Die Volksverbesserer oder: Im Schweiße eines Amtsgerichts

Man schrieb und sprach in der letzten Zeit vieles über unseren Richterstand. Die Frage, ob von uneigentlicher Bestechlichkeit bei eigentlicher Unbestechlichkeit überhaupt gesprochen werden könne, wurde von einem hohen Ministerium dahin beantwortet, daß dies jedenfalls nicht geschehen dürfe.

Diese Behandlung des kitzlichen Themas ist ebenso erschöpfend als maßgebend, und ich finde die hierin niedergelegte Ansicht um so erquicklicher, als sie sich vollständig mit der meinigen deckt.

Ich habe stets unsere Richter bewundert, weil sie über alle Dinge mit der gleichen Sachkenntnis urteilen und nicht selten gerade das finden, an was niemand dachte. Dabei geht unverkennbar ein großer Zug durch unsere Rechtsprechung; man hat wirklich die Absicht, die niederen Volksschichten zu bessern und zu belehren.

Wenn dies durch Anwendung väterlicher Strenge irgend möglich ist, geschieht es sicherlich gerne, aber es fehlt auch nicht an Versuchen der gütlichen Überredung.

Ich habe schon manchen jungen Amtsrichter beobachtet, wie er im Schweiße seines Angesichtes sich abmühte, um einem verstockten Arbeiter klar zu machen, daß die sozialen Verhältnisse durchaus nicht so schlimm seien, wie dieser sie kennen lernte. Erst gestern bewunderte ich die Geduld und Einsicht der jugendlichen Juristen, als die Sache des Maurers Johann Pletschacher verhandelt wurde.

Der Delinquent war an einem Sonntage vor den Magistrat geladen worden, um seine Invaliditätsversicherungskarte abzuholen.

Er hatte hierin eine unliebsam Störung seiner Sonntagsfreuden erblickt und dies sämtlichen Beamten mit erhobener Stimme so deutlich zu erkennen gegeben, daß er nunmehr auf der Anklagebank saß.

Man sieht, der Fall entbehrte nicht eines gewissen sozialen Beigeschmackes. Dies mochten wohl auch die Herren am Richtertische fühlen.

Der Amtsanwalt reckte sich straffer im Stuhl zurecht und strich bedeutungsvoll den kleinen Schnurrbart. Das jugendliche Gesicht des Vorsitzenden bekam ein finsteres Aussehen, und die Stimme klang mehrere Nuancen schärfer, als er Johann Pletschacher ins Gebet nahm.

Es entwickelte sich das sattsam bekannte Frage- und Antwortspiel.

Im Verlaufe desselben zeigte es sich deutlich, daß die Verfehlung des Münchener Fassadenmaurers nicht auf bloße seelische Erregung, sondern auf die ganze Charakterbildung desselben zurückzuführen war.

Er glaubte hartnäckig, daß er im Rechte war; er sprach davon, daß, wer die ganze Woche arbeite, am Feiertage seine Ruhe haben möchte; er stellte die Ansicht auf, daß die Beamten wegen die Leut, und nicht die Leut wegen die Beamten da seien; er versuchte nachzuweisen, daß er sich nichts zu gefallen zu gelassen brauche, kurz er brachte lauter Dinge vor, welche in das Politische hinüberspielten.

Dabei war er auch in der Form durchaus nicht korrekt.

Seine Stimme, welche durch starkes Schmalzlerschnupfen eine unangenehme Klangfarbe angenommen hatte, war roh und verletzend; überdies schien Pletschacher zu glauben, daß seine Gründe besser würden, wenn er sie mehrmals und immer lauter vorbrächte.

Die Debatte wurde ziemlich erregt, und als der Vorsitzende in berechtigter Entrüstung dem Angeklagten vorhielt, daß es ja nur sein Bestes wäre, wenn der Staat für die alten Tage der Arbeiter sorge, da erklärte Pletschacher feierlich, daß er auf die Altersrente pfeife, und daß er sie jedem im Zuschauerraum überlasse, der sie wolle.

Ich fürchtete bereits, daß diese Kühnheit üble Folgen haben werde, allein zu meinem Erstaunen blieb der Vorsitzende ruhig.

Er nickte nur schmerzlich mit dem Kopfe, wie jemand, der etwas lange Gefürchtetes bestätigt sieht. Dann warf er einen verständnisinnigen Blick zum Amtsanwalte hinüber, der mit wilder Energie den Schnurrbart drehte.

»Pletschacher«, sagte der Vorsitzende mit weicher Stimme. »Pletschacher, gelt, Sie sind Sozialdemokrat?«

»Dös glaab i«, erwiderte dieser, »seit s’ dö Partei hamm, bin i dabei.«

»Ach so! jetzt wird mir vieles klar.«

Der junge Amtsrichter sah bei diesen Worten so nett und so intelligent aus, daß ich ihn wirklich lieb gewann.

Ich merkte, daß er keinen Groll gegen den Angeklagten hegte, und daß ihn nur ein tiefes Mitleid mit dem Unglücklichen erfaßt hatte.

Er räusperte sich mehrmals, wie jemand, der eine längere Rede vorhat, und dann fragte er gütig: »Pletschacher, sehen Sie nicht ein, wie weise dieses Gesetz ist, welches Ihnen ein glückliches Alter verbürgt?«

»Na! Dös siech i net.«

»Ja, aber Pletschacher, passen Sie mal auf, nehmen wir mal an, Sie werden alt, müde, gebrechlich, Sie werden siebzig Jahre alt…«

»Dös glaab i net…« – »Was glauben Sie nicht?«

»Daß i siewaz’g Johr alt wer, glaab i net.«

»Ja warum? Gehört das zu den Unmöglichkeiten?«

»I glaab’s halt net…«

»So! Sie glauben es einfach nicht? Hm! Gut! Aber Pletschacher, selbst angenommen, Sie würden dieses Alter nicht erreichen, dann werden doch andere, Ihre Mitarbeiter, diese Wohltat genießen…«

»Wos brauch denn i für anderne zahl’n? Dös gibt’s gar net!«

»Das ist es eben!« fiel hier der Amtsrichter eifrig ein, »das ist es eben! Sehen Sie, Pletschacher! Da fehlt Ihnen die Einsicht, der Sinn für die Allgemeinheit, für das Ganze, für den Staat.«

Pletschacher nahm eine Prise Schmalzler und sah ironisch auf seinen Lehrer, der mit erhobener Stimme fortfuhr: »Der Staat ist eben, ja, wie soll ich mich Ihnen verständlich machen, der Staat ist wie eine Bienenkolonie, wie ein Bienenkorb, in Zellen eingeteilt; jede Biene hat ihre Zelle für sich, ihre Funktionen für sich, aber alle greifen zusammen. Verstehen Sie mich?«

»Na, und glaaben tua i’s aa net.«

»Was glauben Sie nicht?«

»Daß der Schtaat wie a Bienenkorb is, glaab i net, Herr Amtsrichter. Bei die Bienen wer’n dö, wo nix arbet’n, umbracht, bei ins aba hamm s’ des schönste Leben. Do is grad umkehrt.«

Das Gesicht des Vorsitzenden hatte sich bei diesen Worten verfinstert, jede Milde war aus demselben verschwunden.

Er sah, daß mit Vernunftgründen eine Besserung nicht zu erreichen war, und beschloß wohl, die ganze Strenge des Gesetzes anzuwenden.

In der Tat wurde Pletschacher mit der höchsten Strafe bedacht. Ich fand es durchaus richtig. Der Mann hatte die Möglichkeit, von seinen Irrtümern geheilt zu werden, schnöde verscherzt. Da ist Milde von Übel.

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