Autobiographische Skizze

An Pilarète Chasles

Soeben empfing ich das Schreiben, mit dem Sie mich beehrt haben, und ich beeile mich, die gewünschte Auskunft zu geben.

Ich bin geboren im Jahre 1800 zu Düsseldorf, einer Stadt am Rhein, die von 1806-1814 von den Franzosen okkupiert war, so daß ich schon in meiner Kindheit die Luft Frankreichs eingeatmet. Meine erste Ausbildung erhielt ich im Franziskanerkloster zu Düsseldorf. Späterhin besuchte ich das Gymnasium dieser Stadt, welches damals »Lyzeum« hieß. Ich machte dort alle die Klassen durch, wo Humaniora gelehrt wurden, und ich mich in der oberen Klasse ausgezeichnet, wo der Rektor Schallmeyer Philosophie, der Professor Brewer Mathematik, der Abbé Daulnoie die französische Rhetorik und Dichtkunst lehrte, und Professor Kramer die klassischen Dichter explizierte. Diese Männer leben noch jetzt, mit Ausnahme des ersteren, eines katholischen Priesters, der sich meiner ganz besonders annahm, wahrscheinlich des Bruders meiner Mutter, des Hofrats von Geldern wegen, der sein Universitätsfreund war, und auch, wie ich glaube, meines Großvaters wegen, des Doktors von Geldern, eines berühmten Arztes, der ihm das Leben gerettet.

Mein Vater war Kaufmann und ziemlich vermögend; er ist tot. Meine Mutter, eine treffliche Frau, lebt noch jetzt, zurückgezogen von der großen Welt. Ich habe eine Schwester, Frau Charlotte von Embden, und zwei Brüder, von welchen der eine, Gustav von Geldern (er hat den Namen der Mutter angenommen), Dragoneroffizier in Diensten Sr. Majestät des Kaisers von Östreich ist; der andere, Dr. Maximilian Heine, ist Arzt in der russischen Armee, mit welcher er den Übergang über den Balkan gemacht.

Meine, durch romantische Launen, durch Etablissementsversuche, durch Liebe und durch andre Krankheiten unterbrochenen Studien wurden seit dem Jahre 1819 zu Bonn, zu Göttingen und zu  Berlin fortgesetzt. Ich habe viertehalb Jahre in Berlin gelebt, wo ich mit den ausgezeichnetsten Gelehrten auf freundschaftlichem Fuße stand, und wo ich von Krankheiten aller Art, unter andern von einem Degenstich in die Lenden heimgesucht worden bin, den mir ein gewisser Scheller aus Danzig beigebracht, dessen Namen ich nie vergessen werde, weil er der einzige Mensch ist, der es verstanden hat, mich aufs empfindlichste zu verwunden.

Ich habe sieben Jahre lang auf den obengenannten Universitäten studiert, und zu Göttingen war es, wo ich, dorthin zurückgekehrt, den Grad als Doktor der Rechte nach einem Privatexamen und einer öffentlichen Disputation erhielt, bei welcher der berühmte Hugo, damals Dekan der juristischen Fakultät, mir auch nicht die kleinste, scholastische Formalität erließ. Obgleich dieser letztere Umstand Ihnen sehr geringfügig erscheinen mag, bitte ich Sie doch, davon Notiz zu nehmen, weil man in einem wider mich geschriebenen Buche die Behauptung aufgestellt hat, ich hätte mir mein akademisches Diplom nur erkauft. Unter all’ den Lügen, die man über mein Privatleben hat drucken lassen, ist dies die einzige, die ich niederschlagen möchte. Da sehen Sie den Gelehrtenstolz! Man sage von mir, ich sei ein Bastard, ein Henkerssohn, ein Straßenräuber, ein Atheist, ein schlechter Poet – ich lache darüber; aber es zerreißt mir das Herz, meine Doktorwürde bestritten zu sehen! (Unter uns gesagt, obgleich ich Doktor der Rechte bin, ist die Jurisprudenz grade die Wissenschaft, von welcher ich unter allen am wenigsten weiß.)

Von meinem sechzehnten Jahre an habe ich Verse gemacht. Meine ersten Poesien wurden im Jahre 1821 zu Berlin gedruckt. Zwei Jahre später gab ich neue Gedichte nebst zwei Tragödien heraus. Die eine der letzteren ward zu Braunschweig, der Hauptstadt des gleichnamigen Herzogtums, aufgeführt und ausgepfiffen. Im Jahre 1826 erschien der erste Band der »Reisebilder«; die drei andern Bände kamen einige Jahre später bei den Herren Hoffmann und Campe heraus, welche noch immer meine Verleger sind. Während der Jahre 1826 – 1831 habe ich abwechselnd zu Lüneburg, zu Hamburg und zu München gelebt, wo ich mit meinem Freunde Lindner die »Politischen Annalen« herausgab. Seit zwölf Jahren habe ich die Herbstmonate stets am Meeresufer zugebracht, gewöhnlich auf einer der kleinen Inseln der Nordsee. Ich liebe das Meer wie eine Geliebte, und ich habe seine Schönheit und seine Launen besungen. Diese Dichtungen befinden sich in der deutschen Ausgabe der »Reisebilder«; in der französischen Ausgabe habe ich sie weggelassen sowie auch den polemischen Teil, der sich auf den Geburtsadel, auf die Teutomanen und auf die katholische Propaganda bezieht.

Was den Adel betrifft, so habe ich diesen noch in der Vorrede zu den »Briefen von Kahldorf« besprochen, die nicht von mir verfaßt sind, wie das deutsche Publikum irrtümlich glaubt. Was die Teutomanen, diese deutschen alten Weiber (ces vieilles Allemagnes), betrifft, deren Patriotismus nur in einem blinden Hasse gegen Frankreich bestand, so habe ich sie in all’ meinen Schriften mit Erbitterung verfolgt. Es ist dies eine Animosität, die noch von der Burschenschaft her datiert, zu welcher ich gehörte. Ich habe zur selben Zeit die katholische Propaganda, die Jesuiten Deutschlands, bekämpft, sowohl um Verleumder zu züchtigen, die mich zuerst angegriffen, als um einem protestantischen Sinne zu genügen. Dieser mag mich freilich bisweilen zu weit fortgerissen haben, denn der Protestantismus war mir nicht bloß eine liberale Religion, sondern auch der Ausgangspunkt der deutschen Revolution, und ich gehörte der lutherischen Konfession nicht nur durch den Taufakt an, sondern auch durch eine Kampfeslust, die mich an den Schlachten dieser Ecclesia militans teilnehmen ließ. Aber während ich die sozialen Interessen des Protestantismus verteidigte, habe ich aus meinen pantheistischen Sympathien niemals ein Hehl gemacht. Deshalb bin ich des Atheismus beschuldigt worden. Schlecht unterrichtete oder böswillige Landsleute haben schon lange das Gerücht verbreitet, ich hätte den saintsimonistischen Rock angezogen; andere beehrten mich mit dem Judentum. Es tut mir leid, daß ich nicht immer in der Lage bin, dergleichen Liebesdienste zu vergelten.

Ich habe nie geraucht; ebensowenig bin ich ein Freund des Bieres, und erst in Frankreich habe ich zum erstenmal Sauerkraut gegessen. In der Literatur habe ich mich in allem versucht. Ich habe lyrische, epische und dramatische Gedicht verfaßt; ich habe über Kunst, über Philosophie, über Theologie, über Politik geschrieben … Gott verzeih’s! Seit zwölf Jahren bin ich in Deutschland besprochen worden; man lobt mich oder man tadelt mich, aber stets mit Leidenschaft und ohne Ende. Da haßt, da verabscheut, da vergöttert, da beleidigt man mich. Seit dem Monat Mai 1831 lebe ich in Frankreich. Seit fast vier Jahren habe ich keine deutsche Nachtigall gehört.

Aber genug! ich werde traurig. Wenn Sie noch andere Auskunft wünschen, will ich sie Ihnen mit Vergnügen erteilen. Ich sehe es immer gern, wenn Sie mich selbst darum angehen. Reden Sie gut von mir, reden Sie gut von Ihrem Nächsten, wie das Evangelium es gebeut, und genehmigen Sie die Versicherung der ausgezeichneten Hochachtung, mit welcher ich bin, etc.

Paris, den 11. Januar 1835.
Heinrich Heine.

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