Der Schieferdecker. Eine ganz wahre Geschichte

Ein Schieferdecker und sein Sohn bestiegen einen hohen, Kirchturm, um am Knopfe desselben eine Ausbesserung vorzunehmen. Der Vater, der schon seine fünfzig Jahre haben mochte, übrigens aber noch rüstig und gesund war, klimmte voran; der Sohn folgte. Die große Menge Volk, die von unten zusah, freute sich anfangs, denn das Klettern ging eine geraume Zeit hurtig und gut vonstatten. Aber desto gräßlicher war auch das Geschrei, das plötzlich entstand. Denn, sieh da! ganz nahe am Knopfe schon, glitt der jüngere Mann plötzlich aus und stürzte herab. Durch den Fall von dieser furchtbaren Höhe zerschmetterte er sich dergestalt die Hirnschale, daß, als man herbeisprang und ihn aufhob, schon nicht mehr die mindeste Spur vom Leben sich zeigte. Der Vater stieg indes unverdrossen weiter, vollbrachte seine Arbeit und kam nach ein paar Stunden wieder herunter, so ernst und gefaßt als nur möglich.

Von allen Seiten umringte ihn nun das Volk. Alle bedauerten, alle beklagten ihn. »Armer Mann! Armer Vater!« riefen wohl hundert auf einmal: »Wißt Ihr schon, wie es mit Euerm Sohn steht?«

»Daß er tot sein wird! Tot sein muß!« erwiderte er ziemlich gelassen. »Beim Sturz von einer solchen Höhe hinab bleibt man freilich nicht lebendig!«

»Aber um Himmels willen! Wie ward Euch denn, als Ihr seinen Fall merktet?«

»Wie’s einem Vater werden muß, wenn er seinen liebsten, seinen einzigen Sohn einbüßt! Ganz unerwartet kommt  uns zwar allerdings ein solcher Fall nie. Wir steigen immer mit der Besorgnis hinauf, nicht lebend wieder herabzukommen.«

»Und wann – wie – wo merktet Ihr sein Unglück zuerst?«

»O, zeitig genug! Noch zwei oder drei Sekunden eher, als er stürzte!«

»Wie – was sagt Ihr? Eher noch?«

»Nun ja doch, ja! Denn um euch aus dem Traume zu helfen, mein Sohn fiel nicht sowohl, – ich selbst warf ihn hinunter.«

Ein lauter Schrei des allgemeinen Entsetzens erscholl. »Gott, Gott!« rief alles, » wie war denn das möglich?«

»Das will ich euch wohl erklären: und zwar, wie ich hoffe, recht deutlich! Vielleicht wißt ihr es schon, vielleicht auch nicht – aber kurz, bei unserer Hantierung ist es Sitte und Regel: der Ältere, der Geübtere steigt voran; der Jüngere kommt hinten nach. So wie eine Leiter befestigt worden, wird die andere aufgesetzt und unten angebunden. Dies ist nicht schwer! Aber dann steigt der Vorderste auf dieser halbbefestigten Leiter höher und knüpft sie oben ebenfalls an; und dies ist die Hauptsache, wie ihr leicht begreifen werdet. Als ich heute nun eben im Begriff war, dieses auf einer der allerhöchsten Leitern zu tun, hörte ich plötzlich hinter mir den Ausruf meines Sohnes: ›Ach, Vater, Vater! Wie wird mir! Alles schwarz vor den Augen! Ich sehe nicht mehr, wo ich bin!‹ Sofort schlug ich hinten mit dem rechten Fuß auf gut Glück aus, traf ihn richtig gerade vorm Kopf, und er flog herab, ohne nur noch einen Laut von sich zu geben.«

»Entsetzlich! Entsetzlich! – Abscheulicher Bösewicht! Warum tatet Ihr das?«

»Nun! Nun! Nur gemach! So ganz abscheulich glaube ich  doch noch nicht gehandelt zu haben. Bei unserem Handwerk kommt alles darauf an, daß wir nicht schwindlig werden. Wer dieses Unglück hat, in einer gewissen Höhe hat, wo er sich nicht setzen, nicht anhalten, nicht eine geraume Zeit ausruhen kann, der ist verloren – verloren ohne Rettung. Dies war heute meines Sohnes Fall. Da, wo ihm schwarz vor den Augen ward, ließ sich an kein Wieder-Lichtwerden denken. Zwei oder drei Sekunden später stürzte er unausbleiblich hinab. Aber ehe er stürzte, griff er auch gewiß in letzter, bewußtloser Todesangst nach der unbefestigten Leiter, auf welcher ich stand, wollte sich anhalten an ihr; sie gab nach, und wir stürzten dann beide hinunter. Dies, dies alles sah ich in jenem Augenblick unbezweifelt voraus, dem wollte ich vorbeugen, und deshalb gab ich ihm rasch den Stoß, der ihn herabwarf und der mich gerettet hat, wie ihr seht.

Sagt mir ihr alle, die ihr vorhin auf mich als auf einen Bösewicht schmähet: hätte es seinem hilflosen Weibe, seinen unerzogenen Kindern – deren Versorgung mir nun obliegt! – ja hätte es ihm selbst etwas geholfen, wenn ich zugleich mit ihm umgekommen wäre? Mich zu opfern für ihn, das könnte Vaterpflicht gewesen sein, doch mich nutzlos zu opfern nebst ihm – das, dünkt mich, konnte niemand fordern! Und das bin ich auch erbötig, durch Geistliche und Gerichte entscheiden zu lassen.«

Wohl zwei Minuten durch war eine dumpfe Stille um ihn rund herum. Was ihm zu antworten sei, wußte niemand. Endlich erwachte doch der allgemeine Unwille wieder, und man begehrte seine Verhaftung. Sie geschah, doch auf eine leidliche, anständige Art. Beim ordentlichen Verhöre fuhr er fort einzugestehen, was sonst kein anderer ihm Schuld gegeben haben würde. Seine Tat ward höhern Orts einberichtet; und es ging seinen Richtern, wie es der  Volksmenge gegangen war. Sie schauderten anfangs zurück, überdachten sich seine Lage und die Gründe, nach welchen er gehandelt hatte, genauer, und mußten gestehen: er habe nach einer zwar gräßlichen, doch richtigen Logik geschlossen, habe eine grausame und doch bewundernswürdige Gegenwart des Geistes bewiesen, und ihr einstimmiges Urteil war, daß er aller Haft und Strafe zu entlassen sei.

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