Die gestohlenen Zeichnungen

In der dritten Woche des November senkte sich ein dichter gelber Nebel auf London herunter. Vom Montag bis Donnerstag konnten wir nicht die Giebel der gegenüberliegenden Häuser in der Bakerstraße erkennen. Am ersten Tage verbrachte Holmes die Zeit mit Blättern in seinen verschiedenen Notizen. Den zweiten und dritten Tag widmete er seinem neuesten Steckenpferd, der Musik des frühen Mittelalters. Aber als wir dann zum viertenmal beim Frühstück jene schmierige gelbbraune Masse vor dem Fenster sahen, die ölige Tropfen am Fensterglas bildete, konnte die ungeduldige aktive Natur meines Freundes dieses graue Dasein nicht länger mehr ertragen. In einem Fieber unterdrückter Energie lief er in unserm Wohnzimmer hin und her, biß sich in die Fingerknöchel, . . . weiter lesen

Das Abenteuer mit dem Teufelsfuß

Wenn ich von Zeit zu Zeit einige der merkwürdigen Abenteuer und interessanten Begebnisse veröffentlicht habe, die mir aus der langen und engen Freundschaft mit Sherlock Holmes erwuchsen, so hatte ich ständig mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die aus seiner Abneigung gegen eine Veröffentlichung hervorgingen. Für seinen zynischen und mürrischen Geist war jede öffentliche Lobeserhebung stets etwas nahezu Verächtliches, und nichts war belustigender, als wenn er am Ende eines erfolgreichen Falles die Einzelheiten seiner Kombinationen und Nachforschungen den »orthodoxen« Polizeibeamten darlegte und diese in einem Chor von unerwünschten Beglückwünschungen ihn priesen, während er mit sarkastischem Lächeln abwehrte. In der . . . weiter lesen

Ein Fall geschickter Täuschung

»Lieber Freund«, sagte Sherlock Holmes, als wir behaglich beisammen an seinem Kamin in der Bakerstraße saßen, »das Leben selbst bringt weit Merkwürdigeres hervor, als alles, was der menschliche Geist zu erfinden vermag. Könnten wir jetzt Hand in Hand aus diesem Fenster fliegen und, über der Riesenstadt schwebend, die Dächer abheben, um zu beobachten, was sich in den Häusern zuträgt, wir würden staunen über all die Pläne, die seltsamen Vorfälle, die Verkettung von Umständen, die sich durch Generationen hinzieht und zu den wunderbarsten Ergebnissen führt. Jegliche Dichtung mit ihren althergebrachten Formen, ihrem leicht vorauszusehenden Ausgang müßte uns schal und wertlos erscheinen.« »Und . . . weiter lesen

Der Schieferdecker. Eine ganz wahre Geschichte

Ein Schieferdecker und sein Sohn bestiegen einen hohen, Kirchturm, um am Knopfe desselben eine Ausbesserung vorzunehmen. Der Vater, der schon seine fünfzig Jahre haben mochte, übrigens aber noch rüstig und gesund war, klimmte voran; der Sohn folgte. Die große Menge Volk, die von unten zusah, freute sich anfangs, denn das Klettern ging eine geraume Zeit hurtig und gut vonstatten. Aber desto gräßlicher war auch das Geschrei, das plötzlich entstand. Denn, sieh da! ganz nahe am Knopfe schon, glitt der jüngere Mann plötzlich aus und stürzte herab. Durch den Fall von dieser furchtbaren Höhe zerschmetterte er sich dergestalt die Hirnschale, daß, als man herbeisprang und ihn aufhob, schon nicht mehr die mindeste Spur vom Leben sich zeigte. . . . weiter lesen

Aktenfaszikel 113

Seit drei Tagen sprach ganz Paris von nichts anderem als von dem Diebstahle, der in dem Bankhause André Fauvel verübt worden war. Dem Täter, der ungemein gewandt und schlau zu Werke gegangen sein mußte und den die Polizei bis zur Stunde nicht zu entdecken vermochte, war es gelungen, aus der versperrten Kasse 350 000 Frank zu entwenden. Die Kasse selbst erwies sich als völlig unversehrt und es war unerklärlich, auf welche Weise das Geld dem einbruch- und feuerfesten Schranke entnommen worden. Der Kassenraum war Fremden überhaupt nicht zugänglich und es waren außerdem solche Sicherheitsmaßnahmen getroffen, daß nur ein Eingeweihter die Kasse öffnen konnte. Das durch einen vergitterten Schalter in zwei Hälften geteilte und mit dem Arbeitskabinett des Chefs durch eine geheime . . . weiter lesen

Das getupfte Band

Wenn ich meine Aufzeichnungen von den vielen absonderlichen Fällen überblicke, an denen ich während der letzten Jahre das Verfahren meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so finde ich darunter manche von tragischer, einige auch von komischer Art. Viele lassen sich einfach nur als merkwürdig bezeichnen, aber keiner als alltäglich. Denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf als von materiellem Gewinn bestimmen ließ, so lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen verschiedenartigen Fällen weiß ich mich jedoch keines zu entsinnen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hätte, wie der, welcher in der bekannten . . . weiter lesen

Im leeren Hause

Im Frühling des Jahres 1894 war ganz London in Aufregung. Besonders die vornehme Welt war durch die Ermordung des Herrn Ronald Adair tief erschüttert. Dieser junge Baron hatte unter höchst eigentümlichen Umständen und auf ganz unerklärliche Weise das Leben verloren. Das Publikum hat von diesem Verbrechen seinerzeit nur wenig Näheres erfahren, weil die polizeilichen Nachforschungen keinen Erfolg gehabt hatten, und überdies das meiste im Interesse der weiteren Verfolgung des an und für sich schon außerordentlich schwierigen Falles geheim gehalten werden mußte. Erst jetzt nach Verlauf von zehn Jahren bin ich in der Lage, die fehlenden Glieder der Kette sowie den Schluß der Untersuchung bekannt zu geben. Aber trotz dieser langen Zeit empfinde ich noch ein Schaudern, wenn ich an das . . . weiter lesen

Das Geheimnis von Marie Rogêts Tod

Als ich vor etwa Jahresfrist in meiner Erzählung: ›Der Doppelmord in der Rue Morgue‹, einige auffallende, merkwürdige Geisteszüge meines Freundes August Dupin zu schildern versuchte, hätte ich nicht gedacht, daß ich jemals wieder auf diesen Gegenstand zurückkommen würde. Ich wollte damals eine Charakterschilderung geben und erreichte meine Absicht vollkommen, da mir eine Reihe sehr seltsamer Begebenheiten Belege für Dupins Idiosynkrasie geliefert hatten. Ich hätte noch mehr Beispiele anführen und doch den Beweis nicht schlagender liefern können. Neuere Ereignisse haben mich aber durch ihre überraschende Entwicklung bestimmt, einige weitere Einzelheiten zu erwähnen, die vielleicht wie ein erzwungenes Geständnis aussehen . . . weiter lesen

Fünf Apfelsinenkerne

Überblicke ich meine Berichte und Notizen über die von Sherlock Holmes behandelten Fälle aus den Jahren 1882-90, so treten mir so viele absonderliche, interessante Züge entgegen, daß es mir schwer wird, die besten auszusuchen. Indessen sind einige bereits durch die Zeitungen bekannt geworden, während andere zur Entfaltung gerade derjenigen Eigenschaften, welche meinen Freund in so hohem Grade auszeichneten, keine rechte Gelegenheit darboten. In einigen Fällen scheiterte sogar seine Kunst, und die Erzählung derselben würde sich nicht lohnen, während andere nur teilweise aufgeklärt worden sind, so daß ihre Lösung mehr auf Vermutung und Wahrscheinlichkeit beruht als auf jenem absolut logischen Beweis, an dem Sherlock Holmes seine . . . weiter lesen

Der Krüppel

Einige Monate nach meiner Hochzeit saß ich an einem Sommerabend noch zu später Stunde auf, rauchte eine Pfeife und nickte gelegentlich über dem Roman ein, den ich lesen wollte; es lag ein sehr anstrengendes Tagewerk hinter mir. Meine Frau hatte sich schon zur Ruhe begeben, und auch die Dienstmädchen waren hinauf in ihre Kammer gegangen; ich hatte gehört, wie sie die Hausthür schlossen. Eben stand ich vom Lehnstuhl auf und begann die Asche aus meiner Pfeife zu klopfen, als plötzlich die Glocke ertönte. Ich sah nach der Uhr; es war dreiviertel auf zwölf. So spät konnte kein Besuch mehr kommen, also wollte man mich zu einem Kranken holen, und von Nachtruhe war keine Rede mehr. Mit verdrießlicher Miene stieg ich die Treppe hinunter und schloß auf. Zu meiner Verwunderung fand ich Sherlock . . . weiter lesen

Das Musgrave-Ritual

Unter den mancherlei Widersprüchen im Charakter meines Freundes Sherlock Holmes war mir einer immer besonders auffallend. Es gab wohl in geistiger Beziehung keinen methodischeren Menschen auf Erden als ihn, und auch was den Anzug betraf, trug er stets eine gewisse Genauigkeit und Pünktlichkeit zur Schau. Trotzdem war er aber im täglichen Leben so unordentlich, daß es seinen Stubengefährten zur Verzweiflung treiben konnte. Ich selbst hänge durchaus nicht zu sehr an Aeußerlichkeiten. Das rauhe, harte Leben in Afghanistan, vereint mit meinem natürlichen Hang zur Ungebundenheit, hat mich in manchen Dingen weit nachlässiger gemacht, als es sich eigentlich für einen Mediziner schickt. Aber immerhin beobachte ich gewisse Grenzen, und wenn ich mit jemand zusammenwohne, der seine Zigarren . . . weiter lesen

Der Doktor und sein Patient

Bei meiner Auswahl der Fälle, welche dazu dienen sollen, dem Leser ein Bild von den eigentümlichen Geistesgaben meines Freundes Holmes zu geben, bin ich auf mancherlei Schwierigkeiten gestoßen. Seine merkwürdigsten Schlußfolgerungen und scharfsinnigsten Untersuchungen bezogen sich meist auf Begebenheiten, die an sich so geringfügig und alltäglich waren, daß sie kein allgemeines Interesse beanspruchen konnten. Andererseits kam es auch wieder häufig vor, daß er bei hochwichtigen Angelegenheiten, die einen besonders dramatischen Verlauf nahmen, zu Rate gezogen wurde, ohne daß er doch an der Erforschung ihrer Ursachen einen so hervorragenden Anteil hatte, wie es mir als seinem Biographen wünschenswert erscheinen mußte. Auch bei der hier folgenden Geschichte hat er keine entscheidende . . . weiter lesen

Das letzte Problem

Mit schwerem Herzen greife ich zur Feder, um den hervorragenden Geistesgaben meines Freundes Holmes für alle Zeiten das letzte Denkmal zu setzen. Was meine frühere Darstellung der merkwürdigen Fälle betrifft, welche ich in Gemeinschaft mit ihm von Beginn unserer Bekanntschaft an bis in die neueste Zeit hinein erleben durfte, so bin ich mir lebhaft bewußt, wieviel dieselbe zu wünschen übrig läßt. Ich hatte mir deshalb vorgenommen, es dabei bewenden zu lassen und den Vorfall, der vor zwei Jahren eine Lücke in mein Leben gerissen hat, welche ich heute noch in fast ungeschwächtem Maße empfinde, nicht in den Kreis meiner Darstellung zu ziehen. Die jüngst erschienenen Briefe, worin Oberst James Mariarty das Andenken seines Bruders zu verteidigen sucht, haben mir jedoch die Feder in die . . . weiter lesen

Die Gutsherren von Reigate

Im Frühling 1887 hatte mein Freund Sherlock Holmes derartige Anstrengungen durchgemacht, daß es geraumer Zeit bedurfte, ehe er wieder zu Kräften kommen konnte. Es handelte sich damals um die Riesenpläne des Barons Maupertuis und die verwickelte Angelegenheit der Holland-Sumatra-Gesellschaft, bei der jedoch politische und finanzielle Rücksichten eine zu bedeutende Rolle spielten, als daß sie sich zur Aufnahme in diese Sammlung eignete. Die Umstände brachten es aber mit sich, daß Holmes infolgedessen mit einem eigentümlichen Problem in Berührung kam, das ihm Gelegenheit gab, im Kampf gegen das Verbrechen, den er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, eine ganz neue Waffe in Anwendung zu bringen. Es war, wie ich aus meinem Notizbuch weiß, am 14. April, als ich durch eine Depesche aus . . . weiter lesen

Der Baumeister von Norwood

»Vom Standpunkt des Kriminalisten,« sagte Sherlock Holmes eines Tages, »ist London seit dem Tode des Professors Mariarty seligen Angedenkens die uninteressanteste Stadt geworden.« »Ich kann mir kaum denken, daß viele ehrbare Bürger deine Ansicht teilen,« gab ich ihm zur Antwort. »Nun – ja, ich will nicht selbstsüchtig sein,« sagte er lächelnd und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, an dem wir eben gefrühstückt hatten. »Die Allgemeinheit, hat immerhin den Vorteil, nur der arme Fachmann ist zu bedauern, weil er Beschäftigung und Brot verliert. Dem Manne von Beruf brachte oft die Zeitung eines Morgens alle möglichen guten Aussichten. Oft war es nur eine ganz schwache Spur, Watson, eine ganz zarte Andeutung, und doch zeigte sie mir, daß etwas für den Detektiv im Anzug war, . . . weiter lesen

Der griechische Dolmetscher

Während meiner langen und innigen Bekanntschaft mit Sherlock Holmes hatte ich ihn höchst selten auf seine Verwandten Bezug nehmen hören und kaum jemals auf seine eigene Jugend. Dieser Mangel an Mitteilsamkeit hatte den über das allgemein Menschliche hinausgehenden Eindruck, den er auf mich machte, noch gesteigert, und er erschien mir manchmal als einsamer Fels im Meer, als Verstandsmensch ohne Herz, ebenso bar menschlicher Sympathie wie hervorragend durch seine Intelligenz. Seine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht und gegen die Anknüpfung neuer Freundschaftsbande war bezeichnend für seinen etwas ungemütlichen Charakter, nicht minder bezeichnend dafür war aber diese geflissentliche Unterlassung der Bezugnahme auf Verwandte. Da überraschte er mich eines Tages umsomehr, als er anfing, . . . weiter lesen

Der goldene Klemmer

Wenn ich die drei dicken Bände Manuskript vor mir sehe, welche die Aufzeichnungen über unsere Erlebnisse im Jahre 1894 enthalten, dann muß ich gestehen, daß es mir wirklich schwer fällt, aus dieser Fülle von Stoff gerade die Fälle herauszuziehen, die an sich am interessantesten sind, und bei denen zugleich diejenigen Fähigkeiten meines Freundes Sherlock Holmes am deutlichsten hervortreten, derentwegen er weithin bekannt ist. Beim Durchblättern sehe ich meine Notizen über die abstoßende Geschichte des roten Tierarztes und den schrecklichen Tod des Bankiers Crosby. Weiter finde ich einen Bericht über die Tragödie von Addleton; auch die berüchtigte Smith-Mortimersche Erbschaftsangelegenheit fällt in diese Periode, und ebenso die Aufspürung und Verhaftung des Straßenmörders Hurot . . . weiter lesen

Der Doppelmord in der Rue Morgue

Sie ist zwar etwas verblüffend, die Frage: welches Lied die Sirenen gesungen oder welchen Namen Achilles angenom­men, als er sich bei den Frauen verbarg, doch liegt ihre Beantwortung nicht außerhalb des Bereiches der Möglich­keit. (Sir Thomas Browne) Während meines Aufenthaltes in Paris im Frühling und Sommer des Jahres 18.. machte ich die Bekanntschaft eines Herrn August Dupin. Der junge Mann stammte aus einer guten, ja aristokratischen Familie, doch war er durch verschiedene widrige Ereignisse in solche Armut geraten, daß seine ganze Willenskraft in ihr unterging und er gar keine Anstrengungen mehr machte, sich wieder in glücklichere Verhältnisse heraufzuarbeiten. Seine Gläubiger ließen aus Anständigkeit einen kleinen Teil seines väterlichen Erbteils in seinen Händen, von . . . weiter lesen

Holmes’ erstes Abenteuer

»Hier, Watson, habe ich Papiere,« sagte mein Freund Sherlock Holmes, als wir uns an einem Winterabend vorm Kaminfeuer gegenübersaßen, »deren Durchsicht sich sicher für dich lohnen wird. Es sind Akten aus dem ungewöhnlichen Falle der ›Gloria Scott‹, und hier ist das Schriftstück, das dem Friedensrichter ein tödliches Entsetzen einjagte.« Damit zog er aus einer Schublade eine kleine vergilbte Rolle, machte die umgebundene Schnur auf und hielt mir ein halbes Blatt schiefergrauen Papiers hin, auf das ein paar Zeilen gekritzelt waren. »Die Zeit der Jagd auf Hasen geht bald los,« lauteten die Worte. »An Wechseln, Förster Hudson sagte mir's, hat gestern schon alles voll Wild gestanden. Er meinte, fort sei Reineke von Haus, und hier und da eile ein Iltis.« Als ich diese . . . weiter lesen

Der Daumen des Ingenieurs

Von all den schwierigen Kriminalfällen, die meinem Freunde Sherlock Holmes zur Lösung übertragen wurden, erhielt er nur zwei durch meine Vermittlung. Einer davon betraf Hatherleys Daumen. Wenn sich auch das großartige Kombinationstalent meines Freundes, dem er so wunderbare Erfolge zu verdanken hatte, hier weniger dabei entfalten konnte, so fing diese Aufgabe doch so toll an und verlief so dramatisch, daß sie mir wohl der Aufzeichnung wert erscheint. Jedenfalls hat sich der tiefe Eindruck, den ich damals erhielt, noch heute, nach zwei Jahren, kaum abgeschwächt. * Es war an einem Sommertag. Ein Bahnbeamter, den ich bei einem Unfall behandelt hatte, verkündete mein Lob in allen Tonarten und hätte mir am liebsten jeden Patienten geschickt, dessen er . . . weiter lesen