Der Leipziger Kreis

Aus: Lebenslinien, 2.Teil, 5.Kap.

Allgemeines. Der Eintritt in den Kreis der neuen Kollegen in Leipzig war für mich und die Meinen mit Schwierigkeiten verbunden. Wir hatten bisher in wesentlich anderen gesellschaftlichen Sitten und Gewohnheiten gelebt und waren weder durch Verwandtschaft noch durch Freundschaft mit reichsdeutschen Kreisen, insbesondere nicht mit denen der Universitäten in Verbindung gekommen. Die Bekanntschaften, welche ich mir auf meinen Reisen erwerben konnte, hatten nur schnell vorübergehende persönliche Berührungen bewirkt. So waren wir in vielen Beziehungen Fremdlinge, als wir in Leipzig einzogen und sind es auch einigermaßen während der neunzehn Jahre geblieben, die wir dort zugebracht haben.

 Hierzu trug nicht wenig der Umstand bei, daß die Anzahl der neuen Kollegen viel zu groß war, als daß ein näheres Verhältnis zu allen oder auch nur der Mehrzahl möglich war. Ich hatte anfangs mit allem Eifer zu Semesterbeginn mich auf die übliche Rundreise der Antrittsbesuche gemacht. In dem Maße, als sich das Gebiet meiner Arbeiten im neuen Amt auftat, ließ der Eifer nach und ich bin meinen nach dieser Richtung liegenden Pflichten niemals vollständig gerecht geworden.

 Auch innerhalb des engeren Kreises der Fakultät bestanden ähnliche Hindernisse. In Dorpat gab es fünf Fakultäten, indem die auf den deutschen Universitäten meist noch verbundenen höchst gegensätzlichen Gruppen der philosophischen Fakultät sachgemäß in eine historisch-philologische und eine physiko-mathematische Fakultät geschieden waren. In Leipzig waren beide noch verbunden, obwohl die Trennungsfrage gelegentlich schon aufgetaucht war, und es bestand auf der philologischen Seite die Sorge, wie die bisherige Vorherrschaft aufrecht erhalten werden konnte.

 So wirkten objektive wie subjektive Gründe zusammen, daß aus meinem bald reich und mannigfaltig genug gewordenen engeren Kreis des Laboratoriums und dem etwas weiteren der im Mediziner- und Naturforscherviertel angesiedelten Fachgenossen sich nur wenige und schwache Fäden in die Gesamtuniversität hinaus gesponnen haben. Meine Abneigung dagegen, die kostbare und reichgefüllte Zeit mir durch die wenig erfreuliche Art der Geselligkeit rauben zu lassen, die ich in Leipzig antraf, war nicht geeignet, die Schwierigkeiten des Anschlusses zu vermindern.

 Die Formen der Geselligkeit. Der gesellige Verkehr fand ganz vorwiegend in Gestalt von »Abfütterungen« statt, wie sie von den Beteiligten allgemein genannt wurden. Ein- oder zweimal im Semester wurden die Opfer in so großer Anzahl eingeladen, als sich in die vorhandenen Räume hineinpressen ließen. Nach einigem Herumstehen, das meist durch Teetassen behindert wurde, die man in die Hand bekam, suchte man die Dame auf, deren Namen man beim Eintritt erfahren hatte und führte sie zu Tisch. Die Speisen, Weine und Lohndiener waren meist dieselben, ebenso wie die Tischdamen. Da man nicht recht wußte, was man hernach anfangen sollte, blieb man möglichst lange sitzen, obwohl es auch da nicht schön war. Hernach wurde der Kaffee gereicht, wobei sich die Geschlechter mehr oder weniger vollständig trennten und man begann aufzupassen, wann der angesehenste Geheimrat das Zeichen zum Aufbruch geben würde. Alles atmete auf, wenn das geschah, was glücklicherweise meist ziemlich bald erfolgte, weil auch er zu Bett verlangte. Manchmal war er aber in einen Vortrag über eine Lieblingsangelegenheit geraten, und da hierfür zufolge der langjährigen Kolleggewöhnung drei Viertelstunden nötig waren, verzögerte sich der Abschied entsprechend.

 Ich will meinen damaligen Kollegen nicht das Unrecht antun, zu behaupten, daß alle geselligen Abende derart verliefen. Es gab auch solche mit einer kleinen, gut zusammenpassenden Gesellschaft, die heiter und erquicklich waren. Sie waren aber selten, da der große Umfang der gesellschaftlichen Verpflichtungen kaum anders als durch Massenarbeit zu bewältigen war.

 Wir, meine Frau und ich, haben nur während weniger Jahre versucht, diesen Verkehr mitzumachen. Wir gaben ihn dann als eine hoffnungslose Sisyphusarbeit auf und beschränkten unsere Beziehungen auf einige wenige befreundete Familien. An einigen zweckmäßigeren Formen der Geselligkeit, wie gemeinsamen Spaziergängen, Kegelabenden und ähnlichem habe ich mich dagegen dauernd und regelmäßig beteiligt und ich verdanke den Begegnungen dabei manche Anregung von weitreichender und fruchtbarer Beschaffenheit.

Karl Ludwig. Eine der allerwertvollsten Beziehungen, die mir die Berufung nach Leipzig verschafft hat, ist die zu dem großen Physiologen Karl Ludwig gewesen. Ich habe schon (I, 267) von meiner ersten Begegnung mit ihm und von der Güte erzählt, mit der er mir damals gegenübertrat. Die gleiche Güte erwies er mir und den Meinen während der ganzen Zeit unseres Zusammenlebens in Leipzig bis zu seinem 1895 erfolgten Tode.

 Ludwig war 1816 geboren, stand also im 71. Lebensjahre, als ich ihm in Leipzig näher treten durfte. Er hatte schon bald nach meiner Übersiedelung mich aufgefordert, ihn wenn ich Zeit hatte, in seinem Laboratorium zu besuchen. Von diesem Vorrecht habe ich reichlich Gebrauch gemacht und ich verdanke ihm viel. Er ist bekanntlich einer der erfolgreichsten Lehrer der Physiologie gewesen, der namentlich durch den internationalen Schülerkreis, den er folgeweise in Marburg, Zürich, Wien und zuletzt Leipzig um sich zu versammeln wußte, die durch Johannes Müller begründete führende Stellung der deutschen Physiologie entwickelt und gesteigert hat. Soll doch gelegentlich ein Russischer Physiologe, auch ein Schüler Ludwigs, nach berühmtem Muster die Physiologie für eine Russische Wissenschaft erklärt und als Begründung angegeben haben: in Ludwigs Laboratorium seien mehr Russische Praktikanten gewesen als von irgendeiner anderen Nation.

Nach Leipzig war Ludwig 1865 berufen worden. Im folgenden Jahre fand der Preußisch-Österreichische Krieg statt, an welchem Sachsen sich auf der falschen Seite beteiligt hatte. Durch Bismarcks Weisheit war es ohne Gebietsverlust davongekommen. Um den moralischen Verlust einzubringen, hatte der damalige sächsische König Johann beschlossen, ähnlich wie Preußen nach seiner Niederlage von 1806, auf dem Gebiete der Wissenschaft das einzuholen, was auf dem der Politik verloren gegangen war. Die Leipziger Universität führte damals ein ziemlich verborgenes Dasein; hier griff der ausgezeichnete Minister v. Falkenstein ein und verstand innerhalb eines Jahrzehnts durch glückliche Berufungen ein blühendes wissenschaftliches Leben in Leipzig zu entwickeln. In diesem Zusammenhange hatte u.a. 1871 die Gründung des einzigen Lehrstuhls für physikalische Chemie in der ganzen Welt und seine Besetzung durch G. Wiedemann stattgefunden. Als Berater für Medizin und Naturwissenschaften diente dem Minister Karl Ludwig, dessen vornehme Gesinnung und ebenso scharfes wie objektives Urteil er bald erkannt hatte. So wurde Leipzig in erstaunlich kurzer Zeit von einer Provinzuniversität zu einer Weltuniversität umgeschaffen, deren Studentenzahl bald die aller anderen deutschen Schwesteranstalten mit Ausnahme von Berlin übertraf.

 König Johann von Sachsen hat diese Schöpfung, an der er sich mit Recht einen erheblichen Anteil zuschreiben durfte, stets mit besonderer Freude betrachtet. Er liebte es, gelegentlich ohne jede Ansage und Begleitung in schlichtem Gewande in den Vorlesungen einzelner Professoren zu erscheinen, die ihn interessierten, und diese waren ein für allemal ersucht worden, von seiner Anwesenheit keine sichtbare Notiz zu nehmen. Er setzte sich dann zu den Studenten auf eine Bank, wo er gerade Platz fand. Man kann sich leicht vorstellen, welchen starken Einfluß zum Guten dies auf die Professoren hatte, da die üblichen Auszeichnungen nicht selten erkennbar durch die Beobachtungen beeinflußt wurden, welche der König bei solchen Gelegenheiten anstellen konnte.

Zu der Zeit, als ich nach Leipzig kam, gehörten diese Dinge längst der Vergangenheit an. König Johann war 1873 gestorben. Sein Nachfolger Albert ließ sich zwar gleichfalls die Universität angelegen sein, die er alljählich auf mehrere Tage besuchte, um die neu angestellten Professoren zu hören. Aber das waren feierliche, vorbereitete Empfänge; das unmittelbare Interesse an der Wissenschaft, von dem der gelehrte Johann beseelt war, fehlte dem Nachfolger, der mehr Militär und Staatsmann war. Dann starb auch Falkenstein und unter dem Minister Gerber, der vorher juristischer Professor in Leipzig gewesen war, ging jene bewußte Pflege der Universität im Sinne höchster wissenschaftlicher Leistungen zurück. Ludwigs segensreicher Einfluß war nicht mehr wirksam. Er wurde methodisch vernachlässigt, so daß es dem König selbst auffiel und er eine persönliche Einladung Ludwigs nach Dresden anordnete. Dort empfing er ihn mit den herzlich gemeinten Worten: »Willkommen, lieber Herr Geheimer Rat; wir haben uns so lange nicht gesehen.« Ludwig antwortete trocken: »Majestät hätten nur zu befehlen gebraucht.«

 Als Lehrer war Ludwig die Aufopferung selbst. Er lieferte seinen Schülern nicht nur die Gedanken, sondern half ihnen auch bei allen Schwierigkeiten der Ausführung persönlich. Ich erlebte es oft, daß er gemäß seiner Anordnung aus dem Gespräch von dem treuen Laboratoriumsmechaniker Salvenmoser abgeholt wurde, um ein wichtiges Experiment beim kritischen Punkt zu überwachen, damit er gegebenenfalls mit eigenen Händen eingreifen konnte.

Selbst bis zur Abfassung der Arbeit seitens des Schülers erstreckt sich seine Fürsorge. Er ließ die von ihm angeregten und überwachten Arbeiten stets nur unter dem Namen des Schülers veröffentlichen, ohne den seinen hinzuzufügen, wie dies meist geschieht. Da unter diesen viele Ausländer waren, half er ihnen so weitgehend bei der Redaktion, daß er in einzelnen Fällen den größeren Teil des Textes selbst schrieb. So konnte die Geschichte erzählt werden, daß einmal einer seiner Russischen Schüler zu einem Landsmann gesagt haben soll: Eben habe ich Ihre Arbeit in den »Sitzungsberichten« gesehen; haben Sie sie schon gelesen?

 Es ist kein Wunder, daß ein solcher Lehrer, der zudem ein Forscher und Denker ersten Ranges war, von Schülern überlaufen wurde. Während seiner ersten Leipziger Zeit, wo dies seinen Höhepunkt erreichte, mußte er sich einige Tage in der Woche vollkommen unzugänglich machen, um die ungeheure Arbeit der anderen Tage ohne Selbstzerstörung leisten zu können.

 Auch diese Zustände hatten aufgehört, als ich ihn 1887 kennen lernte. Im Laboratorium für selbständige Arbeiten – die vorbereitenden Kurse wurden von Hilfskräften besorgt – waren damals etwa ein halbes Dutzend Schüler tätig, und deren Anzahl verminderte sich mit jedem Semester. Ich vermag nicht anzugeben, was die Ursache davon war; auf meine Frage an fachkundiger Stelle wurde mir angedeutet, daß inzwischen die Physiologie andere Richtungen eingeschlagen habe, wodurch sich das Interesse für Ludwigs Arbeitsgebiete und -methoden vermindert habe.

 Bei meinen Besuchen in Ludwigs Laboratorium ging das Gespräch über weite Horizonte und seine Bemerkungen waren immer höchst originell und zum Nachdenken anregend. Sie wurden durch einen zunehmenden Pessimismus, namentlich in der Beurteilung menschlicher Verhältnisse gekennzeichnet, der indessen nie eine Wendung ins Persönliche nahm, außer wenn es sich um die Erläuterung eines allgemeinen Satzes handelte, wobei der Mensch wie ein Präparat hergenommen und vorgewiesen wurde: also doch eigentlich wieder unpersönlich.

So traf ich bei ihm einmal zu Semesterbeginn eine besonders scharf saure Reaktion an. Er sagte unter anderem »Wenn ich bedenke, daß die Menschheit nun schon einige Jahrtausende lang zwei Bücher, wie den Homer und die Bibel ausgehalten hat, ohne in Grund und Boden verdorben zu sein, so muß ich eigentlich an einen unverwüstlichen guten Kern in der menschlichen Natur glauben.« Und darauf folgten noch eine Anzahl ähnlicher Bissigkeiten. Dazwischen war er wieder nachdenklich und weichmütig. Ich hatte ihn nie so gesehen und fragte hernach beunruhigt den Assistenten, was mit ihm geschehen sei. »Wissen Sie es noch nicht?« war die Antwort, »in diesem Semester hat sich kein einziger Praktikant für sein Laboratorium gemeldet. Wenn er hierbei an frühere Zeiten denkt, so ist es kein Wunder, daß ihm die Bitterkeit hoch steigt.«

 uf mich machte dies Erlebnis einen erschütternden Eindruck. Bei dem, was hier geschehen war, konnte niemandem irgendwelche Schuld zugeschrieben werden. Es war ein ganz natürlicher Vorgang, und darin lag seine tiefe Tragik. Ich aber, der ich mir das Verhalten Ludwigs zu seinen Schülern in fast allen Punkten zum Vorbild genommen hatte (nur für die Abfassung ihrer Arbeiten mußten sie selbst sorgen, nötigenfalls hatte ein Assistent einzugreifen), gab mir das Wort, daß ich es mit mir keinenfalls so weit kommen lassen wollte. Und als einziges Mittel, es zu vermeiden, erkannte ich die Notwendigkeit, rechtzeitig mich von der Tätigkeit als Laboratoriumslehrer zurückzuziehen.

 In der medizinischen Fakultät, die ja zum größeren Teil aus Praktikern besteht, fühlte Ludwig sich nicht recht zu Hause, da er ganz auf die Idee der reinen Wissenschaft eingestellt war, die ich, beiläufig gesagt, trotz meiner Verehrung für ihn nicht übernommen habe. »Wenn so ein Praktiker«, sagte er einmal, »am Vormittag seine zwei Dutzend oder mehr Patienten abgefertigt hat und er sieht, wie ich mich wochenlang mit einem einzigen Frosch abmühe, so muß er entweder sich für einen Narren halten oder mich. Und da er für den ersten Fall keinen Grund einsieht, so entscheidet er sich für den zweiten.«

 Dagegen fühlte er sich zu den naturwissenschaftlichen Angehörigen der philosophischen Fakultät hingezogen, deren Institute dem physiologischen benachbart waren. Als er 1890 fünfundsiebzig Jahre alt geworden war, wurde sein Geburtstag durch einen glänzenden Fackelzug der ganzen Studentenschaft gefeiert und die philosophische Fakultät ernannte ihn in dankbarer Anerkennung dessen, daß er sie seinerzeit eigentlich im Sinne der Weltuniversität aufgebaut hatte – der Höhepunkt war freilich schon überschritten – zum Ehrendoktor. Dies freute Ludwig ganz besonders. Er sprach wiederholt aus, daß er Naturforscher und nicht Mediziner sei und daher unter uns die eigentliche Heimat seines Geistes finde.

 Wenige Jahre später rief ihn der Tod aus der Arbeit ab, in der er bis zuletzt den Inhalt und das Glück seines Lebens gesucht und gefunden hatte. Wie es immer sein Wunsch gewesen war, hatte er nicht die Qual eines unfähigen Greisenalters zu ertragen, sondern starb nach ganz kurzer Krankheit.

Von seinen vielen Schülern hat inzwischen kein einziger den schuldigen Dank an den großen Meister durch eine ausführliche Biographie abgetragen. Jetzt werden die meisten von ihnen auch schon dahingegangen sein. Doch finden vielleicht diese Zeilen eine Stelle, wo die Mahnung Wurzel fassen und Frucht treiben kann.

 Wilhelm Wundt. Es ist schon erzählt worden (I, 205), daß meine Beziehungen zu dem großen Begründer der physiologischen Psychologie und Erneuerer der Philosophie zu den frühesten gehört, deren Fäden sich nach Leipzig hinübergesponnen hatten. Die Kenntnis, welche er durch meine Mitteilungen und Anfragen über meine Bestrebungen gewonnen hatte, veranlaßten ihn, für meine Berufung zu gegebener Zeit einzutreten und mir später, als ich sein Kollege geworden war, mit besonderem Wohlwollen entgegen zu kommen.

 Wundt hatte in gewisser Beziehung ähnliche Schicksale durchgemacht, wie sie mir in Leipzig begegnen sollten. Seine Berufung nach Leipzig war zu dem Zweck geschehen, für die bereits erkennbare Wendung der Philosophie nach dem neuen Denkmaterial, welches die aufblühenden Naturwissenschaften in täglich reicherer Fülle herbeibrachten, einen Vertreter zu gewinnen. Doch wurde die Angelegenheit damals als so wenig wichtig angesehen, daß ein Kollege, den er zufällig von früher her gut kannte, ihn bei einem gelegentlichen Zusammentreffen fragte: »Wie kommen Sie mitten im Semester hierher?«

(Wundt war vorher Professor in Zürich gewesen) und sehr überrascht war, ihn als Kollegen begrüßen zu können. Und als seine persönlichen Papiere vorgelegt wurden, erwies sich, daß er die notwendige Voraussetzung des Doktorgrades nicht erfüllte, da er nicht in der philosophischen Fakultät promoviert hatte, sondern in der medizinischen. Man half sich damals, daß man ihn zum philosophischen Doktor ehrenhalber ernannte. Daher war man aber ebensowenig auf die schnelle Steigerung der Erfolge vorbereitet gewesen, wie in meinem Falle. Als ich Wundt kennen lernte, war diese erste Stufe längst erstiegen; die physiologische Psychologie war eine anerkannte Wissenschaft geworden, für welche eine Universität nach der anderen einen Lehrstuhl schuf, der dann so gut wie immer mit einem Schüler Wundts besetzt wurde. Hierbei hatte Amerika bald die Führung genommen. Wundt selbst aber wendete sich von der anfänglichen Experimentalforschung an einzelnen Aufgaben zunehmend allgemeineren Problemen zu und gestaltete das Gedankengut aus, welches er alsdann zum Ausbau seiner persönlichen Philosophie und seiner monumentalen Völkerpsychologie verwertete.

 Da Wundts Institut sich innerhalb der alten Universität befand, so bewirkte die räumliche Entfernung, daß wir uns anfangs nicht oft sahen. Als ich ihn aber einigemal aufsuchte, um mir seinen Rat in einzelnen wissenschaftlichen und persönlichen Angelegenheiten zu erbitten, erfuhr ich von ihm ein so liebevolles Eingehen auf meine Anliegen und eine so förderliche Beratung, daß ich unwillkürlich jedesmal mich wieder an ihn wandte, wenn mich Zweifel bedrückten, und ihn nie verließ, ohne um ein Erhebliches gefördert zu sein.

 Auch kleineres war ihm nicht zu gering; er half mir u.a. gern beim Aufsuchen zweckmäßiger Namen für neue Begriffe. So rührt von ihm die sehr angemessene Bezeichnung kolligativ für jene Eigenschaften her, welche für molekulare Mengen gleiche Beträge haben.

 Selbst als später unsere philosophischen Wege sich mehr und mehr voneinander entfernten – er wurde zunehmend »idealistischer«, wenn ich eine verwickelte Sache mit einem so schematischen Ausdruck bezeichnen darf, während ich mich zunehmend naturwissenschaftlichpraktisch einstellte – hatte dies nicht den geringsten Einfluß auf unser persönliches Verhältnis. Mit gutmütiger Ironie scherzte er gelegentlich über meinen Radikalismus, während ich seine Wendung als das Zutagetreten alter, unbefriedigt gebliebener theologisch-philologischer Neigungen auffassen wollte. In einem kleinen, zwanglosen Kreise, der sich später gebildet hatte und viele Jahre hindurch wöchentlich einmal nach dem Abendessen ein Stündchen im Theaterkaffee zusammenkam, sah ich ihn dann öfter. Er war dort einer der regelmäßigsten Teilnehmer, dessen ruhevoll ausgleichendes Wesen, das aber gelegentliche sehr bestimmte Stellungnahmen nicht ausschloß, unseren Gesprächen die Hauptfärbung gab. Als ich dann selbst Vorlesungen über Naturphilosophie hielt, wurde mir von einigen Zuhörern mitgeteilt, daß Wundt in seinen Vorlesungen vor deren Besuch gewarnt hatte. Doch war ich der Aufrichtigkeit seiner Stellungnahme so sicher, daß ich nicht einmal ein Unbehagen bei der Nachricht empfand und unser persönliches Verhältnis nicht im mindesten berührt oder gar getrübt wurde.

 Seine sanfte und feine Gattin wurde meiner Frau gleichfalls eine liebevolle Beraterin, so daß das Wundtsche Heim eines der wenigen in Leipzig war, wo wir uns wirklich heimisch fühlen konnten.

 Als ich Wundt kennen lernte, war er 55 Jahre alt. Er war von magerem und anscheinend schwächlichem Körperbau, hatte ein stubenblasses Gesicht mit dunklem Bart und Haar und trug große dunkle Brillengläser.

 Durch allzu rücksichtslose Experimente über Nachbilder bei starker Reizung der Augen hatte er sich eine ernstliche Erkrankung dieser wichtigen Organe zugezogen, so daß er nur unvollkommen sah und zunehmend größere Vorsicht beim Bewegen auf der Straße üben mußte. Dem gegenwärtigen Straßenverkehr wäre er nicht gewachsen gewesen. Er führte ein genau geregeltes Leben, das ihm gestattete, ein hohes Alter in Gesundheit zu erreichen. Vermöge seiner Gewohnheit, tagaus tagein nach Tische einen Gang durch die Promenaden um die Altstadt zu machen, war seine etwas gebückte Gestalt unter dem breitkrämpigen schwarzen Hute etwas wie ein Wahrzeichen Leipzigs geworden, auf das die Stadt stolz sein konnte. Als ich schon längst Leipzig verlassen und mein Heim in dem Dorfe Groß-Bothen gegründet hatte, wollte ein freundlicher Zufall, daß er sich dort gleichfalls ansiedelte um seine letzten Lebensjahre zu verbringen. So habe ich noch das Glück regen persönlichen Verkehrs mit ihm gehabt, bis ihn der Tod ohne lange Krankheit 88jährig im Jahre 1920 fortnahm. Er hatte bis zuletzt die geliebte Arbeit an seinen Büchern fortsetzen können und erwartete, nachdem er die letzten Auflagen bearbeitet und korrigiert hatte, seinen Tod als ein natürliches Ereignis, über das man sich nicht besonders aufregt, eben weil es natürlich ist.

 Wilhelm Pfeffer. Durch mehr als eine Ursache bin ich mit dem ausgezeichneten Botaniker W. Pfeffer in ein näheres Verhältnis gelangt. Es wurde schon erzählt, in welch engem Zusammenhange seine grundlegende Arbeit über den osmotischen Druck durch van’ Hoff mit der physikalischen Chemie gebracht worden ist; sie muß deshalb als eine der wichtigsten Quellen dieses großen Stroms angesehen werden.

 Als ich W. Pfeffer im Sommer 1887 in Tübingen besucht hatte (I, 262), erzählte er mir unter anderem, daß er eine Berufung nach Leipzig angenommen habe, der er im bevorstehenden Herbstsemester folgen wollte. Damals hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, meinerseits dahin zu kommen und so gab ich nicht besonders Acht auf die Nachricht. Hernach besann ich mich auf sie und freute mich auf den hervorragenden Kollegen.

 Pfeffer war verheiratet und hatte einen einzigen Sohn, der im Alter zu meinen Kindern paßte. So stand ein freundliches Verhältnis der beiderseitigen Familien in Aussicht, das sich auch ausgebildet hat. Später wurden wir nach dem Neubau des physikalisch-chemischen Instituts unmittelbare Nachbarn, wodurch der inzwischen entwickelte Verkehr noch mehr erleichtert wurde. Wir haben uns ziemlich regelmäßig alle 8 oder 14 Tage gesehen und gesprochen, indem wir uns abwechselnd am Sonntag Nachmittag besuchten und haben uns dabei vorwiegend über unsere wissenschaftlichen Unternehmungen unterhalten, wobei ich ihm vielerlei Anregung und Belehrung aus seinem Fach verdanke. Auch glaube ich ihm Ähnliches geleistet zu haben, denn als ich meine bald zu schildernden energetischen Gedanken entwickelte, die ich ausführlich mit ihm besprach, schrieb er eine Abhandlung über die Energetik der Pflanze, in welcher er den Einfluß dieser Gedankenbildung auf biologische Grundfragen in selbständiger Weise darlegte.

 Dies nahe Verhältnis dauerte so lange, wie meine Zugehörigkeit zum aktiven Lehrkörper der Leipziger Universität. Bei meinem Konflikt mit der Fakultät, welcher, wie später berichtet werden wird, zu meinem Ausscheiden führte, hat er sich auf die Seite der Fakultät gestellt und mir seine Mißbilligung meines Standpunkts ohne sich auf Erörterungen einzulassen, so rücksichtslos ausgesprochen, daß damit unser persönliches Verhältnis leider ein unerwünschtes Ende fand. Zufolge meiner Übersiedlung nach Groß-Bothen hörte auch die Gelegenheit zu persönlicher Annäherung auf, die sonst vielleicht zu einem Ausgleich geführt hätte.

 Pfeffer war etwa zehn Jahre älter als ich. Er war lang und mager, hatte ein blasses Gesicht mit schwarzem Bart und bedeckte seinen fast haarlosen Schädel mit einer schlichten Perrücke. Sein wissenschaftlicher Typus war der klassische. Er war äußerst sorgsam in seinen Arbeiten und Büchern und man konnte aus seinem Unterricht sehr viel lernen, wenn man Eifer und Begabung mitbrachte. Ein anregender Lehrer im Sinne eines Liebig oder Ludwig war er nicht, wohl aber in hohem Grade ein gewissenhafter und kritischer, so daß er eine Anzahl sehr tüchtiger Schüler, aber keine Schule im Sinne einer zusammenhängenden wissenschaftlichen Gemeinde gebildet hat.

 Da er seine Ansichten und Urteile erst nach sorgfältiger Erwägung festlegte, so gab er im Gespräch nicht leicht zu, daß sie nach irgendeiner Richtung abzuändern sein könnten. Doch war er für sachlich begründete Einwendungen in der Art zugänglich, daß er sich die Sache hernach in Ruhe besah und dann nötigenfalls seinen Standpunkt stillschweigend entsprechend verschob. Ich gab es deshalb bald auf, ihn während des Gespräches zu überzeugen, wenn ich etwa in einer Sache anders urteilte, denn ich konnte darauf rechnen, daß das bei ihm nicht verloren ging, was ich Haltbares beigebracht hatte.

 Für mein Einleben in Leipzig gab mir Pfeffer manchen guten Rat. Ihm waren die Verhältnisse der deutschen Universitäten völlig geläufig, an denen er seine ganze Entwicklung, insbesondere die Wartejahre des Privatdozenten durchgemacht hatte. Ich verdanke ihm brauchbare Winke, wo ich besonders arge Fehler machen wollte, doch hinderte ihn seine vorsichtige, fast ängstliche Einstellung auf die gesellschaftlichen Erfordernisse daran, aus sich weiter herauszugehen, als unbedenklich erschien. So waren wir über derartige Dinge meist verschiedener Meinung und beschränkten uns deshalb zunehmend auf die Besprechung unpersönlicher Angelegenheiten, was uns beiden überhaupt besser zusagte, wenn auch aus verschiedenen Gründen.

 Heinrich Bruns. Einige hundert Schritt vom Laboratorium entfernt befand sich die Universitäts-Sternwarte, die vom Professor H. Bruns verwaltet wurde. Er war mir nicht unbekannt, als ich nach Leipzig kam, denn wir waren einige Zeit in Dorpat zusammengewesen, wo er als Observator an der Sternwarte tätig war. Doch wurde er fortberufen, ehe ein näheres Verhältnis entstanden war. Zudem war er fünf Jahre älter als ich, was in jenen jungen Jahren einen bedeutenden Abstand ausmachte.

 Bruns war von mittlerer Größe und kräftig gebaut. Das gesundfarbige Gesicht mit braunem Haar und Bart ließ nicht voraussehen, daß er seine Lebensjahre nicht hoch bringen würde. Von Temperament war er schweigsam und ungesellig, so daß er im Professorenkreise gesellschaftlichen Anschluß wenig suchte und fand. Wissenschaftlich war er ein Klassiker, ein scharfer Denker von hervorragend kritischer Begabung, von dem ich viel Klärung und Förderung in meinen Gedanken erhalten habe, obwohl er für mein Arbeitsgebiet keine besondere Teilnahme zeigte. Desto bereitwilliger war er, auf allgemeine Fragen einzugehen, wo seine scharfsinnige Kritik mich immer wieder zu bestimmterer Fassung der Gedanken zwang, die mir anfangs nur in nebelhaften Umrissen vorschwebten.

 Wir pflegten solche Dinge auf langen Spaziergängen zu besprechen, die wir zu zweien unternahmen. Er war ein rüstiger und bereitwilliger Wanderer, immer willig mitzukommen, wenn ich an einem Sonntag nachmittag an seine Tür klopfte.

 Ein anderes Gebiet gegenseitigen Austausches war das beiderseitige Interesse an technischen Fragen. Er unterhielt an der Sternwarte eine gut eingerichtete Werkstatt mit einem tüchtigen Mechaniker, dessen Arbeiten er auf das eingehendste beaufsichtigte. Er hat mir manche nützliche Winke für die Konstruktion meiner Apparate gegeben, insbesondere durch seine Forderung, jedesmal das Grundsätzliche der zu lösenden Aufgabe herauszuarbeiten.

 So war es im wesentlichen eine intellektuelle Freundschaft, die mich mit diesem tüchtigen Manne verbunden hat. Nachdem durch meine Übersiedlung nach Groß-Bothen die Möglichkeit regelmäßigen Verkehrs aufgehört hatte, trennten sich unsere Wege unmerklich. Denn keiner von uns beiden hatte Zeit und Lust, lange Briefe ohne bestimmten Zweck nur um des Verkehrs willen zu schreiben.

 Friedrich Ratzel. Unter der großen Zahl anderer erfreulicher Männer, mit denen mich der gemeinsame Beruf zusammengebracht hat, sollen noch einige erwähnt werden, um das Bild der Leipziger Verhältnisse zu vervollständigen.

 Einer der besten unter ihnen war der Geograph Friedrich Ratzel. Eine hohe kräftige Gestalt in anschließender Tracht, deren stramme Haltung mehr an den Turner als an den Militär erinnerte, vereinigte sich gut mit einem heiter-gütigen Ausdruck des wohlgeformten Gesichts, das durch einen fliegenden Vollbart abgeschlossen wurde. Am einprägsamsten waren seine hellblauen Augen mit dem Fernblick des Seemanns oder Bergsteigers. Ratzel hatte etwas im besten Sinne Kindliches in seinem Wesen. Er schilderte gern, wie er aus kleinen ländlichen Verhältnissen beinahe unversehens in die wissenschaftliche Laufbahn geraten war, in der er durch die Selbständigkeit und Fruchtbarkeit seiner Gedanken bald zu einer führenden Stellung anstieg. Nichts in seinem Wesen und Gebahren aber mahnte an diese Stellung. Der unterirdische Betrieb, der mit der Kehrseite des Professorenwesens verknüpft ist, war ihm in innerster Seele verhaßt. Er hat es immer bereut, seine frühere Tätigkeit an der technischen Hochschule in München mit der äußerlich viel glänzenderen Leipziger Stellung vertauscht zu haben, da er hier von jener Kehrseite mehr zu spüren bekam, als ihm lieb war. So hat er denn auch die erste Möglichkeit benutzt, sich in den Ruhestand versetzen zu lassen und hat sich an einem der bayrischen Seen ein ländliches Heim eingerichtet, nach dem seine Sehnsucht schon lange gestanden hatte Leider durfte er sich dieses Glückes nur kurze Zeit erfreuen, denn ein plötzlicher Tod fällte ihn dort auf einem Spaziergange. Wir hatten uns bald gefunden und aneinander geschlossen, so daß mir die Trennung von ihm ein großer Verlust war.

 G. Th. Fechner. Als besonderen Glücksfall sehe ich es an, daß ich Gustav Theodor Fechner, den Begründer der messenden Psychologie, noch persönlich kennen lernen konnte. Ich hatte viel von ihm gelesen und mir war die seltene Persönlichkeit schon lange verehrungswürdig gewesen. So benutzte ich gern den äußeren Anlaß der Antrittsbesuchsverpflichtung, um mich ihm vorzustellen. Schon der Eintritt in seine Wohnung mutete mich heimatlich an, denn der Fußboden des Vorraums war mit weißem Sand bestreut, wie ich es von meiner Heimat her kannte. Ich wurde dann zu einem gütigen Greise geführt, dessen fast blinde Augen in das Unendliche gerichtet waren. Trotz seines hohen Alters war er aber lebhaft wie ein Jüngling. Er hatte von mir gehört, vermutlich durch Wundt, und fragte mich sogleich, ob unter meinen vielen Messungen solche vorhanden seien, bei denen eine und dieselbe Größe wiederholt gemessen war. Ihn beschäftigten eben die Probleme der Kollektivmaßlehre und er suchte nach möglichst verschiedenartigem Zahlenmaterial solcher Art. Leider konnte ich ihm gerade solche Zahlen nicht geben, sonst hätte ich mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, mit ihm in wiederholte Berührung zu kommen. Er verwickelte mich alsbald in ein lebhaftes Gespräch, das ich nur ungern abbrach, als es Zeit war, mich zu verabschieden.

 Ich habe ihn nicht wiedergesehen, denn wenige Wochen später starb er, sechsundachtzig Jahre alt.

 Alte Professoren. Auch an einen anderen unter den berühmten alten Herren der Universität denke ich gern, den Nationalökonomen W. Roscher. Während meiner Privatdozentenjahre hatte ich mich auch einige Zeit mit Volkswirtschaftslehre beschäftigt, sie aber aufgegeben, weil ich darin nichts Faßbares entdecken konnte. Auch Roschers dickleibige Bände hatte ich gelesen, fand aber, daß seine historische Darstellung mir nicht mehr Klarheit verschaffte, als die theoretische der anderen Schriftsteller. Doch war ich damals bereit, die Schuld in erster Linie bei mir selbst zu suchen.

 Als ich Roscher in Leipzig kennen lernte, war er 70 Jahre alt. Ein kleines weißhaariges Männchen mit rosigem, stets lächelnden Gesicht, machte er den Eindruck unzerstörbaren Wohlwollens und Wohlbefindens. Im Gedächtnis geblieben ist er mir durch seine Betätigung praktischer Lebensweisheit bei der Regelung seines Verhältnisses zur Universität. Er erschien einmal in der Fakultätssitzung und legte folgendes dar: Bei seinem Alter empfinde er die Verpflichtung, für die große Vorlesung sich über alle Fortschritte seiner Wissenschaft genau zu unterrichten, um sie richtig darstellen zu können, als eine zu schwere Last, zumal er einige wissenschaftliche Arbeiten unter der Feder habe, denen er seine Kräfte widmen wolle. Andererseits sei ihm ein Zustand außerhalb der Universität und Fakultät, der er vierzig Jahre angehört hatte, undenkbar. Er schlug deshalb vor, einen neuen Ordinarius für Nationalökonomie zu beantragen, dem er die Hauptvorlesung und das Seminar mit den entsprechenden Einnahmen abtreten würde, ihn selbst aber formal in seiner Stellung zu belassen, der er weiterhin durch seine Arbeiten zu genügen hoffe. Die Fakultät beschloß demgemäß, das Ministerium trat dem Vorschlage bei und ich hatte noch durch eine Reihe von Jahren, wenn ich Roscher zufällig sah, den erquicklichen Anblick eines Mannes, der völlig mit seinem Schicksal zufrieden war. Ich beschloß, mir an ihm ein Beispiel zu nehmen.

 Über das Persönliche hinaus aber erschien mir diese Lösung des Problems des »alten Professors« vorbildlich. Sie läßt sich leicht organisatorisch verallgemeinern und ich habe später entsprechende Vorschläge veröffentlicht. Sie sind aber nicht beachtet worden.

 Auch in dem Kreise der Fakultät blieb das Beispiel ohne viel Nachfolge. Ich mußte später mehrfach Fälle des Klebens am Lehrstuhl auch über die geistige und physiologische Grenze hinaus erleben und konnte dabei die schädlichen Wirkungen beobachten, die nicht nur für die Universität, sondern auch für die betreffenden Professoren selbst entstanden, die in enger Selbstigkeit verknöcherten.

Mineralog und Zoolog. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnte der Mineralog Zirkel und der Zoolog Leuckart, beide vorgeschrittenen Alters. Zirkel war unverheiratet und lebte in einem Kreise gleichgesinnter Altersgenossen. Wissenschaftliche Beziehungen stellten sich zwischen uns nicht her, da er der beschreibenden Richtung seines Faches angehörte, in der er eine hervorragende Stellung einnahm. So kam es zu keinem näheren Verhältnis.

 Leuckart war verheiratet und hatte einen Sohn meines Alters, der Chemiker und in Göttingen habilitiert war, dazu einige Töchter. Er war ein kleiner äußerst beweglicher und lebhafter Herr, der täglich einige Male in Zorn geriet. Wir hörten dann seine sehr tragfähige Stimme über die Höfe hallen, welche unsere Häuser trennten. Seine Wissenschaft betrieb er mit weiten Ausblicken und originalen Gedanken. Seine sanfte, etwas gedrückte Frau nahm sich der meinigen mütterlich an und wußte Vertrauen und Liebe bei unseren Kindern zu erwecken.

 Als mein ältester Sohn in die Jahre des Käfersammelns gekommen war, betätigte er sich so eifrig auf zoologischem Gebiete, daß meine Frau es für ihre Pflicht hielt, diesen schweifenden Bestrebungen eine wissenschaftliche Richtung geben zu lassen. Sie ging einmal – ich war auf einer Ferienreise – zum alten Geheimrat hinüber und bat um Rat. Dieser sagte: Schicken Sie mir den Jungen. Er prüfte ihn, fand ihn kenntnisreicher, als er erwartet hatte und betätigte alsbald seine pädagogische Weisheit. Statt ihm Bücher zu geben, überlieferte er ihn dem Konservator des zoologischen Museums mit dem Auftrage, ihn mit Knochenputzen, Skelettaufbauen und anderen praktischen Dingen zu beschäftigen. Denn die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Formen kann man nur in jungen Jahren dem Gedächtnis einverleiben, sagte er, und mit Recht. Das hat den Jungen keineswegs verhindert, eigene Wege zu gehen. Die Kinder waren von jeher gewohnt, das Laboratorium als ein vergrößertes Daheim zu betrachten, liefen dort aus und ein und wurden von den Praktikanten und Assistenten verhätschelt. So war ihm der Begriff der wissenschaftlichen Untersuchung unvermerkt geläufig geworden, da er täglich derartiges bei seinen Freunden im Laboratorium sah. Er hatte sich halb spielend auch eine Untersuchung ausgedacht: über die Fähigkeit der Köcherjungferlarven, anderes Material als die gewohnten Pflanzenreste zum Aufbau ihrer Wohnköcher zu verwenden. Dies ergab eine reguläre wissenschaftliche Abhandlung, die Leuckart vorgelegt und von ihm nicht nur gebilligt, sondern für veröffentlichungswert erklärt wurde. Der Verfasser war damals 15 Jahre alt Ich aber wunderte mich, wie die im Geschlecht der Ostwalde bei mir zum ersten Male aufgetretene Eigenschaft der wissenschaftlichen Schriftstellerei sich alsbald so vollkommen auf den nächsten Abkömmling übertragen hatte und betrachtete Weismanns Bestreitung der Vererbung erworbener Eigenschaften damit als widerlegt. Nur konnte ich damals nicht herausbekommen, wie diese Eigenschaft bei mir so plötzlich hatte auftauchen können. Die von de Vries später aufgestellte Lehre von den Mutationen, den plötzlichen Änderungen von vererblicher Beschaffenheit, rückte aber auch dies Problem dem Verständnis näher, was in mir eine besondere Bereitwilligkeit erweckte, diese vielbestrittene Lehre als zutreffend anzusehen.

Mathematiker. Unter den Mathematikern stand mir am nächsten Adolf Mayer. Er war der Sohn einer reichen Leipziger Familie. Auf Grund seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit hatte er eine ihm angebotene ordentliche Professur abgelehnt und sich mit der Honorarprofessur begnügt, damit für das freie Gehalt ein Anderer berufen werden konnte; so gelang es, den berühmten norwegischen Mathematiker Sophus Lie für Leipzig zu gewinnen.

 Mir war Mayer außerdem durch den weiten Kreis seiner Interessen lieb geworden. Er war mager, ziemlich klein, mit spärlichem schwarzem Haarwuchs und schwarzgelblicher Gesichtsfarbe, so daß er ein wenig wie ein Japaner aussah. In seinem Verhalten war er überaus liebenswürdig und von unbegrenzter Gefälligkeit. Mit seiner gleichgearteten Gattin übte er eine ausgedehnte Gastfreundschaft, und da beide es verstanden, kleine und passende Gruppen zusammenzubringen, so war sein Haus eines der wenigen, für das man eine Einladung gern annahm.

 Wissenschaftlich hatte sich Mayer mit Problemen beschäftigt, die mich besonders interessierten, so daß auch nach dieser Richtung der Verkehr ersprießlich war. In den späteren stürmischen Tagen hat er sich als ein treuer Freund erwiesen, dessen ich gern und dankbar gedenke.

 Der eben erwähnte Norweger Sophus Lie war eine merkwürdige Persönlichkeit. Er war erst verhältnismäßig spät zur Mathematik gekommen, hatte dann aber eine solche Genialität und Selbständigkeit entwickelt, daß er schnell zu einem der ersten Mathematiker seiner Zeit aufstieg. Als ich ihn in Leipzig kennen lernte, war er als Meister seines Faches allgemein anerkannt und war unausgesetzt tätig, die von ihm erschlossenen neuen Gebiete zu bebauen und zu erweitern. Äußerlich sah er nicht wie ein Gelehrter aus. Von breiter massiver Gestalt, schwerem Gliederbau und entsprechender Gesichtsbildung hatte er etwas Urweltliches, wie man sich ein Mammuth vorstellt. Auch in seinem Charakter schien etwas Ungebändigt-Nordisches im Hintergrunde zu liegen. Den Angelegenheiten des täglichen Lebens stand er fremd gegenüber, denn seine Wissenschaft, für die er eine leidenschaftliche Verehrung und Hingabe empfand, erfüllte ihn so vollständig, das für anderes wenig Raum blieb. Seine Frau war sanft und liebenswürdig. Wir, d.h. die beiden Ehepaare fühlten uns zueinander hingezogen, da wir sämtlich Kinder des Nordens waren und Schwierigkeiten empfanden, in Leipzig heimisch zu werden. So haben gegenseitige häusliche Besuche im engsten Kreise ziemlich lange zwischen uns stattgefunden, die von Behagen erfüllt waren, nicht am wenigsten durch ihren Kontrast zu den üblichen Abfütterungen, die wir übereinstimmend als unausstehlich empfanden.

Allmählich machte sich aber auch bei Lie die spezifische Mathematikerkrankheit geltend. Ihr sind die am meisten ausgesetzt, welche die höchsten und abstraktesten Gebiete bearbeiten, wo die Art des Denkens am meisten von der gewohnten abweicht. Sie scheint dadurch begünstigt zu werden, daß bei der mathematischen Forschung jede Erholung durch notwendige mechanische Bestandteile der Arbeit fehlt, denn das bißchen Formelschreiben kommt nicht in Betracht. Der Chemiker und Physiker ist in solcher Beziehung viel besser daran, da die Beanspruchung jener höchsten und verletzlichsten Organe des Gehirns beim Forschen wohltätig mit Handarbeit abwechselt, die von niederen Zentren kontrolliert wird und jenen die notwendige Ruhe gewährt. Kommt bei dem Mathematiker noch dazu, daß die besondere Fruchtbarkeit eines neuerschlossenen Gebietes ihn verführt, die Ermüdungsgefühle zu mißachten, welche an die Schonung des Organs mahnen, so zerstört er leicht die segensreichen Hemmungs- und Schutzeinrichtungen ganz und ein entsprechendes Hirnleiden ist die unausbleibliche Folge. Glücklicherweise pflegen solche Erkrankungen einigermaßen heilbar zu sein, da sie nicht auf inneren Veränderungen des Organs beruhen, sondern auf Übermüdung.

 Auch bei Lie traten im Lauf der Zeit solche Erscheinungen auf, die ihn zu einer längeren Unterbrechung seiner Tätigkeit durch eine entsprechende Kur zwangen und ihn mißtrauisch und reizbar zurückkommen ließen. Das hatte natürlich auch seine Rückwirkung auf unser Verhältnis.

Später befiel ihn jene unheimliche Krankheit, die in einer unaufhaltsamen Verminderung der roten Blutkörperchen besteht. Man weiß kein Mittel dagegen, und so sieht sich der Kranke bei klaren Sinnen unaufhaltsam dem Abgrund der ewigen Nacht zugleiten. Nach dem Vorhergegangenen muß dies finstere Schicksal besonders schwer auf ihm gelastet haben.

Karl Lamprecht. Als ich nach Leipzig kam, war W. Maurenbrecher Professor der neueren Geschichte. Er war ein großer, schwerer Mann mit einer starken Stimme, der zu erzählen liebte, wie er als Professor in Bonn dem damaligen Kronprinzen Wilhelm Vorträge aus seinem Fach zu halten hatte. Hierbei war es ihm nicht schwer gewesen, seine glühende Verehrung Bismarcks auf seinen Schüler zu übertragen, so daß sie einmal gemeinsam eine Bismarckeiche, ich weiß nicht mehr an welchen Ort, pflanzten.

 Nach Maurenbrechers frühem Tode wurde Lamprecht berufen, der bereits seine Persönlichkeit stark zur Geltung gebracht hatte. Da er im Gegensatz zur klassischen Schule seiner Kollegen auf die Entdeckung von Entwicklungsgesetzen in der Geschichte aus war, so fühlte ich mich von vornherein zu ihm hingezogen, zumal auch er bald genug in eine gegensätzliche Stellung zu einigen Leipziger Kollegen geriet, deren Art und Betätigung auch mir nicht gefallen hatte. Er schloß sich bald dem erwähnten (II, 90) Kaffeekränzchen an, in welchem Wundt, er und ich das beständigste Element bildeten.

 Lamprecht war 1856 geboren, also einige Jahre jünger als ich. Er war von mittlerer Größe, mit dunkelbraunen Haaren und Augen, die durch die Brille glänzten; auch der kurze Vollbart hatte die gleiche Farbe. Sein Wesen war frisch und beweglich; das Gesicht verzog sich leicht zum Lächeln und Lachen. Übereinstimmend an uns beiden war die Fähigkeit, in kurzer Zeit umfassende Arbeiten auszuführen. Die 19 Bände seiner Deutschen Geschichte hat er in 11 Jahren in Leipzig geschrieben, während er gleichzeitig unaufhörlich Streitschriften gegen seine zahlreichen Gegner verfaßte und umfangreiche organisatorische Arbeiten größten Stils für den Ausbau seiner Wissenschaft an der Universität durchführte. Er tat dies auf Kosten seiner Gesundheit; meine durch persönliche Erlebnisse unterstützten Warnungen schlug er in den Wind, auch als deutliche Vorboten des bevorstehenden Zusammenbruchs ihn zu Unterbrechungen seiner fieberhaften Tätigkeit zwangen. Als Geisteswissenschafter verkannte er die Unerbittlichkeit naturgesetzlicher Bindungen und glaubte durch Willenskraft seinem Körper unbegrenzte Energiemengen entnehmen zu können. So ist er inmitten der Arbeit 1915 gestorben, erst 59 Jahre alt.

Im Unterschiede von mir besaß Lamprecht die Kunst der Menschenbehandlung in bemerkenswertem Maße. Er verstand es gut, die maßgebenden Personen für seine organisatorischen Gedanken willig zu machen und erwarb sich trotz seiner unaufhörlichen literarischen Kämpfe auch einen erheblichen Einfluß auf seine Leipziger Kollegen. So gelang es ihm, sein historisches Seminar zu einem riesigen Gebilde mit zahlreichen Unterabteilungen auszugestalten, welche er alle mit dem Geiste seiner mannigfaltigen, wenn auch nicht immer tiefgreifenden Interessen und Beziehungen zu beleben wußte. Es war eine höchst persönliche Schöpfung, deren Leben, wie immer, an das ihres Schöpfers gebunden war.

 Wie oft wir uns auch sahen, wir waren niemals gleicher Ansicht und gerieten sofort in Streit. Doch führte dieser niemals zu persönlicher Verstimmung, sondern machte uns beiden ein großes Vergnügen. Er sah von der traditionellen Höhe seiner »Geisteswissenschaft« ein wenig auf den Naturforscher herab und ich hielt mit dem Spott nicht zurück, wenn er mir methodische Entdeckungen für seine Wissenschaft darlegte und rühmte, die wir uns schon an den Schuhen abgelaufen hatten. Der Hauptteil unserer Meinungsverschiedenheiten bezog sich auf die grundsätzliche Stellung der Geschichte im Gesamtbau der Wissenschaften. So willkommen mir seine Einstellung gegenüber dem reaktionären Flügel seiner Fachgenossen war ich konnte nicht verschweigen, daß ich eine Geschichtswissenschaft als inhaltliche Wissenschaft nicht anerkennen kann. Ich wies ihn auf sein eigenes Werk hin, dessen Inhalt sachlich so ganz verschieden war von dem anderer Werke über deutsche Geschichte und kam zu dem Ergebnis, daß die Geschichte nur die Technik ist, wie man irgendwelche vergangene Verhältnisse, die man wissen möchte, aus den Überresten erschließt. Um den Inhalt dieser Verhältnisse zu beurteilen, sind aber Sonderkenntnisse des betreffenden Faches erforderlich, die der Historiker nicht hat und nicht haben kann. Zur Erläuterung meines Standpunktes forderte ich ihn auf, etwa eine Geschichte der Physik im neueren Deutschland zu schreiben.

Lamprecht pflegte dagegen geltend zu machen, daß der Historiker unentbehrlich sei, um die vielen Einzelgeschichten zu einer allgemeinen zusammenzufassen. Die Frage lief dann darauf hinaus, was eher als Hilfswissenschaft erworben werden kann: historische Technik oder Fachkenntnisse und blieb dort unentschieden.

 Da wir beide an dem vordersten Rande unserer Wissenschaften tätig waren, konnten wir uns gegenseitig mancherlei Nutzbares sagen und diese fördernden Bestandteile unserer Aussprachen veranlaßten uns immer wieder sie zu erneuern. Auch konnte ich ihm gelegentlich fachliche Auskunft geben und irgendwo in einer Vorrede hat Lamprecht dessen freundlich gedacht. Als er mir aber einmal die Handschrift eines ganzen Bandes zu kritischer Durchsicht auf naturwissenschaftliche Beanstandungen anvertraute, mußte ich sie ihm unverrichteter Sache zurückgeben. Er hatte das ganze Werk mit eigener Hand geschrieben. Zwar enthielt es ähnlich wie meine Manuskripte nur wenig Verbesserungen, die Buchstaben waren aber so spinnebeinig dünn und eng, daß ich außerstande war, sie sicher zu entziffern, und noch weniger sie fließend zu lesen.

 Insgesamt war mein Verhältnis zu Karl Lamprecht eine wertvolle Bereicherung meines Lebens und seinen frühen Tod habe ich als ernsten Verlust empfunden.

 Wissenschaft und Scholastik. Als ich nach Leipzig kam, war ich gern bereit, die sogenannten Geisteswissenschaften als solche anzuerkennen und ihnen den Vorantritt einzuräumen, den sie als die älteren beanspruchten. Nicht bereit war ich, meine Wissenschaft mit den anderen Naturwissenschaften als etwas Minderwertiges einschätzen zu lassen, was keinen Anspruch auf eigentliche Wissenschaftlichkeit erheben konnte. Ich hatte damals eben die Bemerkung Dührings gelesen, daß der einzige erkennbare Zweck der klassischen Philologen auf der Universität sei, Lehrer auszubilden, die ihrerseits wieder das Material zu neuen Lehrern liefern, und so im ewigen Kreislauf weiter, ohne daß es jemals zu einer tätig fördernden Mitwirkung an den Aufgaben des Lebens käme. Die angezüchtete Ehrfurcht vor der Philologie wehrte sich in mir gegen diese Kennzeichnung, gegen die ich doch sachlich nichts einzuwenden wußte.

 Gelegentlich war mir schon in Dorpat die Zwecklosigkeit der philologischen Arbeit aufgefallen. Als Druckschrift der Universität wurde mir dort in meinen Privatdozentenjahren eine Abhandlung zugestellt, die von einem angesehenen Vertreter jenes Faches geschrieben war, der später als Bonner Professor in seinen Kreisen berühmt wurde. Er hatte in irgendeinem Atlas alter Kunstwerke ein Relief gefunden, mit dessen Bezeichnung durch den Herausgeber er nicht einverstanden war. Er bewies dann, daß es notwendig eine Szene aus einem Drama Thyestes darstellen mußte. Es war bekannt, daß es zwei Dramen dieses Namens gegeben hatte; von dem einen wußte man einiges, von dem anderen gar nichts. Und nun wurde mit »philologischem Scharfsinn« nicht nur bewiesen, daß das Relief eine Stelle aus diesem zweiten, unbekannten Drama vorstellen müsse, sondern auch noch Akt und Szene bestimmt, auf welche sich die Darstellung bezog. Der schon damals in mir unterbewußt wirksame energetische Imperativ empörte sich heftig gegen solche »Arbeit«, die ich kindisch fand.

Als ich später einmal dies Erlebnis nebst meiner Beurteilung einem jüngeren Philologen mitteilte, bemerkte dieser errötend: »Wir halten diese Arbeit für die genialste Leistung unseres hochgeschätzten Kollegen.«

An diese Geschichte wurde ich in Leipzig erinnert, als ich bei irgendeiner Universitätsfeier eine Rede des Philologen Lipsius anhören mußte. Es war eben ein Kodex entdeckt worden, der für eine schlecht überlieferte antike Schrift gleichgültigen Inhaltes einen zuverlässigeren Text enthielt. Lipsius hob mit größtem Stolz hervor, daß beim Vergleich dieses Textes mit den Ergebnissen der von den Philologen bewirkten vermutungsmäßigen Verbesserungen der alten Texte sich in fast der Hälfte der Fälle ergeben habe, daß die Vermutungen zutrafen; in der anderen Hälfte war allerdings das Richtige nicht gefunden worden. Ich sagte mir, daß jene 50 v.H. guten Fälle notwendig die leichtesten gewesen waren, daß also das wirkliche Güteverhältnis der Arbeit nicht 50 v.H., sondern höchstens 25 oder 20 v.H. war. Und nun war diese ganze Arbeit überhaupt unnütz geworden. Unter erheblichem Schütteln des Kopfes ging ich an meine eigene Arbeit, deren Güteverhältnis ich erheblich höher einschätzen zu dürfen glaubte.

So war ich unwiderstehlich auf eine kritische Einstellung gegen den maßgebenden Einfluß gelangt, welche die dieser Gruppe zugehörigen Kollegen in der Fakultät beanspruchten. Da ich solche Zweifel durch offene Aussprache mit ihnen zu lösen suchte, wurde ich bald als unsicher und verdächtig angesehen, nicht die nötige Begeisterung für die »höchsten Güter« zu besitzen.

 Die klassische Philologie vertraten damals die Professoren O. Ribbeck, J. Lipsius und R. Wachsmuth. Während Lipsius den üblichen Oberlehrerstandpunkt einnahm (er war lange Zeit im Schulamt tätig gewesen), erwies sich Wachsmuth als ein Mann von weiterem Gesichtskreis und feinerer Geistesbeschaffenheit. Ich fand die Erklärung dafür später, nachdem ich mich zu ihm hingezogen gefühlt und ihm jene Sorgen anvertraut hatte: er hatte in seiner Jugend zuerst Naturwissenschaften studiert und war erst später zur Philologie übergegangen.

Die Heidelberger Erklärung. Aber auch unmittelbare Gegensätze, die mich in offenen Widerspruch mit den vorherrschenden Einstellungen der Mehrheit meiner Kollegen brachten, traten nur zu bald in die Erscheinung. Zur Zeit meines Eintritts amtete als Rektor der Altphilologe Otto Ribbeck. Er übte bei Lebzeiten einen erheblichen Einfluß auf seine Fachgenossen aus und war eifrig bemüht, die Gefahren abzuwenden, welche seitens der Naturwissenschaften dem Fortbestehen der philologischen Vorherrschaft drohten. Nach Art solcher Priesterschaften, deren Gewalt nicht auf der Natur der Sache beruht, sondern auf Usurpation und Tradition, war es ihm nicht Frage einer größeren oder geringeren Zweckmäßigkeit, über welche man in guten Treuen verschieden urteilen kann, je nach den Erfahrungen, die man persönlich gemacht oder von anderen überkommen hat, sondern Frage der »Überzeugung«, d.h. einer gefühlsmäßigen Einstellung, an der festzuhalten »Pflicht« war. Eine Pflicht der Prüfung wurde dagegen überhaupt nicht in Erwägung gezogen, da eine solche schon so gut wie Verrat war. Daher wurde die Bekämpfung der Gegner gleichfalls als Pflicht angesehen, wobei man, wieder nach Art der Priesterschaften, in den Mitteln nicht wählerisch war.

 Nun war eben um jene Zeit von der Universität Heidelberg eine Erklärung in Umlauf gesetzt worden, nach der das Lateingymnasium die einzige taugliche Vorbereitungsstelle für alle Universitätsstudien sein sollte. Als ich mich einmal durch einen ziemlich dunklen Korridor in den medizinischen Prüfungssaal begab, trat mir der Oberpedell mit einer Mappe entgegen, die er öffnete und mir mit den Worten überreichte: »Seine Magnifizenz der Rektor bitten, dies zu unterschreiben.« Ich war vorsichtig oder neugierig genug, mir zuerst anzusehen, was ich unterschreiben sollte und fand jene Heidelberger Erklärung; ich lehnte also ab. Wurde dies schon als eine bei einem so jungen Menschen unleidliche Auflehnung gegen die offizielle Meinung aufgenommen, so häufte ich durch mein weiteres Verhalten noch ärgere Schuld auf mein Haupt.

Bei den Medizinerprüfungen pflegte ich mit Carl Ludwig zusammenzutreffen, der um dieselbe Stunde examinierte, und wir legten oft den gemeinsamen Heimweg im Gespräch zurück. Das auszeichnende Wohlwollen, das er mir bei unserer ersten Begegnung erwiesen hatte, ließ er mir, wie erzählt, auch weiterhin zuteilwerden; er war der einzige unter den Kollegen, der mich gelegentlich väterlich auf Mißgriffe und Ungeschicklichkeiten hinwies, die ich mir in meiner neuen Stellung zuschulden kommen ließ. Ich erzählte ihm das Erlebnis, da ich seine Einstellung zur Sache kannte. Denn ich hatte ihn zuweilen die jungen Mediziner nach der Prüfung so anreden gehört: »Sie haben wieder einmal so gut wie nichts ordentlich gewußt. Aber ich muß anerkennen, daß die Schuld daran nur zum Teil bei Ihnen liegt. Solange Sie neun Jahre Ihres jungen Lebens in einer so ungeeigneten Anstalt, wie das Lateingymnasium zubringen müssen, darf ich es Ihnen nicht übel nehmen, wenn Sie sich nur sehr unvollkommen in wissenschaftliches Denken hineinfinden können.«

 Ludwig war der Ansicht, daß wir die öffentliche Meinung nicht durch die Heidelberger Erklärung in die Irre führen lassen dürften. Da ich mich ihm alsbald zur Verfügung stellte, beauftragte er mich, zunächst mit einigen Kollegen gleicher Gesinnung zu sprechen. So kam ein kleiner Arbeitsausschuß zustande, welchem außer uns beiden noch der Astronom Heinrich Bruns und der Mediziner Albin Hoffman angehörte. Wir redigierten unsererseits eine Erklärung, daß für das Studium der Medizin und der Naturwissenschaften die realistischen Lehranstalten eine geeignetere Vorbildung vermitteln und verschickten sie an alle Fachkollegen mit der Bitte um Rücksendung auch im Falle der gegensätzlichen Meinung mit einer entsprechenden Mitteilung. Ich als Jüngster hatte den geschäftlichen Teil zu besorgen, was ich sehr gern tat. Das Ergebnis war eine Mehrheit zustimmender Erklärungen, bezogen auf die Gesamtzahl der Befragten. Wir versäumten nicht, der Öffentlichkeit hiervon Mitteilung zu machen, und da ich als Schriftführer ein wenig in den Vordergrund treten mußte, so wendete sich die Unzufriedenheit der Kollegen und der Zorn der philologischen Priesterschaft hauptsächlich gegen mich.

Hierdurch wurde die Beleuchtung bestimmt, in welcher ich fortan in der Fakultät gesehen wurde. Die schnell wachsenden Erfolge meiner Lehrtätigkeit vertieften den Gegensatz, da damit die Gefährlichkeit des unsicheren Kollegen zunahm. Da die Gegner die geschickte Taktik beobachteten, alles was gegen ihre traditionelle Vorherrschaft ging, als »unkollegial« zu brandmarken, so wurde auch ich mit dieser Kennzeichnung behaftet und bin nie in einen der engeren Kreise aufgenommen worden, die in Leipzig wie an jeder Universität bestanden. Mir war es recht, da ich ohnehin nicht gern Zeit verlor. Daß aber eine solche Summe von Zorn sich gegen mich ansammeln würde, wie ich sie beim Abschluß meiner Leipziger Tätigkeit feststellen konnte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.

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