Die Engländer

Un­ter den Bo­gen­gän­gen der Lon­do­ner Bör­se hat je­de Na­ti­on ih­ren an­ge­wie­se­nen Platz, und auf hoch­ge­steck­ten Tä­fel­chen liest man die Na­men: Rus­sen, Spa­ni­er, Schwe­den, Deut­sche, Mal­te­ser, Ju­den, Han­sea­ten, Tür­ken usw. Vor­mals stand je­der Kauf­mann un­ter dem Tä­fel­chen, wor­auf der Na­me sei­ner Na­ti­on ge­schrie­ben. Jetzt aber wür­de man ihn ver­ge­bens dort su­chen; die Men­schen sind fort­ge­rückt; wo einst Spa­ni­er stan­den, ste­hen jetzt Hol­län­der; die Han­sea­ten tra­ten an die Stel­le der Ju­den; wo man Tür­ken sucht, fin­det man jetzt Rus­sen; die Ita­lie­ner ste­hen, wo einst die Fran­zo­sen ge­stan­den; so­gar die Deut­schen sind wei­ter­ge­kom­men.

Wie auf der Lon­do­ner Bör­se, so auch in der üb­ri­gen Welt sind die al­ten Tä­fel­chen ste­hen­ge­blie­ben, wäh­rend die Men­schen dar­un­ter weg­ge­scho­ben wor­den und an­de­re an ih­re Stel­le ge­kom­men sind, de­ren neue Köp­fe sehr schlecht pas­sen zu der al­ten Auf­schrift. Die al­ten ste­reo­ty­pen Cha­rak­te­ris­ti­ken der Völ­ker, wie wir sol­che in ge­lehr­ten Kom­pen­di­en und Bier­schen­ken fin­den, kön­nen uns nichts mehr nut­zen und nur zu trost­lo­sen Irr­tü­mern ver­lei­ten. Wie wir un­ter un­sern Au­gen in den letz­ten Jahr­zehn­ten den Cha­rak­ter un­se­rer west­li­chen Nach­ba­ren sich all­mäh­lich um­ge­stal­ten sa­hen, so kön­nen wir, seit Auf­he­bung der Kon­ti­nen­tal­sper­re, ei­ne ähn­li­che Um­wand­lung jen­seit des Ka­na­les wahr­neh­men. Stei­fe, schweig­sa­me Eng­län­der wall­fah­ren schar­weis nach Frank­reich, um dort spre­chen und sich be­we­gen zu ler­nen, und bei ih­rer Rück­kehr sieht man mit Er­stau­nen, daß ih­nen die Zun­ge ge­löst ist, daß sie nicht mehr wie sonst zwei lin­ke Hän­de ha­ben und nicht mehr mit Beef­steak und Plum­pud­ding zu­frie­den sind. Ich selbst ha­be ei­nen sol­chen Eng­län­der ge­se­hen, der in Ta­vistock-Ta­vern et­was Zu­cker zu sei­nem Blu­men­kohl ver­langt hat, ei­ne Ket­ze­rei ge­gen die stren­ge an­gli­ka­ni­sche Kü­che, wor­über der Kell­ner fast rück­lings fiel, in­dem ge­wiß seit der rö­mi­schen In­va­si­on der Blu­men­kohl in Eng­land nie an­ders als in Was­ser ab­ge­kocht und oh­ne sü­ße Zu­tat ver­zehrt wor­den. Es war der­sel­be Eng­län­der, der, ob­gleich ich ihn vor­her nie ge­se­hen, sich zu mir setz­te und ei­nen so zu­vor­kom­mend fran­zö­si­schen Dis­kurs an­fing, daß ich nicht um­hin­konn­te, ihm zu ge­ste­hen, wie sehr es mich freue, ein­mal ei­nen Eng­län­der zu fin­den, der nicht ge­gen den Frem­den zu­rück­hal­tend sei, wor­auf er, oh­ne Lä­cheln, eben­so frei­mü­tig ent­geg­ne­te, daß er mit mir sprä­che, um sich in der fran­zö­si­schen Spra­che zu üben.

Es ist auf­fal­lend, wie die Fran­zo­sen täg­lich nach­denk­li­cher, tie­fer und erns­ter wer­den, in eben­dem Ma­ße, wie die Eng­län­der da­hin stre­ben, sich ein le­ge­res, ober­fläch­li­ches und hei­te­res We­sen an­zu­eig­nen; wie im Le­ben selbst, so auch in der Li­te­ra­tur. Die Lon­do­ner Pres­sen sind voll­auf be­schäf­tigt mit fa­shio­nab­len Schrif­ten, mit Ro­ma­nen, die sich in der glän­zen­den Sphä­re des High­life be­we­gen oder das­sel­be ab­spie­geln, wie z.B. »Al­malks«, »Vi­vi­an Grey«, »Tre­mai­ne«, »The Guards«, »Flir­ta­ti­on«, wel­cher letz­te­re Ro­man die bes­te Be­zeich­nung wä­re für die gan­ze Gat­tung, für je­ne Ko­ket­te­rie mit aus­län­di­schen Ma­nie­ren und Re­dens­ar­ten, je­ne plum­pe Fein­heit, schwer­fäl­li­ge Leich­tig­keit, sau­re Sü­ße­lei, ge­zier­te Ro­heit, kurz, für das gan­ze un­er­quick­li­che Trei­ben je­ner höl­zer­nen Schmet­ter­lin­ge, die in den Sä­len West­lon­dons her­um­flat­tern.

Da­ge­gen wel­che Li­te­ra­tur bie­tet uns jetzt die fran­zö­si­sche Pres­se, je­ne ech­te Re­prä­sen­tan­tin des Geis­tes und Wil­lens der Fran­zo­sen! Wie ihr gro­ßer Kai­ser die Mu­ße sei­ner Ge­fan­gen­schaft da­zu an­wand­te, sein Le­ben zu dik­tie­ren, uns die ge­heims­ten Rat­schlüs­se sei­ner gött­li­chen See­le zu of­fen­ba­ren und den Fel­sen von St. He­le­na in ei­nen Lehr­stuhl der Ge­schich­te zu ver­wan­deln, von des­sen Hö­he die Zeit­ge­nos­sen ge­rich­tet und die spä­tes­ten En­kel be­lehrt wer­den, so ha­ben auch die Fran­zo­sen selbst an­ge­fan­gen, die Ta­ge ih­res Miß­ge­schicks, die Zeit ih­rer po­li­ti­schen Un­tä­tig­keit so rühm­lich als mög­lich zu be­nut­zen; auch sie schrei­ben die Ge­schich­te ih­rer Ta­ten; je­ne Hän­de, die so lan­ge das Schwert ge­führt, wer­den wie­der ein Schre­cken ih­rer Fein­de, in­dem sie zur Fe­der grei­fen; die gan­ze Na­ti­on ist gleich­sam be­schäf­tigt mit der Her­aus­ga­be ih­rer Me­moi­ren, und folgt sie mei­nem Ra­te, so ver­an­stal­tet sie noch ei­ne ganz be­son­de­re Aus­ga­be ad usum Del­phi­ni, mit hübsch ko­lo­rier­ten Ab­bil­dun­gen von der Ein­nah­me der Bas­til­le, dem Tui­le­ri­en­sturm und der­glei­chen mehr.

Ha­be ich aber oben an­ge­deu­tet, wie heut­zu­ta­ge die Eng­län­der leicht und fri­vol zu wer­den su­chen und in je­ne Af­fen­haut hin­ein­krie­chen, die jetzt die Fran­zo­sen von sich ab­strei­fen, so muß ich nach­träg­lich be­mer­ken, daß ein sol­ches Stre­ben mehr aus der No­bi­li­ty und Gen­try, der vor­neh­men Welt, als aus dem Bür­ger­stan­de her­vor­geht. Im Ge­gen­teil, der ge­werb­trei­ben­de Teil der Na­ti­on, be­son­ders die Kauf­leu­te in den Fa­brik­städ­ten und fast al­le Schot­ten tra­gen das äu­ße­re Ge­prä­ge des Pie­tis­mus, ja ich möch­te sa­gen Pu­ri­ta­nis­mus, so daß die­ser gott­se­li­ge Teil des Vol­kes mit den welt­lich­ge­sinn­ten Vor­neh­men auf die­sel­be Wei­se kon­tras­tiert wie die Ka­va­lie­re und Stutz­köp­fe, die Wal­ter Scott in sei­nen Ro­ma­nen so wahr­haft schil­dert. Man er­zeigt dem schot­ti­schen Bar­den zu vie­le Eh­re, wenn man glaubt, sein Ge­ni­us ha­be die äu­ße­re Er­schei­nung und in­ne­re Denk­wei­se die­ser bei­den Par­tei­en der Ge­schich­te nach­ge­schaf­fen und es sei ein Zei­chen sei­ner Dich­ter­grö­ße, daß er, vor­ur­teils­frei wie ein rich­ten­der Gott, bei­den ihr Recht an­tut und bei­de mit glei­cher Lie­be be­han­delt. Wirft man nur ei­nen Blick in die Bet­stu­ben von Li­ver­pool oder Man­ches­ter und dann in die fa­shio­nab­len sa­loons von West­lon­don, so sieht man deut­lich, daß Wal­ter Scott bloß sei­ne ei­ge­ne Zeit ab­ge­schrie­ben und ganz heu­ti­ge Ge­stal­ten in al­te Trach­ten ge­klei­det hat. Be­denkt man gar, daß er von der ei­nen Sei­te selbst als Schot­te, durch Er­zie­hung und Na­tio­nal­geist, ei­ne pu­ri­ta­ni­sche Denk­wei­se ein­ge­so­gen hat, auf der an­dern Sei­te als To­ry, der sich gar ein Spröß­ling der Stuarts dünkt, von gan­zer See­le recht kö­nig­lich und adel­tüm­lich ge­sinnt sein muß und da­her sei­ne Ge­füh­le und Ge­dan­ken bei­de Rich­tun­gen mit glei­cher Lie­be um­fas­sen und zu­gleich durch de­ren Ge­gen­satz neu­tra­li­siert wer­den, so er­klärt sich sehr leicht sei­ne Un­par­tei­lich­keit bei der Schil­de­rung der Aris­to­kra­ten und De­mo­kra­ten aus Crom­wells Zeit, ei­ne Un­par­tei­lich­keit, die uns zu dem Irr­tu­me ver­lei­te­te, als dürf­ten wir in sei­ner Ge­schich­te Na­po­le­ons ei­ne eben­so treue fair-play-Schil­de­rung der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­ons­hel­den von ihm er­war­ten.

Wer Eng­land auf­merk­sam be­trach­tet, fin­det jetzt täg­lich Ge­le­gen­heit, je­ne bei­den Ten­den­zen, die fri­vo­le und pu­ri­ta­ni­sche, in ih­rer wi­der­wär­tigs­ten Blü­te und, wie sich von selbst ver­steht, in ih­rem Zwei­kampf zu be­ob­ach­ten. Ei­ne sol­che Ge­le­gen­heit gab ganz be­son­ders der famö­se Pro­zeß des Herrn Wake­field, ei­nes lus­ti­gen Ka­va­liers, der gleich­sam aus dem Steg­reif die Toch­ter des rei­chen Herrn Tur­ner, ei­nes Li­ver­poo­ler Kauf­manns, ent­führt und zu Gret­na Green, wo ein Schmied wohnt, der die stärks­ten Fes­seln schmie­det, ge­hei­ra­tet hat­te. Die gan­ze kopf­hän­ge­ri­sche Sipp­schaft, das gan­ze Volk der Aus­er­le­se­nen Got­tes schrie Ze­ter über sol­che Ver­rucht­heit, in den Bet­stu­ben Li­ver­pools er­fleh­te man die Stra­fe des Him­mels über Wake­field und sei­nen brü­der­li­chen Hel­fer, die der Ab­grund der Er­de ver­schlin­gen soll­te wie die Rot­te des Ko­rah, Dat­han und Ab­i­ram, und um der hei­li­gen Ra­che noch si­che­rer zu sein, wur­de zu glei­cher Zeit in den Ge­richts­sä­len Lon­dons der Zorn der Kings-Bench, des Groß­kanz­lers und selbst des Ober­hau­ses auf die Ent­wei­her des hei­ligs­ten Sa­kra­men­tes her­ab­plä­diert – wäh­rend man in den fa­shio­nab­len sa­loons über den küh­nen Mäd­chen­räu­ber gar to­le­rant zu scher­zen und zu la­chen wuß­te. Am er­götz­lichs­ten zeig­te sich mir die­ser Kon­trast bei­der Denk­wei­sen, als ich einst in der Gro­ßen Oper ne­ben zwei di­cken Man­ches­ter­nen Da­men saß, die die­sen Ver­samm­lungs­ort der vor­neh­men Welt zum ers­ten Ma­le in ih­rem Le­ben be­such­ten und den Ab­scheu ih­res Her­zens nicht stark ge­nug kund­ge­ben konn­ten, als das Bal­lett be­gann und die hoch­ge­schürz­ten schö­nen Tän­ze­rin­nen ih­re üp­piggra­ziö­sen Be­we­gun­gen zeig­ten, ih­re lie­ben, lan­gen, las­ter­haf­ten Bei­ne aus­streck­ten und plötz­lich bac­chan­tisch den ent­ge­gen­hüp­fen­den Tän­zern in die Ar­me stürz­ten; die war­me Mu­sik, die Ur­klei­der von fleisch­far­bi­gem Tri­kot, die Na­tu­ral­sprün­ge, al­les ver­ei­nig­te sich, den ar­men Da­men Angst­schweiß aus­zu­pres­sen, ih­re Bu­sen er­rö­te­ten vor Un­wil­len, »Sho­cking! for shame, for shame!« ächz­ten sie be­stän­dig, und sie wa­ren so sehr von Schre­cken ge­lähmt, daß sie nicht ein­mal das Per­spek­tiv vom Au­ge fort­neh­men konn­ten und bis zum letz­ten Au­gen­bli­cke, bis der Vor­hang fiel, in die­ser Si­tua­ti­on sit­zen blie­ben.

Trotz die­sen ent­ge­gen­ge­setz­ten Geis­tes- und Le­bens­rich­tun­gen fin­det man doch wie­der im eng­li­schen Vol­ke ei­ne Ein­heit der Ge­sin­nung, die eben dar­in be­steht, daß es sich als ein Volk fühlt; die neue­ren Stutz­köp­fe und Ka­va­lie­re mö­gen sich im­mer­hin wech­sel­sei­tig has­sen und ver­ach­ten, den­noch hö­ren sie nicht auf, Eng­län­der zu sein; als sol­che sind sie ei­nig und zu­sam­men­ge­hö­rig, wie Pflan­zen, die aus dem­sel­ben Bo­den her­vor­ge­blüht und mit die­sem Bo­den wun­der­bar ver­webt sind. Da­her die ge­hei­me Über­ein­stim­mung des gan­zen Le­bens und We­bens in Eng­land, das uns beim ers­ten An­blick nur ein Schau­platz der Ver­wir­rung und Wi­der­sprü­che dün­ken will. Über­reich­tum und Mi­se­re, Or­tho­do­xie und Un­glau­ben, Frei­heit und Knecht­schaft, Grau­sam­keit und Mil­de, Ehr­lich­keit und Gau­ne­rei, die­se Ge­gen­sät­ze in ih­ren tolls­ten Ex­tre­men, dar­über der graue Ne­bel­him­mel, von al­len Sei­ten sum­men­de Ma­schi­nen, Zah­len, Gas­lich­ter, Schorn­stei­ne, Zei­tun­gen, Port­er­krü­ge, ge­schlos­se­ne Mäu­ler, al­les die­ses hängt so zu­sam­men, daß wir uns keins oh­ne das an­de­re den­ken kön­nen, und was ver­ein­zelt un­ser Er­stau­nen oder La­chen er­re­gen wür­de, er­scheint uns als ganz ge­wöhn­lich und ernst­haft in sei­ner Ver­ei­ni­gung.

Ich glau­be aber, so wird es uns über­all ge­hen, so­gar in sol­chen Län­dern, wo­von wir noch selt­sa­me­re Be­grif­fe he­gen und wo wir noch rei­che­re Aus­beu­te des La­chens und Stau­nens er­war­ten. Un­se­re Rei­se­lust, un­se­re Be­gier­de, frem­de Län­der zu se­hen, be­son­ders wie wir sol­che im Kna­ben­al­ter emp­fin­den, ent­steht über­haupt durch je­ne ir­ri­ge Er­war­tung au­ßer­or­dent­li­cher Kon­tras­te, durch je­ne geis­ti­ge Mas­ke­ra­de­lust, wo wir Men­schen und Denk­wei­se un­se­rer Hei­mat in je­ne frem­de Län­der hin­ein­den­ken und sol­cher­ma­ßen un­se­re bes­ten Be­kann­ten in die frem­den Kos­tü­me und Sit­ten ver­mum­men. Den­ken wir z.B. an die Hot­ten­tot­ten, so sind es die Da­men un­se­rer Va­ter­stadt, die schwarz an­ge­stri­chen und mit ge­hö­ri­ger Hin­ter­fül­le in un­se­rer Vor­stel­lung um­her­tan­zen, wäh­rend un­se­re jun­gen Schön­geis­ter als Busch­klep­per auf die Palm­bäu­me hin­auf­klet­tern; den­ken wir an die Be­woh­ner der Nord­pol­län­der, so se­hen wir dort eben­falls die wohl­be­kann­ten Ge­sich­ter, un­se­re Muh­me fährt in ih­rem Hun­de­schlit­ten über die Eis­hahn, der dür­re Herr Kon­rek­tor liegt auf der Bä­ren­haut und säuft ru­hig sei­nen Mor­gen­tran, die Frau Ak­zi­se­e­in­neh­me­rin, die Frau In­spek­to­rin und die Frau In­fi­bu­la­ti­ons­rä­tin ho­cken bei­sam­men und kau­en Talg­lich­ter usw. Sind wir aber in je­ne Län­der wirk­lich ge­kom­men, so se­hen wir bald, daß dort die Men­schen mit Sit­ten und Kos­tüm gleich­sam ver­wach­sen sind, daß die Ge­sich­ter zu den Ge­dan­ken und die Klei­der zu den Be­dürf­nis­sen pas­sen, ja daß Pflan­zen, Tie­re, Men­schen und Land ein zu­sam­men­stim­men­des Gan­ze bil­den.

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