Noch ein Krieg

Zu Ostern 1870 verließ ich zu meiner weiteren Ausbildung Leipzig, doch war ich im Sommer auf einige Ferienwochen in der Heimat, als unerwartet der von Frankreich gewollte Krieg ausbrach. Unbeschreiblich war der Enthusiasmus, mit welchem die Kunde von der französischen Kriegserklärung, wie überall so auch in Leipzig, aufgenommen wurde. Noch kurz vorher hatte ich im Freundeskreise ein damals sehr beliebtes "geistreiches" Lied mitgesungen, dessen Text so kurz ist, daß ich ihn hierher setzen kann;

"Europa hat Ruhe,

und wenn Europa Ruhe hat,

so hat Europa Ruh",

welche Strophe bis zur Unendlichkeit wiederholt wurde. Diese Ruhe war jetzt mit einem Schlage weggefegt und statt des eben erwähnten Liedes hörte man jetzt aller Orten das rasch volkstümlich gewordene von Carl Wilhelm komponierte Lied: "Es braust ein Ruf wie Donnerhall." In den Straßen ging es sehr lebhaft zu, Trupps junger Leute durchzogen, eben dieses Lied, die Wacht am Rhein, singend, bis zum frühen Morgen die Stadt und die Soldaten, die ihnen begegneten, wurden umarmt und geküßt. Die Depeschen von der Kriegserklärung waren spät am Abend gekommen, wurden aber noch in den öffentlichen Lokalen bekannt. Im Schützenhaus fand an jenem Abend gerade ein großes, zahlreich besuchtes Konzert statt. Mitten in einem Stücke mußte der Kapellmeister abklopfen, um Ruhe für die Vorlesung der Depesche zu geben. Ein wahrer Freudentaumel ergriff danach die Anwesenden und die Kapelle mußte nun nur noch vaterländische Lieder spielen.

In den folgenden Tagen wurden die Restaurants fast zu keiner Stunde leer. Jedermann trieb es hinaus aus seiner engen Stube, um das übervolle Herz durch Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten zu erleichtern und um Neuigkeiten zu erfahren. Als "Hauptquartier" galt hierbei die "Gute Quelle", wo die neuesten Depeschen angeschlagen wurden. Hier gingen die Wogen der Begeisterung ganz besonders hoch und die ausgelegte Liste, in die sich diejenigen eintragen sollten, die als Kriegsfreiwillige in die Armee eintreten wollten, bedeckte sich rasch mit Unterschriften. Daß das deutsche Heer den Sieg erringen werde, war für uns über allen Zweifel erhaben. Mißmutig wurde daher am Tage nach der Kriegserklärung die Nachricht aufgenommen, daß Rußland an Frankreich den Krieg erklärt habe. Was brauchten wir fremde Hilfe? Die Deutschen würden mit den Rothosen schon allein fertig werden! Glücklicherweise wurde die Nachricht bald widerrufen.

Gegen das Französische, das sich im deutschen Volke eingebürgert hatte, wurde ein unerbitterlicher Kampf eröffnet. Französische Warenbezeichnungen wurden ebenso verbannt wie französische Worte, die durch deutsche ersetzt wurden und vor allem wurde den Chignons, die die Damen seit einigen Jahren trugen, als einer von Frankreich herübergekommenen Mode energisch der Krieg erklärt. Die Chignons verschwanden denn auch ebenso rasch wieder wie sie seinerzeit aufgekommen waren.

Am Tage der Abfahrt des in Leipzig garnisonierenden Infanterie-Regiments Nr. 107 nach dem Kriegsschauplatze stellte dasselbe auf der Promenade vor der Halleschen Straße. Es war da den Angehörigen und Freunden der ausrückenden Soldaten Gelegenheit zum letzten Abschiednehmen gegeben und so sah man manche schmerzlich bewegte Szene. Doch bot das Ganze ein erhebendes Schauspiel und als sich dann das Regiment nach dem Thüringer Bahnhof zu in Bewegung setzte, um dort verladen zu werden und wohin die Volksmenge nicht folgen durfte, begleiteten es nicht endenwollende Hochs. Mit bebendem Herzen sah ich dem Regiment nach, mit dem so viele meiner Freunde mit hinaus in den Krieg zogen. Wie unendlich gern hätte auch ich mich in die Armee einreihen lassen, aber unser Hausarzt hatte dagegen sein Veto eingelegt; ich sei noch zu jung, meine Körperkonstitution noch "zu sehr Kalbfleisch", wie er sich ausdrückte. Mein Vater aber tröstete mich; wenn Not an Mann sei, dann möge ich michtrotz des ärztlichen Widerspruchs alsogleich melden.

Als in den ersten Augusttagen die ersten Siegesnachrichten eintrafen, so vor allem die von der Schlacht bei Weißenburg und zwei Tage später die von den Schlachten bei Wörth und bei Spichern mit der Schlußmeldung; "Die Franzosen befinden sich auf der ganzen Linie auf dem Rückzuge ins Innere", kannte die Freude und die Begeisterung keine Grenzen mehr. Die Depeschen wurden in den Straßen laut vorgelesen, worauf unzählige Hochs folgten. Man umarmte und küßte sich, gleichviel ob man miteinander bekannt war oder nicht, und zog dann, die "Wacht am Rhein" singend durch die Straßen bis zum letzten Ende der Stadt, allüberall die frohe Kunde verbreitend.

 

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