Die Rede des Mörders Eusebius Pieydagnelle vor dem Schwurgericht

Im Jahre 1870 oder 1871 wurde in einer Provinzstadt Frankreichs vor dem Schwurgericht eine Anklage wegen Mordes gegen Eusebius Pieydagnelle verhandelt. Der Angeklagte hatte den Fleischer Cristoval aus Vieuville erstochen und sich selbst des Mordes bezichtigt, indem er zugleich die Leiche an das Gericht abgeliefert hatte. Der Fall verursachte ein ungeheures Aufsehen. Viele erklärten den Angeschuldigten für wahnsinnig, für behaftet mit der Monomanie des Mordes. Ebenso viele schworen, daß er vollkommen zurechnungsfähig, aber ein blutdürstiges Scheusal sei, wie es noch niemals eins gegeben habe.

Die Beweiserhebung war beendigt, der Staatsanwalt hatte gesprochen, und auch der Verteidiger hatte zugunsten seines Pflegebefohlenen plädiert. Der Präsident fragte den letzteren, ob er selbst das Wort ergreifen wolle, und Pieydagnelle erhob sich und richtete folgende Rede an den Gerichtshof und die Geschworenen, die so merkwürdig, ja so einzig in ihrer Art ist, daß wir sie fast wortgetreu mitteilen wollen.

»Gott schütze mich davor, Herr Präsident, etwas erwidern zu wollen, was auf Ihr Urteil Einfluß haben könnte! Ich danke meinem Anwalt, daß er so dummes Zeug geschwatzt hat. Ich wußte es zwar im voraus, als  ich mich ihm anvertraute und ihn zu meinem Verteidiger erwählte, aber er hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen.

Wenn ich die geringste Spur von Mitleid in Ihren Augen lesen könnte, so würde ich neue Schuldbeweise gegen mich erfinden. Doch ich bin Gott sei Dank beruhigt darüber, daß ich schuldig gesprochen werden muß, und brauche mir deshalb nicht noch besondere Mühe zu geben.

Was verlangt man denn von Ihnen, meine Herren Richter? Sie sollen ein feierliches, unanfechtbares, gerechtes Urteil sprechen, das von den Zeitungen mit tönenden Phrasen verkündet wird und weder Ihre Seelenruhe noch Ihren Schlaf stören soll.

Ich will sterben. Sie sehen also, wir werden uns leicht verständigen.

Es ist doch seltsam, daß man, beseelt von dem Wunsche, aus diesem Leben abzuscheiden, und vertraut mit der Handhabung des Messers, seine Rechnung dennoch nicht selbst abschließen kann. Oftmals habe ich daran gedacht, ein Ende zu machen, oftmals habe ich die Tat ausführen wollen, aber immer verlor ich den Mut, denn ich fürchtete mich. Die Gedanken, die man mir in der Jugend über den Selbstmord einpflanzte, mögen mich zurückgehalten haben. Sehen Sie, ich glaube an ein Jenseits. Sie werden sagen, ich spreche Unsinn, aber stände ich denn hier, wenn ich nicht unsinnig wäre? Weil alles in meinem Herzen sich widerspricht, ebendeshalb bin ich ja der Elende, den Sie verurteilen werden. Gott wird mich ebenfalls richten, und ohne Sie beleidigen zu wollen, darf ich wohl erklären: ich fürchte den Richterspruch Gottes mehr als den Ihrigen, denn die Vorsehung sieht sich die Sache zweimal an, ehe sie die Entscheidung fällt. Der Herr  Generalprokurator hat mich in der Voruntersuchung als Phänomen der Monomanie, als pathologische Merkwürdigkeit, und was weiß ich, als was sonst noch, ausgegeben. In Wirklichkeit bin ich ein berüchtigter Mörder, und die Köpfe solcher Leute müssen mit einem gewaltigen Ruck des Fallbeils vom Körper getrennt werden. Ich bin vielleicht unzart oder gar roh in meinen Äußerungen, und dennoch darf ich Ihnen versichern, ich bin von jeher ein Verehrer der Dichter und ihrer Werke gewesen.«

Hier unterbricht der Präsident den Angeklagten und sagt ihm, diese Dinge gehörten nicht hierher, es läge in seinem eigenen Interesse, schneller zur Sache selbst zu kommen.

»Nun wohlan,« fährt er fort, »ich habe ebenfalls Eile, zu Ende zu kommen. Ich bin gebürtig aus Vieuville, einem achtbaren und schön gelegenen Ort, der auf mich nicht stolz sein wird. Seit meiner Geburt sind dreiundvierzig lange, unendlich lange Jahre verflossen; ich fühle mich so alt, so müde wie ein Greis, der hundert Jahre gelebt hat, dennoch erinnere ich mich aller Ereignisse und Erlebnisse meiner Jugend, als hätten sie erst gestern stattgefunden. Mein Vater, ein wohlhabender Bürger, wohnte in der Straße Bas-Préan neben dem Bürgermeisteramt in einem zweistöckigen, sauberen und bequemen Hause, einem wahren Nest für tugendhafte Herzen. Mein Vater und meine Mutter standen allgemein in hoher Achtung, man verehrte sie fast wie Heilige. Ich habe es lediglich ihrer Tugend zu verdanken, daß ich dreiundzwanzig Jahre unbescholten blieb. Unserem Hause gegenüber lag die Metzgerei und Fleischbank des Herrn Cristoval, ein netter, sorgfältig gepflegter, koketter Laden, der stets mit Rosen von roter Leinwand und mit Papierarabesken verziert war. Herr Cristoval betrieb sein Geschäft nicht wie ein Handwerker,  sondern wie ein Künstler. Es machte mir ein besonderes Vergnügen, die auf der Bank ausgelegten Fleischstücke zu betrachten, sie waren so geschmackvoll geordnet, daß sie bald wie flammende Blumen, bald wie blutige Herzen, bald wie das Profil Napoleons I. aussahen. Zweimal in der Woche wurden Tiere in das Schlachthaus geführt. Ich fühlte wenig Mitleid mit ihnen, obgleich ich wußte, daß sie dem Tode entgegengingen; sie interessierten mich in viel höherem Grade, wenn sie zerstückelt und schön geschmückt zum Verkauf dalagen, als wenn sie mit Kot und mit Schmutz bedeckt ankamen. Der Schreck, den ich anfänglich bei dem Anblick der blutigen Hände, der rotgefärbten Holzschuhe, der langen Messer mit den daranhängenden Faschinen empfand, verwandelte sich allmählich in die größte Bewunderung. Der Apothekerladen des Herrn Lubin mit seinen jeden Abend rotleuchtenden Lichtern, das Bürgermeisteramt mit seinem herrlich gemalten Saale, das Museum, das Gerichtsgebäude, die Kirche mit ihren strahlenden Wachskerzen, ihrem Weihrauch und ihrer brausenden Orgel – nichts schien mir den Vergleich auszuhalten mit der Feischbank Cristovals. Der Geruch des frischen Blutes, das appetitliche Fleisch, der Glanz des alltäglich blank geputzten Kupferrandes, das immer mit neuen Blumengirlanden umgeben war, die weiße Marmorauslage, die blutigen ausgeschnittenen Figuren, das alles erregte mein Entzücken, und ich fing an, den Metzgerknecht zu beneiden, der mit aufgestreiften Ärmeln und blutgetränkten Händen bei der Schlachtbank beschäftigt war.

Damals war ich noch nicht der kräftige, braungebrannte, unverwüstliche Bursche, den Sie jetzt vor sich sehen, sondern ein siebenjähriges Kind, furchtsam, schwächlich und zart, dessen Anblick jedermanns Mitleid herausforderte.  Das war auch die Veranlassung, weshalb Herr Cristoval eines Morgens, als er seine Auslage aufputzte und ich vor Kälte zitternd dabeistand, zu meinem Vater sagte:

»Vertrauen Sie Ihren Sohn mir auf einige Zeit an, Nachbar! Sie sollen ihn zurückempfangen so stark wie einen Ochsen und so heiter wie eine Leiche. Wer mit Blut zu tun hat, der wird kräftig; wenn es ihm keinen Abscheu einflößt, den Tag über bei uns zu sein, so wird es ihm gut tun. Das Latein gehört für die Pfarrer. Sie können es ihm später einbleuen lassen, wenn Sie es durchaus wollen, aber vorerst muß der Junge Muskeln bekommen. Ich schätze Sie und Ihre Frau hoch und will Ihnen mit meinem Anerbieten einen Gefallen erweisen.«

Meine Mutter hatte andere Pläne mit mir, und es war nicht nach ihrem Geschmack, daß ich in eine Metzgerei eintreten sollte; mein Vater aber machte ihr begreiflich, ich sei ja nur ein paar Schritte von ihnen entfernt und würde dadurch gesünder werden, ein gesunder Körper aber sei die notwendige Bedingung für eine gesunde geistige Entwicklung. Ich selbst sprach aus, wie glücklich ich mich fühlen würde, wenn ich so stark und so kräftig wäre wie meine Kameraden, und so gab die gute Frau ihre Einwilligung: ich kam zu unserem Nachbar.

Allmächtiger Gott, warum hast du dies zugelassen? Diese und manche andere Frage will ich an Gott richten, sobald ich, meinen Kopf unter dem Arme, vor ihn hintreten werde.

Cristovals Gehilfe wurde mein bester Freund und Kamerad. Er hieß Antoine Bricogne und war ein gutes Tier, das ohne Gewissensbisse einen Ochsen niederschlug, aber vor jedem Hunde den Hut gezogen haben würde, wenn er ihm aus Versehen auf die Pfote getreten hätte. Er lehrte mich die geschlachteten Tiere abziehen, zerteilen,  das Fleisch herrichten. Wirklich befestigte sich meine Gesundheit zusehends. Kehrte ich zur Essenszeit zu meinen Eltern zurück, dann küßte mich meine Mutter zärtlich und sagte wohl: »Wie gut er jetzt aussieht, der liebe Kleine, er ist ja wie neugeboren und wird ein ganzer Mann werden.« Mahnte der Vater an die Wiederaufnahme der Studien, so erwiderte sie: »Ach das hat noch Zeit, laß ihn jetzt.«

Erfreut darüber, daß die Kur so gut anschlug, fing ich an Blut zu trinken, ja, wenn ich sicher war, daß niemand es bemerkte, verwundete ich die Tiere und sog das hervorströmende Blut ein. Ich wuchs, wurde breitschultrig, und mein Körper entwickelte sich, wie man es nur wünschen konnte; aber meine Seele wurde hart. Die blutige Arbeit im Schlachthause und die übermäßige Zärtlichkeit meiner Mutter machten aus mir ein Gemisch von kalter Grausamkeit und eifriger Bigotterie.

In freien Stunden lehrte mich Bricogne Papierschiffe anfertigen, die wir auf den Blutlachen herumschwimmen ließen; er übte mich mit den Messern ein, so daß ich auf fünfundzwanzig Schritt eine Oblate treffen konnte. Alle, die mit Messern umgegangen sind, wissen, daß man den Arm nicht herabhängen lassen darf, daß es überhaupt eine große Kunst ist, ein Messer richtig zu führen. Das Süßeste aber ist, wenn man fühlt, wie das Tier unter dem Messer zittert. Das fliehende Leben schlängelt sich der Klinge entlang in die Hand hinein, die das tödliche Werkzeug hält.

Endlich bestand mein Vater darauf, mich von Cristoval wegzunehmen und in ein Kollegium zu schicken; aber es war zu spat, ich war bereits ein blutdürstiges Ungeheuer geworden. Unfähig, meine Verzweiflung darüber, daß ich die Metzgerei verlassen sollte, zu verbergen, heuchelte  ich und stellte mich, als schmerzte mich die Trennung von Vater und Mutter: in Wirklichkeit hatte ich Heimweh nach dem Blute.

Zuerst leistete ich im Kollegium gar nichts; allein aus Langeweile entschloß ich mich endlich zu arbeiten, und siehe da, ich bekam zu meinem nicht geringen Erstaunen bei der Prüfung den ersten Preis. Mein Vater war höchst erfreut und wollte mich sogar die Zentralschule besuchen lassen, um etwas Rechtes aus mir zu machen. Aber meine Mutter, die mich gern bei sich haben wollte, bat so lange, bis er mich wieder nach Neuville zurücknahm. Das war eine teuflische Laune des Zufalls.

Ich sehe, Sie blicken nach der Uhr, meine Herren. Es ist wohl schon spät, aber Sie müssen, ehe Sie mich abtun und zum Speisen gehen, noch eine Menge Dinge erfahren.

Ich war also wieder im Vaterhause. Cristovals Fleischerladen befand sich noch immer gegenüber, aber ich durfte nicht mehr daran denken, wie früher dort zu verkehren. Ich war ein junger Herr geworden, und man hätte es weder begriffen noch verziehen, wenn ich, wie andere etwa die Musik oder die Malerei, das Metzgerhandwerk aus Liebhaberei hätte betreiben wollen.

Bricogne hatte die Stadt verlassen, ich war allein, die Zeit verging mir langsam und traurig. Mein Vater brachte mich zu dem Notar Pelucheur, bei dem ich allerhand Verträge kopieren mußte. Soldat wurde ich nicht, weil meine Mutier einen Ersatzmann für mich kaufte. Vielleicht hätte mich der Soldatenstand gerettet.

Mein Zimmer lag dem Tore des Schlachthauses gegenüber, und ich stand jeden Morgen am Fenster, um das Schlachten mit anzusehen. Der mächtige Anprall des wuchtig mit dem Schlägel geführten Kopfschlages, unter dem  der Ochse zusammenbrach, klang in meinen Ohren wie Sphärenmusik.

Wäre der Apothekerladen uns gegenüber gewesen, vielleicht wäre alles anders gekommen, aber man muß die Dinge nehmen, wie sie sind. Was geschehen ist, ist vorbei, und der Rest geht Sie an.

Am 15. Juni 1860 kam die Post von La Garigue eine Stunde später an als gewöhnlich und hielt vor dem Gasthofe. Der Kondukteur warf die Zügel herunter und öffnete die Wagentüren. Da die Post sich sonst nicht zu verspäten pflegte, so erregte das Ereignis Aufsehen, und mehrere Menschen drängten sich an den Wagen, um den Grund zu erfahren. ›Ei du Schlafmütze,‹ rief der Stallbursche dem Postillon zu, der sich anschickte, die Pferde auszuspannen, ›du bist schön langsam gefahren. Der Branntwein schmeckte wohl gut?‹

›Behalte deinen Witz für dich,‹ erwiderte der Postillon. ›Wir fanden auf der Station Pré-aux-Bois die Tochter des Wirtes vom Coq Bleu mit einem Messer an den Küchentisch angeheftet, die Spitze steckte im Holze, der Griff stand beim Haarknoten heraus. Das war es, und das kann einen schon eine Stunde aufhalten.‹

Einen Schauder durchlief die Menge. Als der Wirt des Coq Bleu traurig und gebeugt aus dem Wagen stieg, umringte ihn das Volk und begleitete ihn bis zu dem Gericht, vor dem er seine Aussage zu Protokoll gab.

Der Mord war nicht zu leugnen, es wurde auch alles aufgeboten, um den Mörder zu entdecken, und viel Papier verschmiert. Aber es war vergebliche Mühe.

Arme Lurotte! Glauben Sie mir, ich habe sie hundertmal beweint. Sie war ein braves, zuvorkommendes, liebes Mädchen. Ich kam in der Nacht vom 14. zum  15. Juni nach La Garigue, wohin mich Herr Pelucheux in Geschäften geschickt hatte. Es war bereits elf Uhr vorüber, als ich an dem Coq Bleu anlangte, und stockfinster. Ich wunderte mich, durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden Licht schimmern zu sehen, denn gewöhnlich schlief um diese Zeit alles im Coq Bleu. Ich dachte an Lurotte, das ist wahr, aber nur in freundlicher Abficht. Sie ist vielleicht noch auf, um einen verspäteten Reisenden zu erwarten, sagte ich mir. Ein Glas Bier ist rasch getrunken, ein Kuß ist rasch genommen und gegeben. Die Tür stand halb offen, und ich trat ein. Soll ich Ihnen die Lokalität beschreiben? Aber Sie haben ja die Photographie des Hauses gesehen, und die Photographie ist eine schöne Erfindung; die Küche und das Gastzimmer gehen auf die Straße hinaus, die übrigen Zimmer liegen auf der anderen Seite. Das Erdgeschoß nach der Straße zu bildet das zweite Stock von der Gartenseite aus, weil der Boden dort abschüssig ist, das wissen Sie.

Lurotte schlief neben dem großen Herde. Sie war über den langen Tisch in der Mitte der Küche gebeugt, ihre Stirn lag auf ihren wie zum Gebet gefalteten Händen. Ihre weißen Arme hoben sich von dem roten Tischtuche ab. Ihr Hals war entblößt, und ihr schwerer hochgesteckter Haarknoten ließ den üppigen anderen Haaren Raum, die lose auf den breiten Nacken herabwallten. Neben dem Tische stand ein bis zum Dachfirste gehender Pfeiler, an dem eine trübe, rauchende Lampe hing. Das flackernde Licht beleuchtete die üppigen Formen der schönen Schläferin. Auf dem Herde glomm das Feuer, und hier und da züngelte eine Flamme empor, die phantastische Schatten auf dem Plafond abzeichnete.

Lurotte war allein. Ich näherte mich ihr, alles war still, ich hörte nur ihre gleichmäßigen Atemzüge und das  Ticken der Uhr, die in der Ecke stand und aussah wie eine Eule ohne Augen. Was sich nun meiner Sinne bemächtigte, ist so seltsam, daß ich nicht weiß, wie ich es in Worte kleiden soll. Sie können es nicht begreifen, wie mir zumute war, sie müßten denn zuvor verrückt werden, so wie ich es auch war in jener Nacht.

Als ich das schöne, junge Wesen ansah, dachte ich zuerst daran, sie zu küssen. Ich beugte mich nieder, um meine Lippen auf ihren weißen Hals zu drücken. Aber ich hielt inne: ein geraubter Kuß hat keinen Wert, ich wollte sie lieber aufwecken. Und doch konnte ich mich dazu nicht entschließen. Ich schaute den prächtigen Nacken an, mein Pulse fingen an zu schlagen, meine Phantasie fing an zu arbeiten.

Ich wähnte, am Halse von Lurotte zwei lächelnde Lippen zu sehen, die mir verlockende Küsse zusandten. Ich beugte mich tiefer, und siehe, die Lippen öffneten sich immer weiter, aber hinter ihnen sah ich nicht weiße Zähne, sondern perlendes, schäumendes Blut quoll hervor. Zwei dünne Blutströme ergossen sich aus den zwei Ecken der Wunde und bildeten auf dem Tischtuche eine scharlachrote Lache, von der die weiße Silhouette Lurettes grell abstach. Das alles sah ich, und der Schweiß trat mir auf die Stirn.

Neben dem Mädchen lag ein langes, scharfes Küchenmesser. Bei meinem Eintreten hatte ich es nicht gesehen, aber jetzt fiel ein Lichtstrahl auf die Klinge, und sie blinkte mir lockend entgegen. Ich wollte fliehen, aber ich konnte nicht, ich schloß die Augen, aber ich sah es jetzt noch genau so deutlich, es zog mich mit magnetischer Gewalt hin zu dem Messer. Ich ergriff es, aber Gott weiß, ich wollte der Schläferin nichts tun. Und dennoch erhob ich den Arm und stieß. Ich sah einen leuchtenden Punkt und  hörte einen entsetzlichen Schrei des zu Tode getroffenen Opfers, der mich noch jetzt in der Nacht aufweckt. Ich sah, daß Lurotte ihre Hände ausstreckte, ich fürchtete, sie würde aufstehen, und stemmte mich mit aller Kraft auf das Messer. Hätte sie sich erhoben, ich wäre vor Furcht gestorben. Aber sie zuckte nur noch krampfhaft und rührte sich dann nicht mehr.

Nun wollte ich fort, ich konnte jedoch die Tür nicht finden. Das Blut schoß mir so gewaltsam nach dem Kopfe und hämmerte so an die Schläfen, daß ich wankte und mich festhalten mußte, um nicht niederzustürzen. Endlich ergriff ich die Klinke der Tür; das kalte Eisen erschreckte mich, es war mir, als wenn es durch die Hand hindurchfühle und mir den Körper zerrisse. Ich eilte fort in die freie Luft. Da wurde mir wieder wohl, ich stürmte nach Hause. Ich kam in mein Zimmer, schloß es zu, warf mich auf mein Bett und schlief ein. Am anderen Morgen sah ich dem Schlachten bei meinem Nachbar nicht zu.

Am 19. Oktober i860 begegnete ich etwa hundert Schritt von der Pommier-Mühle entfernt einem Kolporteur. Es war ein schöner, junger Mann, etwa neunzehn Jahre alt, der ein sehr heiteres Gemüt besaß. Er saß gerade am Abhange der Straße und frühstückte etliche Früchte, die er am Wege gefunden hatte, und ein Stück Brot, in das er mit seinen weißen Zähnen wacker hineinbiß. Ich setzte mich neben ihn und forderte ihn auf, mir sein Nomadenleben zu schildern. Er erzählte mir, er habe weder Vater noch Mutter, wohl aber zwei Schwestern, die eine zehn, die andere sieben Jahre alt. Er war ihr Ernährer, denn sie lebten von dem, was er mit seinem Geschäft erwarb, in einem von einem Pfarrer beaufsichtigten Institut. Jeden Monat kam er in das Dorf,  wo sie sich aufhielten. Er verweilte einen Tag bei ihnen, herzte und küßte sie, ließ sich von ihnen sagen, wie es ihnen erging, und begab sich dann wieder auf die Wanderschaft.

Als er sein Brot verzehrt hatte, nahm er aus der Tasche ein Messer, um einen Apfel zu zerschneiden. ›Jetzt ist der Augenblick für das Dessert gekommen.‹ sagte er, ›ich werde es mit vollem Behagen verzehren und den Apfel kunstgerecht schälen. Sie sehen, ich pflege mich.‹ Es war ein herrlicher Tag, alles duftete und glänzte, die Gegend lag da gleich einem Paradiese. Man hätte denken sollen, bei so hellem Sonnenschein könnte kein Werk der Nacht vollbracht werden. Unglücklicherweise traf ein Strahl das Messer des Burschen und ließ es hell leuchten. Von diesem Augenblick an wandte ich keinen Blick mehr ab von dem Stahl. Alles tanzte und funkelte um die Klinge herum, ein roter Nebel umfing meine Augen.

›Wollen Sie einen Apfel, Herr? Es liegen noch mehrere hier auf dem Rasen, und das Fallobst gehört Ihnen so gut wie mir‹, sagte er. ›Während ich mein Paket schnüre, leihe ich Ihnen mein Messer, aber Sie müssen sich beeilen, denn ich muß mich rasch wieder auf den Weg machen. Ich habe noch fünf Meilen bis nach Hause zurückzulegen, und wenn ich heute abend nicht zu meinen Kleinen komme, so geht die Welt unter. Überdies habe ich es auch versprochen.‹

Er gab mir das Messer und bückte sich über seinen Reisesack, um ihn zuzuschnallen. O du armer Kerl, du armer Engel! Was hattest du Gott zuleide getan? O Schicksal, warum hast du ihn auf meinen Weg geführt? Der arme Junge ist nun tot, und ich habe nicht den Mut, Ihnen zu erzählen, wie ich ihn ermordet habe.  Sie sehen, ich bin eine Tötungsmaschine. Ich tötete niemals aus Haß, sondern ich mußte töten. Das eben macht mich furchtbar und gebietet Ihnen, mich zu vernichten.

Die Behörden waren nicht glücklicher in ihren Nachforschungen als das erstemal. Man verstärkte zwar die Gendarmerie, setzte Belohnungen aus, um dem Mörder auf die Spur zu kommen, der Pfarrer sprach von der Kanzel über die Schlechtigkeit der Welt, der Bürgermeister versicherte, daß sich eine noch stärkere und gefährlichere Bande als die von Cartouche im Lande festgesetzt habe. Und der Erfolg war: am 6. März 1861 wurde der Polizeikommissar in einem Busche liegend aufgefunden, er war erstochen wie vorher Lurotte und der Kolporteur, am 7. November 1861 kam der Pfarrer von Pommerelles an die Reihe und am 12. März 1863 der Wagner Martin von La Chappe.

In Neuville überstieg das Entsetzen jedes Maß. Man verwahrte die Häuser mit doppelten Riegeln, man änderte die Schlösser an den Türen und ließ die Fenster im Erdgeschoß vergittern. Es war fast lustig, alle die Geschichten zu hören, die abends am Herde erzählt wurden. Da war beinahe niemand, der nicht einer großen Gefahr entronnen wäre. Mit dem Anbruch der Nacht schlossen sich auch beherzte Männer in ihre Wohnungen ein, und wer durchaus noch ausgehen mußte, ließ sich begleiten.

Eines Abends war der Pfarrer von Saint-Eustache zu uns zum Spiel gekommen, mein Vater wollte ihn nicht allein in das Pfarrhaus zurückkehren lassen und befahl mir, ihn nach Hause zu bringen. Meine Mutter wurde totenblaß und sagte halblaut: ›Maxime, wo denkst du hin? Der Junge müßte ja allein zurückkehren. Heilige Maria, wenn man ihn unterwegs ermordete.‹

›DaS wäre immer noch besser,‹ antwortete mein Vater, ›als wenn der Gast getötet würde und es hinterdrein hieße, es wäre nicht geschehen, wenn Pieydagnelle mitgegangen wäre. Ich werde den Abbé begleiten.‹

›Wir wollen alle zusammen mit, das wird den Banditen Respekt einflößen‹, erwiderte die Mutter.

›Nun, Marianne,‹ lachte der Vater, ›du wärest die Rechte, um jemand Furcht einzujagen. Nein, meine liebe Alte, bleibe du hübsch beim Feuer sitzen, der Knabe soll mitgehen, und ich begleite ihn. Das genügt vollständig, denn man greift ja nur einzelne Menschen an, wie wir alle wissen.‹

Wir gingen mit dem Abbé, und auf dem Heimwege zitterte mein Herz aus Besorgnis für meinen Vater. Ich liebte den guten Mann so zärtlich. Ich vergaß ganz, daß ich selbst der Mörder war, und wünschte fast, es möchte jemand einen Angriff auf meinen Vater wagen. O wie hätte ich ihn verteidigen wollen! Es muß ja eine Wonne sein, wenn man einen guten Grund hat, Blut zu vergießen! Wäre ich zu Felde gezogen, es wäre ein Held aus mir geworden, wenn man mir nicht etwa vorher den Garaus gemacht hätte. Übrigens müßte mir meine Vaterstadt dankbar sein, denn nur aus Angst vor mir ist Gasbeleuchtung eingeführt worden.

Ich verlor Vater und Mutter durch den Tod, und am 7. Oktober 1864 verließ ich Neuville. Ich bin kein undankbarer Mensch, sondern ich danke dem Himmel, daß er meine Eltern weggenommen hat, ehe sie mein böses Herz erkannt haben. Ich hoffe, durch meinen Tod wird alles hier und in einer anderen Welt gesühnt werden.

Da ich keine Lust empfand, irgendein Geschäft zu treiben, so entschloß ich mich, im freien Walde als Einsiedler zu leben. Ich habe es sechs Jahre lang durchgeführt,  jeden Umgang mit Menschen gemieden, keine andere Zerstreuung gehabt als die Jagd, und ich habe, um nicht in Versuchung zu geraten, niemals ein Messer angerührt. Ist es nicht sonderbar, daß ich um keinen Preis einen Menschen mit einem Gewehr töten könnte, und daß der Anblick eines Messers einen wahnsinnigen Blutdurst in mir wachruft? Und wissen Sie, was die Leute in meiner Vaterstadt von mir sagten? ›Der arme Eusebius,‹ so hieß es allgemein, ›der Tod seiner Eltern hat ihn verrückt gemacht, und er ist auf und davon gegangen. Ein so ruhiger, kalter Mensch! Wer hätte je gedacht, daß er so zum Äußersten getrieben werden würde!‹ So falsch urteilen die Menschen über andere!

Diese Äußerung gilt aber nicht Ihnen, meine Herren. Denn mit Ihnen spiele ich offenes Spiel und feilsche nicht um meinen Kopf, der es übrigens auch gar nicht wert ist. Ich komme nun zu dem entsetzlichen Ereignis, das die Veranlassung geworden ist, daß ich vor Ihnen stehe.

Ich lebte also, wie ich schon erwähnte, im Walde. Eines Nachts, es war am 3. August 1870, und der Mond schien hell, hörte ich an die Tür meiner Höhle klopfen. Das war schon öfters geschehen, etwa zweimal in jedem Jahre, aber ich hatte die Gäste nie freundlich empfangen, so daß sich die Leute zuletzt vor mir fürchteten und mich in Ruhe ließen. Mir war es sehr gleichgültig, ich befand mich sogar viel wohler, seit ich nicht mehr belästigt wurde. Auch diesmal kümmerte ich mich nicht um das Klopfen, sondern blieb auf meinem Lager von dürren Blättern liegen und dachte, der Mensch würde sich schon wieder entfernen. Allein da öffnete sich die Tür, die nicht verschlossen war, ich sah in der Öffnung eine Gestalt stehen und hörte eine mir bekannte Stimme: ›Holla! Ist denn niemand hier, der mir den 12  Weg zeigen könnte?‹ Ich erschrak, mein Herz fing an zu klopfen, der Schweiß drang mir aus allen Poren. Es war der Metzger Crisloval, der vor mir stand. Ich wollte mich verbergen, aber unwillkürlich rief ich: ›Cristoval, sind Sie es wirklich?‹

›Wer zum Teufel kennt mich hier? Wenn ich Ihnen antworten soll, dann zeigen Sie sich‹, rief er zurück.

In mir kämpften die widersprechendsten Gefühle, Ich empfand Freude darüber, den Mann wiederzusehen, dem ich die einzigen Genüsse verdankte, die ich jemals gehabt hatte, aber es befiel mich zugleich ein Grauen bei seinem Anblick, denn er hatte die mörderische Lust in mir wieder angefacht. Ich sagte mir, er sei doch unschuldig daran, daß ich ein Mörder geworden war, und dennoch konnte ich mich des Hasses und des Ingrimms gegen ihn nicht erwehren. Ich hatte während meiner Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft zu oft den Einfluß verflucht, den er auf mich und mein Leben ausgeübt hatte. Ich überwand mich aber, reichte ihm die Hand und sagte: ›Herr Crisloval, ich will Ihnen sogleich sagen, wer ich bin. Sie würden mich nicht erkennen, wenn es auch Heller Mittag wäre, so sehr habe ich mich verändert. Erlauben Sie mir, Sie zu umarmen. Ich bin Eusebius Pieydagnelle, Ihr alter Lehrbursche.‹

›Also ist es doch wahr,‹ erwiderte er, ›was man mir erzählt hat! Komm her, Bursche!‹ Dabei gab er mir die Hand und zog mich an seine Brust. Ich preßte ihn lange und innig an mich. Die Berührung des Mannes, den ich seit dem Tode meiner Eltern nicht mehr gesehen hatte, rief mir das Andenken an Vater und Mutter zurück. Die glückliche Jugend trat mir vor die Seele, ich fühlte mein Herz froh werden.

Es entspann sich nun folgendes Gespräch zwischen uns:

›Wie freut es mich, mein Junge, dich wiederzusehen! Das ist gewiß nicht bloß ein blinder Zufall, der mich hierher geführt hat.‹

›Wie kommt es denn, Herr Cristoval, daß Sie in diesem Walde, zwei Tagereisen von der Heimat entfernt, so allein umherirren?‹

›Ich habe heute morgen die Fahrpost versäumt, mein Sohn. Müde von der Hitze und in der Meinung, sehr viel Zeit übrig zu haben, ließ ich mich durch den kühlen Schatten verleiten, legte mich in einem Gehölz an der Straße nieder und schlief ein. Die Glocken der Post, auf die ich wartete, klangen wahrscheinlich weniger laut als gewöhnlich, und ich wachte nicht auf, als sie vorbeikam. Nun entschloß ich mich, zu Fuß weiterzugehen, und hoffte La Garigue noch rechtzeitig vor Abgang des Zuges zu erreichen. Dicht neben der Straße zog sich der Wald hin, der Schatten lockte mich wieder, ich ging in den Wald, verirrte mich aber und bin nun bereits zwei Stunden ohne Weg und Steg umhergelaufen. Ich beklage mich aber nun, da ich dich gefunden habe, nicht mehr darüber und werde die Nacht bei dir bleiben.‹

›Oh! Das geht nicht, Herr Cristoval, das ist ganz unmöglich!‹

›Weshalb denn nicht?‹

›Ich will nicht, daß Sie hier übernachten. Ich führe Sie einen Waldweg entlang, auf dem Sie in zwei Stunden nach La Garigue kommen, und unterwegs können wir uns erzählen.‹

›Nun, du bist recht freundlich, das muß ich sagen. So empfängst du einen alten Freund wie mich? Ich werde aber dennoch bei dir bleiben und sogar auf deinen Glasscherben gut schlafen, so müde bin ich. Vorher über wollen  wir ein Stück Fleisch miteinander verzehren, das ich zu mir gesteckt habe.‹

›Wir können es ebensogut auf dem Wege tun, Herr Cristoval. Ich kann nicht dulden, daß Sie bei mir schlafen.‹

›Gut! Da es dir gefällt, deinen ehemaligen Lehrherrn so zu empfangen, mich, dem du das Mark in den Knochen und das Blut in den Adern zu verdanken hast, so werde ich dich nicht lange belästigen. Du nimmst dir wahrscheinlich die Wölfe zum Vorbild, die auch keinen Menschen beherbergen.‹

›Herr Christoval, es geschieht nur zu ihrem Besten. Urteilen Sie nicht nach dem äußeren Scheine, Sie werden sonst unter zehnmal neunmal irren. Ich sage Ihnen dies aus reiner Freundschaft und Zuneigung.‹

›Nun, ich sehe, es ist wahr, was man von dir sagt: du bist ganz verrückt. Ich hätte hier auf den dürren Blättern so gut geschlafen, aber wenn du es nicht willst, so wollen wir uns auf den Weg machen.‹

Während wir miteinander durch den Wald gingen, erzählte mir Cristoval tausend Dinge, die zwar an sich wenig Bedeutung hatten, mich aber lebhaft interessierten, denn sie bezogen sich auf Ereignisse in Vieuville. Er selbst hatte die Metzgerei an Bricogne verkauft und wollte sich nach Soissons zurückziehen. Die Fräulein Pidoux, die ich kannte, hatten geheiratet, die jüngere hatte vier, die ältere drei Kinder. Die Apotheke war durch Feuer zerstört worden. Aber die größte Neuigkeit war die Gefangennahme des Mörders, der Lurotte, den Kolporteur, den Polizeikommissar, den Pfarrer von Pommerelles und den Wagner Martin von La Chappe umgebracht hatte.

Als ich dies vernahm, befiel mich ein Schwindel, mir war, als müßte ich umsinken, das Blut stieg mir in den  Kopf, ein seltsamer Geschmack trat mir auf die Zunge, der Mond schien mir rot gefärbt zu sein, ich sah rings um mich Blut, nichts als Nut.

›Nun, was hast du denn‹, sagte der Fleischer und wollte mich halten.

›Rühren Sie mich nicht an‹, rief ich. ›Mir fehlt nichts, gehen Sie nur Ihres Weges fort!‹

›Wahrhaftig,‹ erwiderte er, ›du bist nicht recht gescheit und tust wohl daran, in deiner Höhle wie ein wildes Tier zu leben. Zu Menschen paßt du nicht.‹

›Wer ist der arme Kerl, den man festgenommen hat?‹

›Du kennst ihn, er war einer von deinen Freunden: Anthime Lebegue, der erste Schreiber bei Pelucheux.‹

›Anthime ein Mörder! Die das gesagt haben, haben gelogen! Es gibt keinen ehrlicheren Mann als ihn in ganz Neuville! Ach, ihr seid böse Menschen da unten! Anthime Lurottes Mörder! Armer Kerl! Was ist mit ihm geschehen?‹

›Was mit allen solchen Elenden geschieht. Zuerst hat man ihn hinter Schloß und Riegel gesetzt, dann hat man die Sache untersucht und ihn endlich abgeurteilt. War das ein Durcheinander! Etliche sprachen für ihn, andere gegen ihn; aber angesichts der Beweise –‹

›Welcher Beweise?‹

›Erstens fand man in Lurottes Tasche einen Brief von ihm, in dem er ihr schreibt, sie solle ihn zwischen elf und zwölf Uhr erwarten.‹

›Und was beweist das?‹

›Daß der Schurke zu der Zeit, da der Mord verübt wurde, bei ihr war. Auch gestand Anthime, daß er im Coq Bleu gewesen sei, nur behauptete er, er habe die Tür verschlossen gefunden, an die Läden geklopft, aber niemand  habe ihm geöffnet, obwohl noch Licht in der Küche gewesen sei. Aus Furcht, das Mädchen bloßzustellen, habe er nicht Lärm geschlagen, sondern sich entfernt. Das hat er natürlich erfunden.‹

›Weshalb soll es denn nicht wahr sein?‹

›Weil der Schlüssel auf der Straße gelegen hat. Die Tür war nicht von innen versperrt, sondern von außen zugeschlossen.‹

›Ein anderer konnte sie ja nach vollbrachter Tat zugeschlossen haben.‹

›Man entdeckte an seinem Schuhwerk Blutspuren.‹

›Wieder ein schöner Beweis! Lurotte hat stark geblutet. Das Blut floß ja wie ein Strom, es wird durch die Hausflur zur Tür hinausgeflossen sein, und Anthime hat hineingetreten.‹

›Was weißt du denn davon?‹

›Ich? Nichts! Nur was die andern auch wissen. Aber es ist ja klar, daß Anlhime nicht den Mord begangen hat. Er und mit einem Messer hantieren!‹

›Woher weißt du denn, daß Lurottes Blut in Strömen geflossen ist? Du bist ja ganz erhitzt. Du sprichst, als wenn du mehr wüßtest, als du sagen willst. Wenn du dem Gericht nähere Aufklärungen geben kannst, und du unterläßt es, so bist du ein Schurke. In acht Tagen wird Anthime hingerichtet, daraus siehst du, daß es sich der Mühe verlohnt.‹

›Ich, ich weiß nichts, nicht mehr, als die andern seinerzeit auch wußten.‹

›Sieh mir ins Gesicht! Du hast es, seit wir zusammengetroffen sind, vermieden, mich anzusehen.‹

›Ich sehe Sie an. Was weiter?‹

›Du warst befreundet mit Anthime.‹

›Ich war sein einziger Freund.‹

›Weshalb hast du dich in den Wald zurückgezogen wie ein wildes Tier?‹

›Das ist meine Sache. Ich brauche darüber keine Auskunft zu geben.‹

›Es ist aber unnatürlich, so im Walde zu leben.‹

›Wenn es nun mein Geschmack ist?‹

›Höre, soll ich dir etwas sagen? Es würde mich nicht wundern, wenn du Anthimes Mitschuldiger wärest.‹

›Ich bedanke mich, Herr Cristoval. Sie haben eine Manier zu scherzen, die Ihnen übel bekommen könnte, wenn ich der Mensch wäre, für den Sie mich halten.‹

›Ich fürchte mich nicht, wie du weißt. Ich habe eine feste Faust und in der Tasche ein Instrument, mit dem ich dir schon etwas Tüchtiges auswischen könnte, wenn du mir zu nahe kämest. Du kennst mich ja.‹

›Um uns solche Dinge zu sagen, brauchen wir wahrhaftig nicht um die Mitternachtsstunde zusammen durch den Wald zu gehen. Hier ist Ihr Weg, Herr Cristoval. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.‹

›Nein, so will ich nicht scheiden von einem Menschen, dessen Vater ich gewissermaßen bin. Ich gestehe, ich habe mich übereilt. Du kannst kein Mörder sein. Gib mir die Hand.‹

›Werden Sie dann gehen?‹

›Nein. Du mußt mich noch weiter begleiten. Ich müßte sonst denken, du wärest böse auf mich, weil ich dich so schwer beschuldigt habe.‹

Ich versuchte immer wieder, ihn loszuwerden, aber er schwor, er würde mit mir umkehren, wenn ich nicht noch ein Stück mit ihm ginge. Nichts kann den Menschen retten, dem das Schicksal einmal den Tod bestimmt hat. Niemals gab es eine schönere Nacht, als diese war. Der Himmel zeigte sich in all seiner Pracht. Ich habe es nie  begriffen, daß die Dichter die Elemente fast immer mit den Ereignissen harmonieren lassen. Bei meinen schwärzesten Taten war stets schönes Wetter.

Wir setzten die Wanderung fort. Der Fleischer ging rasch und immer voran, das war sein Unglück. Ich konnte kein Auge von seinem Nacken abwenden. Mein Blick war festgebannt auf jene Stelle, in die ich schon fünfmal mit einem Messer den tödlichen Stich geführt hatte.

›So gehen Sie doch nicht immer vor mir her, Herr Cristoval‹, rief ich ihm in barschem Tone zu.

In dem Glauben, ich sei ein Narr, erwiderte er nichts, sondern drehte sich um und bot mir eine Zigarre an. ›Du wirst ohnehin selten rauchen, denn Tabakläden gibt es ja dort, wo du wohnst, nicht.‹

Ich nahm die Zigarre, und er reichte mir ein langes Reisemesser, damit ich die Spitze abschneiden könnte.

Was zum Teufel focht ihn an, mir die Klinge zu geben und in sein Verderben zu rennen? Ich sah das Messer an, der Mond beleuchtete es mit silbernem Glanze. Cristoval ging wieder vor mir her. Die Versuchung war zu stark, das werden Sie selbst einsehen. Ich hätte den Charakter eines Scipio haben müssen, um Widerstand zu leisten. Schon wollte ich ausholen, da traten wir in einen von dichtem Laubwerk bedeckten Gang. Kein Strahl des Mondes drang hinein, ich konnte nicht berechnen, wohin ich stach. Als wir in die nächste Lichtung kamen, sagte Cristobal: ›Gib mir das Messer! Ich sehe da einen Ast, der mir gefällt. Ich will mir einen Stock abschneiden.‹

›Ach, warum wollen Sie sich die Mühe machen, das kann ich ebensogut besorgen.‹ Ich lief hin und fing an zu schneiden. Weshalb brach die Klinge nicht ab? Dann wäre der Fleischer gerettet gewesen! Aber das Geschick  wollte es nicht, er sollte sterben. Ich gab ihm den abgeschnittenen Ast, und er sagte: ›Ich danke dir, aber jetzt darfst du nicht weiter mit mir gehen. Ich sehe den Weg, den ich einschlagen muß. Leb wohl!‹

›So lassen Sie mich doch! Ein Wolf wird von zwei Stunden Weges nicht müde. Sie könnten sich noch einmal verirren. Ich verlasse Sie erst, wenn Sie den Weg nicht mehr fehlen können, und jetzt will ich Ihnen erst den Stock zurechtschneiden, er wird Ihnen eine Erinnerung an mich sein.‹

Arglos wandte er mir den Rücken, um seinen Weg fortzusetzen. Wenige Sekunden später stand er vor Gottes Thron.

Welche Freude durchfuhr mich, als er von meinem Messerstiche durchbohrt niederstürzte und am Boden lag! Ich hatte das Gefühl, mich an ihm gerächt zu haben. Weshalb hatte er mich auch in sein Haus aufgenommen und meine Hände in Blut getaucht? Weshalb hatte er mich nicht schwächlich bleiben und in zartem Knabenalter sterben lassen? Weshalb hatte er die Pläne Gottes durchkreuzt, nach denen mir nur ein kurzes Leben bestimmt war? Ich war der Meinung, daß ich ihn als ein Werkzeug der Vorsehung für sein eigenmächtiges Eingreifen gestraft hätte, und fühlte mich glücklich in diesem Gedanken. Diese Wonne dauerte indes nur einen kurzen Augenblick. Ein Schrei des Sterbenden drang mir durch Mark und Bein. Ich werde ihn hören, bis Sie mich köpfen lassen. Der Stich war nicht sofort tödlich. Der arme Mann wälzte sich in furchtbaren Schmerzen auf der Erde. Er riß das Gras heraus und biß in die Baumwurzeln. Zuletzt erhob er sich und klammerte sich an einen Baum an. Mir war, als riefe er mich, obwohl seine mit schäumendem Blute bedeckten Lippen unbeweglich blieben.

Ich schlich an ihn hinan und lag zu seinen Füßen. Als er mich sah, faßte ihn ein Grausen, er fiel zu Boden. Ich bat ihn um Vergebung, ich nahm mein Taschentuch und wischte ihm den Mund ab. Er klammerte sich an mich und wollte zu mir sprechen, allein er vermochte es nicht. Ich hielt mein Ohr an seinen Mund, aber ich vernahm nur die Stimme meines Gewissens. Sie rief: ›Liefere dich der menschlichen Gerechtigkeit aus. Wenn du es nicht tust, so fürchte Gottes Gericht!‹

Ich lispelte einige Gebete, lud den Körper, als er kalt war, auf meine Achseln und trug ihn fort. Neben mir ging mein Vater, der den Toten auf der rechten Seite stützte, und links von ihm schritt meine Mutter einher. Beide begleiteten mich bis zur Stadt, in der ich mit dem ersten Hahnenschrei ankam.

Ich sehe, Sie wundern sich, daß ich Ihnen davon erzähle, daß mich meine Eltern begleitet haben. Denken Sie davon, was Sie wollen, überlegen Sie sich aber: wie wäre es denn ohne diese Hilfe möglich gewesen, daß ich den bluttriefenden Körper eine Strecke von drei Stunden bis in die Stadt hätte schleppen können?

Ich schritt durch die Straßen, in denen noch alles schlief, bis zu Ihrer Wohnung, Herr Präsident. Ich legte meine Last an Ihrer Schwelle nieder und klopfte an Ihre Tür. Ich mußte lange klopfen, denn Ihre Leute schliefen fest. Endlich öffneten Sie selbst ein Fenster und fragten, mit verschlafenen Augen herausschauend: ›Wer ist der Dummkopf, der so heftig klopft zu einer Stunde, da anständige Leute im Schlummer liegen?‹

Ich antwortete: ›Es ist kein Dummkopf, Herr Präsident! Es ist ein Mörder, der Ihnen sein Opfer bringt, weil es ihm so von einer inneren Stimme befohlen wurde.  Nehmen Sie sich Zeit zum Ankleiden! Wenn man kommt, um sich köpfen zu lassen, so kann man warten.‹

Sie schrieen auf und schlossen das Fenster. Ich hörte Schritte im Treppenhause und dachte. Sie wollten mich festnehmen. Ich küßte die Leiche des armen Cristoval noch einmal und machte mich bereit, ins Gefängnis zu gehen. Aber Sie kamen nur herunter, um noch einen Nachtriegel vor die Tür zu schieben und den Schlüssel ein zweites Mal herumzudrehen. Zum Glück sammelten sich auf der Straße Leute, sie umringten mich, nahmen mich fest und führten mich ins Gefängnis.

Das ist meine Geschichte. Und nun, meine Herren, verurteilen Sie mich zum Tode!«

Der Angeklagte setzte sich nieder. Die Geschworenen zogen sich zurück, traten aber schon nach zehn Minuten wieder in den Saal und verkündigten das Nichtschuldig, Sie hatten Unzurechnungsfähigkeit angenommen. Als Eusebius Pieydagnelle dieses Urteil hörte, wich jeder Blutstropfen aus seinem, Antlitz, er fing an zu zittern, redete verworrenes Zeug und verfiel zuletzt in Tobsucht, so daß man ihm die Zwangsjacke anlegen mußte.

Als Monomane in eine Irrenanstalt übergeführt, starb er bald darauf an einem Gehirnschlag.

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