In der Strafkolonie

Das ist nicht wahr, wenn die Leute behaupten, Träume seien verschwommen. »Jeder ist, während er träumt, ein Shakespeare«, sagt der Weise, und noch im unsinnigsten Phantasma der Nacht stehen Konturen und Farben unverrückbar fest. Bäume zum Greifen und saftig grün, und in den Gesichtern der Geträumten kann man die Fältchen mit den Fingern antasten. Klar und scharf ist alles im Traum.

So unerbittlich hart, so grausam objektiv und kristallklar ist dieser Traum von Franz Kafka: ›In der Strafkolonie‹ (bei Kurt Wolff in München erschienen). Dieses schmale Buch, ein wundervoller Drugulin-Druck, ist eine Meisterleistung.

Seit dem ›Michael Kohlhaas‹ ist keine deutsche Novelle geschrieben worden, die mit so bewußter Kraft jede innere Anteilnahme anscheinend unterdrückt, und die doch so durchblutet ist von ihrem Autor. Die Geschichte ist einfach die, dass in der Strafkolonie ein aufsässiger Soldat auf einen irren Apparat geschnallt wird, und dort foltert man ihn. Dort wird ihm seine Strafe, die These: »Ehre deinen Vorgesetzten«, auf den nackten Leib geschrieben. Nadeln besorgen das.

Seit dem parfümierten Salonsadisten Ewers sind diese Dinge ein wenig in Verruf geraten, und man muß heute schon immer hinzusetzen, dass es sich bei einem solchen Buch nicht um die Bereicherung der Handbibliothek schwammiger Konfektionäre handelt. (Zu beschlagnahmen ist hier auch nichts, Herr Staatsanwalt!) Als ich so weit gelesen hatte, bis da der nackte Mann unter der Maschine liegt, in seinen Mund wird ihm von unten her ein Filzstück geschoben, damit er nicht schreien kann, seit Jahren hat man diesen Filzstumpf nicht gewechselt, und nun setzt sich diese komplizierte Maschinerie langsam in Bewegung, die Nadeln schreiben, und aus kleinen Kanülen spritzt Wasser das Blut fort – als ich so weit gelesen hatte, schluckte ich einen faden Blutgeschmack herunter und suchte nach einer Entschuldigung und dachte: Allegorie … Die Militärgerichtsbarkeit …

Aber dieses Kunstwerk ist so groß, dass es keiner Entschuldigung bedarf, und eine Allegorie ist erst recht nicht vonnöten. Es ist ganz etwas andres. Der leitende Offizier erklärt dem fremden Reisenden genau die Konstruktion der Maschine und begleitet jede Zuckung des Gefolterten mit sachverständigen Bemerkungen. Aber er ist nicht roh oder grausam, er ist etwas viel Schlimmeres. Er ist amoralisch. Die Angelegenheit hat mit Christentum überhaupt nichts zu tun, dieser Offizier quält nicht, er ist beileibe kein Sadist. Und wenn er nach der sechsten Stunde der Folterung die Leidenszüge des nun immer schwächer werdenden Mannes in sich hineinschlürft, so ist das nur eine grenzenlose und sklavische Verneigung vor der Maschine dessen, was er Gerechtigkeit nennt, in Wahrheit: vor der Macht. Und diese Macht hat hier keine Schranken.

Einmal schrankenlos herrschen können … Besinnt ihr euch noch: wie wir kleine Jungens gewesen sind und in mancherlei wirren Sexualnöten steckten, erträumten wir uns wohl eine Stadt oder ein Land, darin gingen die Leute alle nackt oder sie hatten Glaskleider an, Männer und Frauen. Und in diesem Lande wurde ausschließlich und schrankenlos und ohne die leiseste Seelenemotion coitiert. Das hatte mit Liebe gar nichts zu tun, es war das ein Schwelgen in der Möglichkeit rein manuellen Geschehens, ohne daß störend Lehrer oder Vater oder Mutter hinzukamen. (Eine Art der Sinnlichkeit, wie sie normale Erwachsene nie mehr empfinden können.) Was die Phantasie des Knaben reizte, war nicht nur das sexuelle Motiv, sondern vor allem die Schrankenlosigkeit. Das Indianerspiel war die Vorstufe dazu. Einmal schrankenlos herrschen können …

Diese Schrankenlosigkeit – hier bei Kafka ist sie geträumt und gestaltet. Und die Hindernisse, die sich einer reglementmäßigen Folterung m den Weg stellen, sind gleichfalls traumhaft. Nicht daran scheitert die Qual, dass etwa eine ganze Gesellschaft, die Ordnung, der Staat empört aufstünden, sie zu hindern – nein, die Ersatzteile der Maschine sind nicht in Ordnung, und der neue Kommandant der Strafkolonie ist, im Gegensatz zum alten, ein Modernist und unterstützt den Maschinenoffizier und sein Folterwerk nicht so recht, aber er duldet es doch auch … Und all das ist so maßlos kühl und unbeteiligt erzählt. Der Dichter hat noch Zeit, ganz, ganz kleine Einzelheiten auszupinseln, so wie man ja manchmal im Leben und im Traum bei katastrophalen Geschehnissen einen eingerissenen Fingernagel oder ein Blumenblatt auf dem Teppich als das Charakteristikum dieses Geschehnisses vor allem im Gedächtnis behält. Und so arbeitet denn vor den Augen des erregten Reisenden die Maschine, und die Nadeln schreiben und schreiben,

Und dann verschiebt sich das Bild, und in einem Kausalnexus, der nur durch die Tatsache des Traums verständlich wird, läßt der Offizier den Verurteilten frei, und weil seine Maschine nicht leer stehen kann, legt er sich selbst darunter und läßt sich rasch zu Tode peinigen. Nur deshalb: weil die Maschine nicht leer stehen kann. Und traumhaft wirr steigen die Räder aus diesem entsetzlichen Instrument, das ein gemeinsames Kind von Peter Behrens und Lyonel Feininger konstruiert haben könnte, die runden Räder steigen und fallen, und da spießt die Egge den Leib des Offiziers auf, und der Ausleger der Maschine hebt den Kadaver entsetzlich langsam nach außen und läßt ihn in jene Grube klatschen …

Der Reisende und der bisherige Verurteilte und der Posten haben machtlos zugesehen. Und dann gehen sie noch in der Stadt umher, und dann steigt der Reisende auf ein Boot und fährt fort. Und auf einmal ist das Buch aus.

Ihr müßt nicht fragen, was das soll. Das soll gar nichts. Das bedeutet gar nichts. Vielleicht gehört das Buch auch gar nicht in diese Zeit, und es bringt uns sicherlich nicht weiter. Es hat keine Probleme und weiß von keinen Zweifeln und Fragen. Es ist ganz unbedenklich. Unbedenklich wie Kleist.

Peter Panter

Die Weltbühne, 03.06.1920, Nr. 23, S. 655.

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