Technik verdankt. Bei der großen Fähigkeit der Asiaten nachzuahmen und das Erlernte nützlich anzuwenden und bei der stets fortschreitenden Kunst, der räumlichen Entfernung durch Verbesserung der Communicationsmittel die trennende Kraft zu nehmen, könnte allerdings einmal das kleine Europa einer neuen, kulturzerstörenden Invasion von Asien her ausgesetzt sein, aber der erste, vernichtende Stoß würde dann die Zwischenländer, namentlich Rußland treffen, wie die Geschichte ja schon wiederholt gezeigt hat. Uebrigens wird diese Gefahr erst eintreten können, wenn der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt Europas einmal zum Stillstand kommt, so daß es den großen Vorsprung in seiner technischen Entwickelung verliert, der seine Kultur am sichersten vor jedem Einbruch barbarischer Völker schützt. Nur selbstmörderische innere Kämpfe könnten dahin führen, denn in geistiger Kraft und erfinderischer Begabung ist Europas Bevölkerung den Asiaten weit überlegen und wird dies auch wohl in Zukunft bleiben.

In Moskau war es schon recht winterlich kalt, in Petersburg begann bereits die Schlittenbahn und die Newa ging mit Eis, so daß wir uns nach der ohne langen Aufenthalt erfolgten Rückkehr noch an dem milderen Klima der Heimath erfreuen konnten.

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