Tavistock-Square*

Vor einer Woche habe ich meine Wohnung gewechselt. Ich konnt’ es nicht mehr aushalten in Burton-Street und in dem ganzen Stadtteil, den ich vollauf bezeichnet habe, wenn ich Dir sage, daß er Pimlico heißt. Klingt das nicht geziert und geckenhaft? Denkt man nicht an eine Mischung von Langeweile und Lächerlichkeit? Und so ist es auch.Ich wohne nun Tavistock-Square, mitten in London, nah an Oxford-Street und nicht weit vom Trafalgar-Platz. Daß ich Dir sagen könnte, wie reizend es hier ist und wie glücklich mich der Wechsel macht, zu dem ich mich, bei meiner unglücklichen Anhänglichkeit auch an die schlechtesten Wirtsleute, nur schwer entschlossen habe. Der Stadtteil, den ich jetzt bewohne, besteht überwiegend aus großen und kleinen Plätzen, so daß die Straßen, die sich vorfinden, weniger um ihrer selbst, als vielmehr um der Verbindung willen, die sie zwischen den zahllosen Squares unterhalten, da zu sein scheinen. Bedford- und Fitzroy-, Bloomsbury- und Torrington-Square halten gute Nachbarschaft mit uns, und Rüssel- und Euston-Square sind so nah, daß wir uns mit ihnen begrüßen können. Die ganze Gegend hat was Herrschaftliches; das macht, sie war das Westend Londons in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und dieselbe Aristokratie, die jetzt auf Belgrave- und Eaton-Square ihre town-residences hat und sich des Bekenntnisses schämen würde, östlich von Grosvenor-Place und Hyde-Park-Corner zu wohnen, lebte vor 80 Jahren, nicht minder selbstbewußt, hier auf Tavistock-Square und baute jene Fassaden-geschmückten Häuser und jene hohen Zimmer, die jetzt nicht mehr passen wollen zu der meist bürgerlichen Schlichtheit ihrer Bewohner. Ich sage »meist«, denn wir haben auch Notabilitäten in nächster Nähe, keine Lords und Viscounts, aber Ritter von Gottes, statt von Königs Gnaden, und Namen, die schwerer wiegen, als die Stammbäume von sechs irischen Lords. Sprich selbst, ob ich übertrieben habe, wenn ich Dir sage, daß Boz-Dickens mein nächster Nachbar ist und zehn Schritt von mir einen reizenden, gartenartigen Einbau bewohnt, der zwischen der Pancras-Kirche und unsrem Hause gelegen ist. Ich habe noch nicht den Mut gehabt, ihn aufzusuchen und werd’ es vermutlich auch in Zukunft nicht, um so weniger, als ich weiß, daß er von Deutschen überlaufen und mit den üblichen Bewundrungs-Phrasen gelangweilt wird. Nur den Park vor seinem Hause besuch’ ich öfters, und niemals ohne den frommen Wunsch zu hegen, daß die frische Luft, die da weht, mir von dem Geiste leihen möge, der eben an dieser Stätte heimisch und tätig ist.Die Villa meines Nachbars Dickens ist nun freilich reizender als das alte herrschaftliche Eckhaus, dessen oberste Spitze ich mit einem jungen Herrn aus Pembrokeshire gemeinschaftlich bewohne; nichtsdestoweniger aber schwör’ ich auf die Schönheit meiner Wohnung, und wenn ich Dich abends nach dem Diner mal in die drawing-rooms dieses Hauses führen und dann durch die geöffneten Fenstertüren mit Dir auf den Balkon hinaustreten könnte, so würdest Du mit mir fühlen, daß der Moment etwas Zauberhaftes hat. Ein Ahornbaum bildet mit seinen Zweigen ein Laubdach über uns, auf den Balkonen der Nachbarhäuser stehen die schlanken Ladies und schauen mit vorgehaltner Hand in die untergehende Sonne, auf dem Rasenplatz des Square spielen und lachen die Kinder, und fern, von der Nordgrenze Londons her, schauen dunkelblaue Hügel, wie Wolkenstreifen am Horizont, auf die Stadt und auch auf uns hernieder. Die ersten Gaslichter mischen ihr mattes Licht dem Halbdunkel, das über dem Platz liegt, der Lärm der weitab gelegenen großen Straßen schlägt wie ferne Brandung an unser Ohr und ein Gefühl süßer Befriedigung beschleicht uns und lullt auf Augenblicke die schlaflosen Wünsche ein.Doch ich wollte Dir vom Straßen-Gudin und nicht von der Schönheit meiner Wohnung erzählen. Beides gehört insofern zusammen, als ich die Bekanntschaft meines seltsamen Seemalers ohne meinen Wohnungswechsel vielleicht niemals gemacht hätte; denn wie ich vernehme, findet man ihn im St. Pancras-Kirchspiel häufiger als an andren Orten, vielleicht weil die stillen Squares dieses Stadtteils und die verhältnismäßig wenig benutzten Trottoirs ihm die beste Gelegenheit zu Ausübung seiner Kunst und zum Erwerbe bieten. Zuerst sah ich ihn an einer Ecke von Torrington-Square. Ich geriet in ein Staunen, das weit das übertraf, mit dem ich die genialsten Rubens und die fromm-innigsten Murillos irgendwelcher Galerie jemals betrachtet habe. Kniend auf dem Trottoir, neben sich ein Stück schmutziger Pappe, auf dem die Bröckel von Pastellstiften lagen, zeichnete ein blasser, zwanzigjähriger Mensch Seestücke auf den Sandstein, so rasch, so genial, so meisterhaft, daß mir’s gleich durch den Kopf schoß: ein Straßen- Gudin! Die englische Südküste schien er vorzugsweise bereist zu haben. Da war der Hafen von Lyme; der Hastingsfelsen mit seinem zerfallenen Kastell, und vor allem die Dover-Bucht bei Mondschein. Dunkelblau lag sie da, ein heller Lichtstreif lief drüber hin, von rechts und links aber sprangen die Schatten dunkler Klippen und diese selber dann weit ins Meer hinein. Ich war ganz Bewundrung, nur ein Gefühl rang mit meinem Staunen um den Vorrang – die Entrüstung. Als ich mich satt gesehn, steckt’ ich dem Maler und – Bettler zugleich eine halbe Krone in die Hand und ging schimpfend über England und die Herzlosigkeit seiner Pfeffersäcke in vollster Aufregung nach Haus.Diesmal hatt’ ich Unrecht gehabt. Andren Tags war ich bei P. in Brixton, deutsche Kaufleute waren geladen und nach dem Supper, als die Datteln und Malaga-Rosinen reihum gingen und jeder von uns, aus Brandy und siedendem Wasser, sich seinen Nachttrunk selber mischte, lieh ich wie öfters meinem Unmut über die shop-keeper laute Worte und mit einem »seht her!« erzählt’ ich meine Geschichte vom Straßen-Guddin. Allgemeine Heiterkeit war die Antwort; jeder kannte das junge Genie mit der schmutzigen Pappe und dem fadenscheinigen Rock, jeder hatte schon mal seine Bilder bewundert und war einverstanden mit mir, daß solches Talent der liebevollsten Pflege wert sei. »Aber« – so hieß es weiter – »diese Pflege ist ihm zehnfach angeboten worden, er hat sie verschmäht, denn er ist ein Spekulant. 50000 Fremde treten täglich das Londoner Pflaster, und, Ihre halbe Krone in Ehren, Sie sind nur einer der vielen, die, in Bewundrung und Entrüstung gleich Ihnen, auch ein Gleiches tun. Ihr Straßen-Gudin wird ein reicher Mann; ob er’s würde, wenn er Bilder auf die Ausstellung schickte, ist mindestens fraglich. Wir sind ein money-making people.«Das ist die Geschichte vom Straßen-Gudin. Ich frage Dich, ob deutsches Leben ein Seitenstück dazu liefert!

 

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