Der Mann mit der Schramme

Isa Whitney, der Bruder des weiland Elias Whitney, Doktors der Theologie und Rektors des Predigerseminars von St. Georgen, war ein starker Opiumraucher. Soviel ich weiß, kam er durch eine Jugendeselei dazu, als er noch auf der Schule war. Dabei ging es ihm aber wie schon so manchem vor ihm: er fand, daß es viel leichter ist, eine Gewohnheit anzunehmen, als sie wieder abzulegen; so blieb er jahrelang ein Sklave dieses Giftes und wurde seinen Freunden und Verwandten zum Gegenstand des Abscheus oder auch des Mitleids. Noch sehe ich ihn vor mir in einem Lehnstuhl zusammengekauert mit dem gelben, aufgedunsenen Gesicht, den schlaffen Augenlidern und den bis zum Umfang eines Stecknadelknopfes verkleinerten Pupillen, die traurige Ruine eines ursprünglich edlen Menschen. Eines Abends, so um die . . . weiter lesen

Eine sonderbare Anstellung

»Ach ja, ich weiß«, sagte Watson lächelnd. »Sie meinte die Geschichte mit der sonderbaren Anstellung. Das war kurz nach unserer Verheiratung. Ich hatte eben die Praxis des alten Farquhar hier im Stadtteil Paddington übernommen. Farquhar war früher ein sehr gesuchter Arzt gewesen, bis sein hohes Alter und das Nervenübel, an dem er litt – eine Art Veitstanz – ihm viele Patienten abwendig machten. Das Publikum urteilt begreiflicherweise nach dem Grundsatz, daß, wer andere kurieren will, selbst gesund sein sollte; es setzt wenig Vertrauen in die Kenntnisse eines Doktors, der für sein eigenes Leiden kein Heilmittel weiß. So schwanden die Einnahmen meines Vorgängers mit seinen Kräften, und als ich die Praxis übernahm, war deren früherer Ertrag von 1200 Pfund auf etwa 300 jährlich . . . weiter lesen

Die verschwundene Braut

Eines Tages wurde während seiner Abwesenheit ein Brief für Sherlock Holmes abgegeben. Ich hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, denn das Wetter war plötzlich regnerisch geworden; ein scharfer Herbstwind wehte, und die Flintenkugel in meinem Bein, die ich als Andenken aus dem afghanischen Feldzug heimgebracht habe, quälte mich mit empörender Hartnäckigkeit. In einem bequemen Stuhl sitzend, hatte ich die Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt und mich in einen ganzen Berg von Zeitungen vergraben, bis ich zuletzt die Tagesneuigkeiten satt bekam und die Blätter sämtlich beiseite schob. Während ich nun so in verdrossener Stimmung dalag, betrachtete ich mit träger Neugier das mächtige Wappen und Monogramm, das auf dem Umschlag des vor mir liegenden Briefes prangte, und fragte . . . weiter lesen

Der Bund der Rothaarigen

Als ich im vorigen Herbst eines Tages meinen Freund, Sherlock Holmes, aufsuchte, traf ich ihn in eifrigem Gespräch mit einem dicken, blühend aussehenden, älteren Herrn, der feuerrotes Haar hatte. Schon wollte ich mich mit einer Entschuldigung wieder entfernen, als mich Holmes rasch in das Zimmer zog und die Tür hinter mir schloß. »Gelegener konntest du nicht kommen, lieber Watson«, sagte er herzlich. »Ich fürchtete, du seiest beschäftigt«, entgegnete ich. »Das bin ich – und zwar sehr.« »So will ich im Nebenzimmer warten.« »Nein, nein, bleibe nur hier. – Doktor Watson«, sagte er, mich dem Fremden vorstellend, »hat mir vielfach in meinen wichtigsten Fällen mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und ich bezweifle nicht, daß er mir auch in Ihrer Angelegenheit, . . . weiter lesen

Silberstrahl

»Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, Watson, als hinzugehen«, sagte Holmes eines Morgens zu mir, als wir beim Frühstück saßen. »So? Wohin denn?« »Nach Dartmoor – nach Kings Pyland.« Das überraschte mich nicht; im Gegenteil, ich hatte mich schon gewundert, daß er nicht längst zur Mitarbeit an dem ungewöhnlichen Fall aufgefordert worden war, der in ganz England das Tagesgespräch bildete. Mit gerunzelten Brauen, den Kopf auf die Brust gesenkt, war mein Gefährte einen ganzen Tag lang ruhelos im Zimmer auf- und abgegangen, hatte immer wieder den stärksten schwarzen Tabak in seine Pfeife gestopft und war für alle meine Fragen und Bemerkungen stocktaub gewesen. Die neuesten Nummern sämtlicher Tagesblätter überflog er nur mit einem Blick und warf sie dann in den Winkel. . . . weiter lesen

Das Beryll-Diadem

»Holmes«, sagte ich eines Morgens, während ich am Erkerfenster stand und auf die Straße hinabschaute, »da kommt ein Verrückter die Straße herab. Ich finde es ja eigentlich unrecht, daß man so einen Menschen allein umherlaufen läßt.« Mein Freund erhob sich träge aus dem Armstuhl und trat, die Hände in den Taschen seines Hausrocks, hinter mich, um mir über die Schulter zu sehen. Es war ein klarer, frischer Februarmorgen, der tags zuvor gefallene, tiefe Schnee bedeckte den Boden und glitzerte hell in der Wintersonne. In der Mitte der Straße war er durch den Verkehr bereits in eine braune Masse verwandelt; zu beiden Seiten dagegen und auf den erhöhten Rändern der Fußsteige lag er noch so weiß, wie er gefallen war. Das graue Pflaster dazwischen war, obwohl gekehrt und abgekratzt, . . . weiter lesen

Skandalgeschichte im Fürstentum O…

Ich war damals erst kurz verheiratet und hatte darum eine Zeitlang nur wenig von meinem Freunde Sherlock Holmes gesehen. Mein eigenes Glück und meine häuslichen Interessen nahmen mich völlig gefangen, wie es wohl jedem Mann ergehen wird, der sich ein eigenes Heim gegründet hat, während Holmes, seiner Zigeunernatur entsprechend, jeder Art von Geselligkeit aus dem Wege ging. Er wohnte noch immer in unserem alten Logis in der Bakerstraße, begrub sich unter seinen alten Büchern und wechselte zwischen Kokain und Ehrgeiz, zwischen künstlicher Erschlaffung und der aufflammenden Energie seiner scharfsinnigen Natur. Noch immer wandte er dem Verbrecherstudium sein ganzes Interesse zu, und seine bedeutenden Fähigkeiten, sowie seine ungewöhnliche Beobachtungsgabe . . . weiter lesen

Das Landhaus in Hampshire

(Titel auch: Das Haus unter den Blutbuchen) Lachend legte Holmes die letzte Nummer des »Telegraph« aus der Hand. Eine gute Zigarre – hm, das wäre auch für ihn jetzt kein schlechter Gedanke. Er angelte mit dem Fuß den Rauchtisch näher heran, schnupperte in den verschiedenen Kistchen herum und wählte endlich eine schwarze Brasil aus, die er mit Wohlgefallen zu rauchen begann. Endlich kehrte Watson zurück. »Man kommt kaum vom Fleck vor Nebel«, sagte er. »Nun – ging alles gut mit dem Kind?« erkundigte sich Holmes. »Danke, besser als ich dachte. Es gab ein paar tüchtige Schrammen zu nähen, aber die Kleine hielt ganz tapfer stand.« »Du warst so lange weg«, meinte Holmes. »Ja, weißt du, ich habe mir dann den Mann gleich vorgeknöpft, der das Kind angefahren . . . weiter lesen

Der Marinevertrag

Zu meinen besten Kameraden während der Schulzeit gehörte ein Knabe Namens Percy Phelps; wir standen im gleichen Alter, doch war er mir um zwei Klassen voraus. Wegen seiner großen Begabung fielen ihm alljährlich die Preise zu, welche die Schule zu vergeben hatte, und noch beim Abgang verschaffte ihm sein vorzügliches Examen ein Stipendium, in dessen Besitz er seine Studien auf der Universität Cambridge mit Glanz fortsetzen konnte. Ich erinnere mich, daß er vornehme Verwandte hatte; sein Oheim mütterlicherseits war Lord Holdhurst, der berühmte Abgeordnete der konservativen Partei. Das wußten wir schon als ganz kleine Knaben, doch brachte es Phelps in der Schule keinerlei Vorteil; es war für uns nur ein Grund mehr, ihn tüchtig auf dem Spielplatz herumzuhetzen oder ihm, wenn sich die . . . weiter lesen

Das gelbe Gesicht

Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen über einige von den zahlreichen Fällen, in denen die glänzende Begabung meines Freundes sich offenbarte, weile ich naturgemäß mehr bei seinen Erfolgen als bei seinen Mißerfolgen. Und dabei leitet mich nicht sowohl die Rücksicht auf seinen Ruf – denn tatsächlich erscheinen seine Tatkraft und seine Findigkeit nie bewundernswerter als wenn er sich selbst in eine Sackgasse verrannt hatte –, sondern es bestimmt mich zu meiner Auswahl auch der Umstand, daß, wo er erfolglos blieb, auch sonst niemand das Ziel erreichte und den Schleier lüftete. Immerhin ist es ein paarmal vorgekommen, daß sich in solchen Fällen doch noch nachträglich das Rätsel gelöst hat. In meinen Notizen . . . weiter lesen

1. Gestatten Lünch – Bodo Lünch

Mal angenommen, Sie haben einen finanziellen Engpass. Im Prinzip kann das jedem passieren. Die Banken wittern Aasgeruch und drehen Ihnen den Hahn ab. Andere Kreditgeber sind weit und breit nicht in Sicht. Aber es gibt ja noch die privaten Geldverleiher, die laufend knallige Anzeigen in den Zeitungen haben von wegen Schnell-Kredite ganz ohne Sicherheiten und lästige Formalitäten bei sofortiger Barauszahlung. Klingt alles prima. Also greifen Sie zu und haben ruck, zuck wieder Bares auf der blanken Kralle, und die Banken können Ihnen in die Tasche steigen. -- Denken Sie. Doch die Geschäftsbedingungen sind nicht von Pappe und die Zinsen horrend, und es wäre schon ein verdammtes Wunder, wenn Sie mit den Raten nicht ins Stottern kämen. Sind Sie ein Wunderkind? Nein? Gut, dann werden Sie . . . weiter lesen

Unterm Birnbaum

Ei­ne Kri­mi­nal­ge­schich­te Ers­tes Ka­pi­tel Vor dem in dem gro­ßen und rei­chen Oder­bruch­dor­fe Tsche­chin um Mi­chae­li 20 er­öff­ne­ten Gast­haus und Ma­te­ri­al­wa­ren­ge­schäft von Abel Hr­ad­scheck (so stand auf ei­nem über der Tür an­ge­brach­ten Schild) wur­den Sä­cke, vom Haus­flur her, auf ei­nen mit zwei ma­gern Schim­meln be­spann­ten Bau­er­wa­gen ge­la­den. Ei­ni­ge von den Sä­cken wa­ren nicht gut ge­bun­den oder hat­ten klei­ne Lö­cher und Rit­zen, und so sah man denn an dem, was her­aus­fiel, daß es Raps­sä­cke wa­ren. Auf der Stra­ße ne­ben dem Wa­gen aber stand Abel Hr­ad­scheck selbst und sag­te zu dem eben vom Rad her auf die Deich­sel stei­gen­den Knecht: »Und nun vor­wärts, . . . weiter lesen

Die einsame Radfahrerin

Vom Jahre 1894–1901 einschließlich war Sherlock Holmes ein außerordentlich beschäftigter Mann. Man kann ohne Uebertreibung sagen, daß es kaum einen irgendwie schwierigen Fall von öffentlichem Interesse gab, zu dem er während dieses Zeitraums nicht zugezogen worden wäre. Außerdem spielte er auch noch in Hunderten von oft sehr verzwickten und außergewöhnlichen privaten Angelegenheiten eine hervorragende Rolle. Viele überraschende Erfolge und nur einige wenige unvermeidliche Mißerfolge waren das Resultat dieser langen Periode mühseliger, unablässiger Tätigkeit. Da ich sämtliche Fälle notiert und bei vielen selbst mitgewirkt habe, fallt es mir natürlich nicht leicht, eine richtige Auswahl zur Veröffentlichung zu treffen. Ich will jedoch meinem alten Grundsatz treu bleiben und . . . weiter lesen

Der entwendete Brief

Nil sapientiae odiosius acumine nimio (Seneca) Ich war im Jahre 18.. in Paris und erfreute mich an einem dunklen, stürmischen Herbstabend mit meinem Freunde August Dupin in dessen kleinem Bibliothek- oder Studierzimmer des doppelten Genusses einer Meerschaumpfeife und beschaulichen Nachdenkens. Seit wenigstens einer Stunde waren wir in tiefes Schweigen versunken, und jeder zufällige Beobachter hätte geglaubt, daß wir uns angelegentlichst und ausschließlich mit den Rauchwolken beschäftigten, die das ganze Zimmer einhüllten. Ich erwog jedoch in Gedanken noch einige Punkte der Unterredung, die ich zu Anfang des Abends mit meinem Freunde gehabt und welche sich auf die Begebenheiten in der Rue Morgue und auf den geheimnisvollen Mord der Marie Rogêt bezogen . . . weiter lesen

Der Mord von Boscombe Valley

Wir saßen eines Morgens beim Frühstück, meine Frau und ich, als uns das Dienstmädchen eine Depesche hereinbrachte. Sherlock Holmes telegraphierte folgendes: »Hast du zwei Tage frei? Werde soeben telegraphisch nach Westengland gerufen wegen des Mordes im Tale von Bascombe. Freute mich, wenn du mitkämest. Luft und Gegend köstlich. Ab Paddington 11.15.« »Was meinst du, lieber Mann, fährst du mit?« fragte meine Frau, zu mir herüberblickend. »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll; meine Krankenliste ist eben jetzt ziemlich lang.« »Ach was, Anstruther wird dich vertreten. Du siehst in letzter Zeit etwas angegriffen aus, und ein Ausspannen tut die gut; überdies interessieren dich ja Sherlock Holmes' Fälle stets ganz besonders.« »Wie sollten sie auch nicht, da ich ja . . . weiter lesen